Donnerstag, 1. Juli 2010

Nomoi

Gesetze



ERSTES BUCH



DER ATHENER: Gilt ein Gott oder der Sterblichen Einer bei euch, ihr Gastfreunde, für den Urheber eurer Gesetzgebung?

KLEINIAS: Ein Gott, Freund, ein Gott, das darf man mit vollem Rechte sagen, nämlich bei uns Zeus, bei den Lakedämoniern aber, bei denen dieser hier zu Hause ist, heißt es, glaub' ich, Apollon.

MEGILLOS: Ja wohl.

DER ATHENER: Du meinst also wohl damit, dem Homer entsprechend, daß Minos alle neun Jahre einmal seinen Vater besuche, um mit ihm eine Zusammenkunft zu halten, und so nach dessen Eingebungen euren Staaten ihre Gesetze erteilt habe?

KLEINIAS: Ja, so heißt es bei uns, und eben so auch daß sein Bruder Rhadamanthys, ihr kennt seinen Namen, der gerechteste Mann gewesen sei, [625 St.] und wir Kreter wenigstens möchten behaupten, er habe sich dieses Lob durch die Trefflichkeit erworben mit welcher er in damaliger Zeit Recht erteilte.

DER ATHENER: Und wahrlich ein schöner Nachruhm ist das und ein solcher der ganz eines Sohnes des Zeus würdig ist! Da ihr nun aber in solcherlei Gesetzesbräuchen auferzogen seid, du sowohl als dieser hier, so vermute ich, es wird euch nicht unangenehm sein wenn wir jetzt eine wechselseitige Unterhaltung über Staatsverfassung und Gesetze mit unserer Wanderung verbinden. Ist doch überdies der Weg von Knossos nach der Grotte und dem Heiligtume des Zeus, wie ich höre, weit genug, und unterwegs gibt es vermutlich unter den hohen Bäumen schattige Ruheplätze zum Schutz vor der gegenwärtigen drückenden Hitze, und da dürfte es sich für Leute von unserem Alter wohl schicken öfter auf ihnen gehörig auszuruhen und so unter gegenseitig anregenden Gesprächen den ganzen Weg mit Gemächlichkeit zurückzulegen.

KLEINIAS: Allerdings findet dort der Wanderer Zypressen in den Hainen von wunderbarer Höhe und Schönheit, und auch Rasenplätze, auf denen wir Rast machen und uns verweilen können.

DER ATHENER: Das läßt sich hören.

KLEINIAS: Gewiß; aber noch mehr werden wir das sagen wenn wir sie erst gesehen haben. Und so laß uns denn in Gottes Namen gehen.

DER ATHENER: Das soll geschehen. Und nun sage mir: zu welchem Zweck hat das Gesetz bei euch die gemeinsamen Mahlzeiten und die öffentlichen Leibesübungen und die Art der Bewaffnung angeordnet?

KLEINIAS: Ich dächte, Freund, daß es für Jedermann leicht wäre den Grund unserer Anordnungen zu erraten. Ihr seht nämlich daß der Boden von ganz Kreta seiner natürlichen Beschaffenheit nach nicht, wie der des Thessalerlandes, eine Ebene ist, weshalb denn auch die Thessaler sich mehr der Pferde bedienen, wir dagegen uns im Laufen üben, weil unser Land vielmehr ungleichmäßig und daher besser für die Anwendung des Laufens geeignet ist, und unter solchen Umständen ist es denn notwendig leichte Waffen zu führen, um unbeschwert laufen zu können, und so erscheint denn die Leichtigkeit unserer Bogen und Pfeile zweckmäßig. Alles dies ist also in Rücksicht auf den Krieg bei uns eingerichtet, und überhaupt hat der Gesetzgeber, wie es mir wenigstens scheint, Alles im Hinblick hierauf angeordnet; denn auch die gemeinschaftlichen Mahlzeiten scheint er eingeführt zu haben, weil er sah daß Alle, so bald sie im Felde liegen, sodann durch die Sache selber gezwungen werden, ihrer eigenen Sicherheit halber, während dieser Zeit gemeinschaftlich zu speisen. Und damit scheint er mir denn über die große Mehrzahl der Menschen das Verdammungsurteil als über Toren ausgesprochen zu haben, indem sie nicht wußten daß in der Welt immerfort ein unaufhörlicher Krieg aller Staaten gegen alle sei, und wenn man daher während des Krieges zur allgemeiner Sicherheit gemeinschaftlich seine Mahlzeiten halten und [626 St.] einen Teil der Befehlshaber und Untergebenen als seine Wachen ausstellen müsse, so sei dies auch im Frieden zu tun. Denn was die meisten Menschen Frieden nennen, das sei nur ein leerer Name, in der Tat aber lebten alle Staaten gegen alle von Natur ohne Kriegserklärung beständig in Fehde. Und wenn du es so betrachtest, wirst du so ziemlich finden daß der Gesetzgeber der Kreter mit Rücksicht auf den Krieg alle gesetzlichen Einrichtungen des öffentlichen und Privatlebens für uns getroffen und uns deswegen seine Gesetze so zu bewahren aufgetragen habe, weil nichts Anderes, weder Besitztümer noch Einrichtungen, irgend einen Nutzen gewähren, wenn man nicht im Kriege den Sieg davon trage, wogegen alle Güter der Besiegten das Eigentum der Sieger würden.

DER ATHENER: Gar trefflich, Freund, scheinst du mir darauf geübt zu sein das Wesen von den gesetzlichen Einrichtungen der Kreter zu durchdringen. Nur dies erkläre mir noch deutlicher; nach der Bestimmung eines wohl verwalteten Staates welche du gabst, scheinst Du mir der Ansicht zu sein, man müsse ihn so einrichten und verwalten daß er im Kriege die andern Staaten zu besiegen vermöge, nicht wahr?

KLEINIAS: Freilich, und ich glaube, es wird auch unserm Megillos hier eben so scheinen.

MEGILLOS: Wie könnte wohl, Bester, hierüber irgend ein Lakedämonier anders sich äußern!

DER ATHENER: Ist nun dies bei Staaten und Städten gegen Staaten und Städte richtig, bei Dörfern gegen Dörfer aber anders?

KLEINIAS: Keineswegs.

DER ATHENER: Sondern eben so?

KLEINIAS: Ja.

DER ATHENER: Wie ferner? Gilt dasselbe auch noch für ein Haus innerhalb des Dorfes gegen ein anderes und für einen Einzelnen gegen einen Andern?

KLEINIAS: Allerdings.

DER ATHENER: Er selbst aber, soll er auch gegen sich selbst wie als Feind gegen einen Feind gesinnt sein? Oder gilt hievon nicht mehr diese Bestimmung?

KLEINIAS: O athenischer Gastfreund, denn nicht möchte ich dich einen Attiker nennen, vielmehr scheinst du mir dessen würdig zu sein mit dem von der Göttin hergenommenen Namen benannt zu werden, denn du hast unsern Satz durch die richtige Zurückführung desselben auf sein letztes Prinzip in ein deutlicheres Licht gestellt, so daß du leichter finden wirst, wie richtig so eben von uns behauptet wurde, daß Alle Allen Feind seien, nicht bloß im öffentlichen Leben, sondern auch im Privatleben und sogar jeder Einzelne sich selber.

DER ATHENER: Wie sagtest du, wunderlicher Mann?

KLEINIAS: Ist ja doch auch bei diesem letzteren, lieber Freund, der Sieg über sich selbst der erste und herrlichste von allen Siegen und das Sichselbstunterliegen unter Allem das Schimpflichste und Schlimmste zugleich, und dies deutet doch darauf hin daß Krieg in einem jeden von uns gegen sich selber sei.

DER ATHENER: Wir wollen also die Sache in umgekehrter Folge behandeln. Wenn es mit einem Jeden von uns sich so verhält daß der Eine sich selbst überwindet und der Andere sich selbst unterliegt, [627 St.] sollen wir da sagen daß auch ein Haus, ein Dorf und eine Stadt eben dies an sich trage, oder sollen wir es leugnen?

KLEINIAS: Du meinst daß irgend Eines von ihnen sich selbst besiege, ein Anderes aber sich selber erliege?

DER ATHENER: Ja.

KLEINIAS: Auch dies fragtest du mit Recht. Denn es muß durchaus und in hohem Grade, und zwar ganz besonders in den Staaten und Städten, eben so Etwas Statt finden. Denn überall wo in einem Staate die besseren Bürger über den Pöbel und die Schlechteren die Oberhand erhalten, dürfte derselbe gebührendermaßen als Sieger über sich selbst bezeichnet und mit vollem Rechte um eines solchen Sieges willen gepriesen werden, und wo das Gegenteil eintritt, da würden wir auch das entgegengesetzte Urteil fällen.

DER ATHENER: Nun, ob es überhaupt möglich ist daß das Schlechtere sich irgend einmal stärker und mithin auch tüchtiger und besser beweise als das Bessere, wollen wir dahin gestellt lassen, denn das würde uns hier zu weit führen; das von dir Gemeinte aber verstehe ich so, daß wohl einmal Bürger gleichen Namens und derselben Stadt angehörig wider alles Recht und in großer Zahl sich zusammenrotten und die in der Minderzahl befindlichen Rechtschaffenen mit Gewalt unterjochen können, und daß, wenn sie so die Oberhand gewonnen haben, von ihrem Staate mit Recht gesagt werden kann er habe eine Niederlage durch sich selber erlitten und sei ein schlechter Staat, und dagegen da wo sie unterliegen, derselbe habe den Sieg davongetragen und sei ein guter Staat.

KLEINIAS: Sehr seltsam, Freund, klingt freilich dieser Satz, und doch muß man schlechterdings zugeben, dem sei so.

DER ATHENER: Gut denn, so wollen wir auch noch dies in Betracht ziehen. Es können doch viele Brüder als Söhne eines Vaters und einer Mutter ins Leben treten, und dabei ist es doch auch nichts Erstaunliches, wenn die Mehrzahl von ihnen ungerecht und nur die Minderzahl gerecht und rechtschaffen wird.

KLEINIAS: Freilich nicht.

DER ATHENER: Und es dürfte doch weder mir noch euch geziemen darauf Jagd zu machen, ob man wohl auch sagen könne, wenn die schlechten die Oberhand gewinnen, dieses Haus und diese ganze Verwandtschaft sei sich selber unterlegen, und es habe sich selber überwunden, wenn jene vielmehr den Kürzeren ziehen. Denn nicht die Angemessenheit oder Unangemessenheit der Ausdrücke nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauche hat unsere gegenwärtige Untersuchung zum Ziel, sondern die Richtigkeit oder Fehlerhaftigkeit der Gesetze, nämlich worin dieselbe ihrer Natur nach bestehe.

KLEINIAS: Du hast vollkommen Recht, lieber Freund.

MEGILLOS: Durchaus; auch ich bin bis dahin für jetzt damit einverstanden.

DER ATHENER: Wir wollen also auch das noch betrachten: die eben besprochenen Brüder könnten doch wohl auch einen Richter erhalten?

KLEINIAS: Ja wohl.

DER ATHENER: Welcher von beiden wäre nun der bessere Richter? Der welcher die schlechten von ihnen insgesamt hinrichten ließe, den besseren aber geböte sich selbst zu beherrschen, oder der welcher den guten die Herrschaft übertrüge, aber so daß er dabei den schlechten das Leben schenkte, indem er sie zu bewegen wüßte sich freiwillig von jenen beherrschen zu lassen? Doch setzen wir mir Rücksicht auf die Trefflichkeit der Entscheidung noch einen dritten Richter, wofern es nämlich einen solchen geben sollte der, wenn er die im Zwiste begriffenen Genossen einer Familie zu richten empfinge, [628 St.] nicht nur keinen einzigen hinrichten ließe, sondern sie vielmehr mit einander aussöhnte und sodann für alle Folgezeit durch ihnen erteilte Vorschriften dafür zu sorgen vermöchte daß sie Freunde bleiben.

KLEINIAS: Dieser Richter und Gesetzgeber würde bei Weitem besser als jene beiden anderen sein.

DER ATHENER: Und doch würde er gerade das Gegenteil vom Kriege im Auge haben, indem er ihnen seine Gesetze vorschriebe.

KLEINIAS: Das ist wahr.

DER ATHENER: Und Einer der einen Staat in Ordnung bringen soll? Würde er mehr mit Rücksicht auf auswärtigen Krieg das Leben desselben regeln oder aber auf den gerade im Innern desselben ausbrechenden, welcher bekanntlich Aufruhr heißt und von dem vor Allem Jedermann wünschen dürfte daß er in seinem Staate überhaupt niemals hervorbrechen möge und, wenn dies ja geschehen ist, daß er dann so schnell als möglich wieder beseitigt werde?

KLEINIAS: Offenbar auf den letzteren.

DER ATHENER: Wird nun aber Einer lieber wollen daß Frieden und Beseitigung des Aufruhrs eintrete durch den Sieg der einen von beiden Parteien bei vollständiger Vernichtung der anderen, oder daß Freundschaft und Frieden durch Versöhnung herbeigeführt werde und so in der Folge der Sinn notwendigerweise sich gegen die auswärtigen Feinde richte?

KLEINIAS: Es würde wohl ein Jeder eher wollen daß auf die letztere als auf die erstere Weise die Ruhe in seinem Staate hergestellt werde.

DER ATHENER: Also doch wohl gleichermaßen auch der Gesetzgeber?

KLEINIAS: Wie anders?

DER ATHENER: Würde nun aber nicht um des Besten willen ein jeder alle gesetzlichen Einrichtungen treffen?

KLEINIAS: Wie sollte er nicht?

DER ATHENER: Das Beste ist aber doch weder der Krieg noch der Aufruhr, vielmehr muß man beten daß man davor bewahrt bleiben möge derselben zu bedürfen, sondern gegenseitige Befriedung und zugleich befreundete Gesinnung, und so war denn auch, wie es scheint, der Sieg den ein Staat über sich selbst erkämpft nicht, wie zuvor von uns geschah, für das Beste desselben anzusehen, sondern nur unter die notwendigen Übel zu rechnen. Denn das Erstere wäre gerade so als wenn Jemand glaubte, der Leib befinde sich dann am Besten wenn er nur im kranken Zustande der Reinigung durch ärztliche Mittel teilhaftig wird, und dagegen auf den Zustand in welchem er derselben überall nicht bedarf gar nicht einmal Rücksicht nähme, und ebenso dürfte denn auch Keiner welcher in der Weise sich die Wohlfahrt eines Staates oder auch eines Einzelnen angelegen sein ließe, so daß er dabei auf die auswärtigen Kriege sein erstes und einziges Augenmerk richtete, jemals ein tüchtiger Staatsmann oder ein sorgfältiger Gesetzgeber werden, indem ein solcher im Gegenteil die auf den Krieg bezüglichen Anordnungen vielmehr um des Friedens als die auf den Frieden bezüglichen um des Krieges willen treffen muß.

KLEINIAS: Freilich scheint es mit dieser Behauptung, lieber Freund, so ziemlich seine Richtigkeit zu haben, trotzdem aber sollte es mich wundern, wenn nicht unsere gesetzlichen Einrichtungen und auch die in Lakedämon ihr ganzes Absehen auf den Krieg gerichtet hätten.

[629 St.] DER ATHENER: Das mag wohl sein, und wir brauchen uns darüber für jetzt auch durchaus nicht in einen heftigen Streit mit ihnen einzulassen, sondern wollen ruhig weiter forschen als ob wir ganz auf dasselbe wie sie unser Absehen richteten. Möget ihr nur mich in dieser Forschung begleiten. Wir wollen nämlich den Tyrtäos auftreten lassen, der zwar von Geburt ein Athener war, aber ein Mitbürger von den Landsleuten unseres Megillos hier wurde, und der wahrlich vor allen Menschen auf kriegerische Tugenden Wert legte, wie aus seinen eigenen Worten hervorgeht:

„Nimmer gedächt' ich im Lied, nie achtet' ich irgend

den Mann auch”,

möchte er auch der reichste von allen Menschen sein oder viele gute Eigenschaften, und dabei zählt er fast alle auf, besitzen, welcher nicht im Kriege sich stets als der Tüchtigste zeigte. Denn diese Verse hast auch du, Kleinias, wohl schon gehört, dem Megillos hier aber, glaube ich, sind die Ohren ganz voll davon.

MEGILLOS: Freilich.

KLEINIAS: Sind sie doch in der Tat auch zu uns von Lakedämon herübergekommen.

DER ATHENER: Wohlan denn, so wollen wir jetzt gemeinschaftlich den Dichter etwa folgendermaßen befragen: Tyrtäos, du göttlichster der Dichter, wohl scheinst du uns weise und wacker zu sein, da du die welche sich im Kriege hervortun auf eine ausgezeichnete Weise verherrlicht hast, und darum glauben denn auch, ich und Megillos da und hier Kleinias, der Knosier, gar sehr hierin mit dir übereinzustimmen, allein ob wir dabei auch dieselben Leute meinen, oder nicht, das möchten wir genau erfahren. Sage uns also, ob auch du, gleichwie wir, zwei Arten des Krieges bestimmt unterscheidest oder wie? Darauf, denke ich, würde uns dann auch ein viel schlechterer Mann als Tyrtäos die richtige Antwort erteilen, daß wirklich deren zwei sind, die eine, welche wir Alle Aufruhr nennen, von allen Kriegen gerade der grimmigste, wie wir dies jetzt eben bemerkt haben, und als die andere Art des Krieges werden wir Alle, denke ich, denjenigen hinstellen welchen wir bei eingetretener Zwistigkeit gegen auswärtige Feinde und fremde Völker führen und der um Vieles milder als der erstere ist.

KLEINIAS: Unzweifelhaft.

DER ATHENER: Wohlan denn, Tyrtäos, welcherlei Männer meintest du denn bei deinem Lobe und in welchem von beiderlei Kriegen sollen sie sich auszeichnen die du so gewaltig verherrlicht und dagegen alle andern getadelt hast? Allem Anschein nach in dem gegen äußere Feinde. Wenigstens hast du in deinen Gedichten gesagt, du könntest Denjenigen nicht leiden welcher nicht den Mut hat

„blutträufenden Mord zu erblicken

Und faßt nahe zum Wurf zielend ins Auge den Feind.”

Demnach dürfen wir also wohl sagen: Du deinerseits, Tyrtäos, lobst vor Allem Diejenigen welche sich in einem fremden und auswärtigen Kriege hervortun. Nicht wahr, er würde dies bejahen und zugestehen?

KLEINIAS: Wie anders?

DER ATHENER: Wir aber behaupten daß, wenn dies auch treffliche Männer sind, [630 St.] doch diejenigen noch trefflicher, und zwar um Vieles, seien welche in dem größten aller Kriege sich als die Tüchtigsten kund getan haben, und auch wir haben einen Dichter zum Zeugen, den Theognis, einen Bürger von Megara auf Sikelien, welcher singt:

„Wert ist daß Gold und Silber ihn aufwägt wer da

in Zeiten Schwerer Entzweiungen dir, Kyrnos, die Treue bewahrt.”

Von einem Solchen nun behaupten wir daß er sich in einem schwierigeren Kriege um gar Vieles trefflicher zeigt als der treffliche Mann des Tyrtäos, und zwar ungefähr um so viel als Tapferkeit, wenn sich Gerechtigkeit, Besonnenheit und Weisheit mit ihr vereinigen, von höherem Werte ist als die bloße Tapferkeit. Denn treu und rein in Zeiten des Aufruhrs wird er niemals dastehen können, ohne den Besitz der gesamten Tugend, aber „wohl ausschreitend” Stand zu halten und dem Tode im Kampfe zu trotzen, das wissen in dem Kriege von welchem Tyrtäos spricht auch von den Söldnern gar viele, die doch meistenteils, und mit Ausnahme von sehr wenigen, verwegen, ungerecht, übermütig und so ziemlich die unverständigsten von allen Kriegern sind. Und worauf läuft nun diese unsere gegenwärtige Erörterung für uns hinaus und was will sie uns dadurch klar machen daß sie diesen Gegenstand zur Sprache bringt? Offenbar dies daß auch euer von Zeus unterrichteter Gesetzgeber und er vor allen, aber auch jeder andere der nur irgend etwas taugt, sein Hauptaugenmerk auf nichts Anderes als auf die Erzeugung der größten unter den Tugenden bei seiner jedesmaligen Gesetzgebung gerichtet hat und richten wird. Diese aber ist, wie Theognis sagt, Treue und Zuverlässigkeit in Gefahren, die man auch vollkommene Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit nennen mag. Die Tugend aber welche Tyrtäos am Meisten gepriesen hat ist zwar schön und lobenswert und ist vom Dichter den Zeitverhältnissen gemäß verherrlicht worden, dennoch aber gebührt ihr in der Zahl der Tugenden nach dem Range ihres Wertes erst die vierte Stelle.

KLEINIAS: Aber, Freund, unsern Gesetzgeber sollen wir zu den letzten Gesetzgebern heruntersetzen?

DER ATHENER: Nicht ihn, mein Bester, sondern uns selbst, wenn wir glauben wollten daß Lykurgos und Minos die hier so wie in Lakedämon bestehenden gesetzlichen Einrichtungen vorzugsweise mit Rücksicht auf den Krieg getroffen hätten.

KLEINIAS: Aber wie hätten wir denn sagen sollen?

DER ATHENER: So wie es nach meiner Ansicht das Wahre und Gerechte ist zu sprechen für Diejenigen welche über eine von einer Gottheit eingegebene Staatsverfassung eine Unterredung führen, nämlich nicht daß er bei seiner Gesetzgebung einen Teil der Tugend, und zwar den geringsten, sondern daß er die ganze Tugend bei ihr im Auge hatte, indem man dabei die Satzungen solcher Gesetzgeber nach Gattungen geordnet in Betracht zieht, und zwar nicht nach den Gattungen welche die Leute heutigen Tages bei ihren Gesetzesvorschlägen aufzusuchen pflegen. Denn heutzutage setzt sich ein Jeder das was er gerade braucht dabei zum Ziele, der Eine die Gesetze über Erbschaften und Erbtöchter, der andere die über Injurien, noch Andere tausenderlei Anderes von der Art. [631 St.] Wir aber behaupten daß eine Untersuchung über Gesetze nur so richtig angestellt werden könne wie wir sie jetzt eben begonnen haben. Und ich freue mich gar sehr über den von dir genommenen Ausgangspunkt deiner Auseinandersetzung über diesen Gegenstand, denn es ist ganz recht daß man von der Tugend beginnt und sie als den Zweck der Gesetzgebung hinstellt, daß du aber von eurem Gesetzgeber behauptetest er habe bei der seinen Alles nur auf einen Teil der Tugend und noch dazu auf den geringsten, bezogen, darin schienst du mir Unrecht zu haben, und ich fand mich dadurch zu meiner ganzen so eben vorgebrachten Einwendung veranlaßt. Willst du nun daß ich dir mitteile wie ich dich deine Bestimmungen gewünscht hätte treffen zu hören?

KLEINIAS: Gewiß.

DER ATHENER: Freund, du hättest sagen sollen: die Gesetze der Kreter stehen nicht umsonst unter allen Hellenen vorzüglich in Ansehen. Denn sie haben die rechte Beschaffenheit, um die welche sie befolgen glücklich zu machen. Sie verschaffen ihnen nämlich alle Güter. Es gibt aber Güter von zwiefacher Art, menschliche und göttliche, und zwar hängen von den göttlichen die menschlichen ab, und wenn Jemandem die größeren zu Teil geworden sind, so besitzt er eben damit auch die kleineren, wo aber nicht, so entbehrt er beider. Folgendes aber sind die kleineren: obenan steht die Gesundheit, den zweiten Rang nimmt die Schönheit, den dritten die Stärke zum Laufen und zu allen anderen körperlichen Bewegungen, den vierten endlich der Reichtum, und zwar nicht der blinde, sondern der Scharfsehende ein, nämlich der welcher sich der Leitung der Weisheit überläßt. Eben diese letztere nun steht wiederum unter den göttlichen Gütern an erster Stelle, das Zweite aber nach der Vernunft ist eine besonnene und maßhaltige Beschaffenheit der Seele, aus beiden im Verein mit der Tapferkeit dürfte sodann als Drittes die Gerechtigkeit hervorgehen, und das Vierte ist die Tapferkeit. Alle diese letztern Güter sind nun von Natur jenen ersteren vorangestellt, und daher muß ihnen auch der Gesetzgeber die gleiche Stellung einräumen.

Hierauf aber muß er die Bürger belehren daß alle anderen ihnen vorgeschriebenen Anordnungen die Erwerbung von beiderlei Gütern zum Zwecke haben, daß aber unter diesen selbst die menschlichen auf die göttlichen, und diese letztern insgesamt auf ihre Führerin, die vernünftige Erkenntnis, hinzielen. Er muß hinsichtlich der gegenseitigen Eheverbindungen und der Erzeugung und Erziehung der Kinder, der männlichen sowohl als der weiblichen auf eine richtige Verteilung von Ehre und Unehre Bedacht nehmen, und zwar dergestalt daß sich die Erziehung nicht bloß auf das Jugendalter, sondern auch über die welche bereits in den Jahren vorschreiten, bis ins Greisenalter hinein erstreckt, muß in allen ihren Verhältnissen, mit steter Beobachtung und Überwachung ihrer Leiden und Freuden und der Richtung ihrer gesamten Begierden und Neigungen, [632 St.] Lob und Tadel durch die Gesetze selbst nach Gebühr verteilen. Desgleichen in Hinsicht auf Zorn und Furcht und alle durch Unglück hervorgerufenen Erschütterungen der Seele und die Beschwichtigung derselben durch Glücksereignisse, so wie über alle Gemütszustände, welche beim Menschen in Krankheiten, Kriegsnöten, Armut oder auch den entgegengesetzten Verhältnissen hervorgerufen werden, über dies Alles muß er lehren und bestimmen, ob und was in ihrer Verfassung jedesmal Löbliches und Tadelnswertes sei. Sodann muß der Gesetzgeber die Einnahmen und Ausgaben der Bürger, auf welche Weise sie auch immer gemacht werden, und den dadurch unter ihnen entstehenden bald freiwilligen und bald unfreiwilligen, bald vereinenden und bald veruneinenden Verkehr, auf welche Weise sie immer in jedem Falle in denselben mit einander treten mögen, überwachen und auf Recht und Unrecht dabei sehen, um zu entscheiden wer es hat und wer es nicht hat, und denen welche den Gesetzen willig Gehorsam leisten ehrende Auszeichnungen, den Ungehorsamen aber festgesetzte Strafen zuerteilen, bis er denn, nachdem er so die ganze Staatsverfassung bis zu Ende durchlaufen, noch dies ins Auge faßt, wie es mit den Begräbnissen der Toten gehalten werden soll und welche Ehren man ihnen erweisen muß, und nachdem auch dies noch geschehen ist, wird er Wächter für alle diese Gesetze bestellen, welche teils durch Erkenntnis, teils durch richtige Vorstellung diesem Amte gewachsen sind, damit Vernunft dies Alles zusammenhalte und es als Folge der Besonnenheit und Gerechtigkeit und nicht des Reichtums oder der Ehrliebe erscheinen lasse. So, ihr Freunde, hätte ich gewünscht daß ihr mir dargetan hättet, und wünsche es auch noch daß ihr mir dartun möchtet, in wie fern in den dem Zeus und dem pythischen Apollon zugeschriebenen Gesetzen, welche euch Minos und Lykurgos gaben, dieses Alles enthalten und dergestalt geordnet, daß es für den erkennbar sei welcher im Gesetzwesen durch Theorie oder auch einige Praxis erfahren ist, wenn es auch für uns Andere nicht in die Augen fällt.

KLEINIAS: Wie müssen wir denn, lieber Freund, jetzt weiter von der Sache reden?

DER ATHENER: Zunächst müssen wir wieder, wie es mir scheint, die auf die Tapferkeit abzweckenden Einrichtungen durchgehen, wie wir bereits den Anfang dazu gemacht haben; sodann wollen wir eine andere und wieder eine andere Gattung der Tugend abhandeln, wenn es euch recht ist, und zwar wollen wir dabei die Art wie wir jene erstere Tugend in Betracht gezogen haben uns zum Muster nehmen und ebenso auch alle anderen besprechen, zur anregenden Unterhaltung auf unserer Wanderung; und nachdem wir so die gesamte Tugend durchgegangen sind, wollen wir, so Gott will, dartun, inwiefern alle so eben von uns erwähnten Punkte der Gesetzgebung auf sie hinzielen.

[633 St.] MEGILLOS: Wohl gesprochen, und so versuche denn zuerst uns die des Zeus, deren Lobredner hier unser Kleinias ist, der Beurteilung zu unterwerfen.

DER ATHENER: Ich werde es tun, aber zugleich auch die in deinem und in meinem eigenen Lande, denn die Untersuchung soll unser Aller Interessen gemeinsam umfassen. Sprecht also, behaupten wir daß die gemeinschaftlichen Mahlzeiten und öffentlichen Leibesübungen für den Zweck des Krieges vom Gesetzgeber eingeführt worden sind?

MEGILLOS: Ja.

DER ATHENER: Auch noch ein Drittes und Viertes? Denn so werden wir vielleicht abzählen müssen auch bei den anderen Teilen der Tugend oder wie man sie sonst nennen mag, wenn man damit nur wirklich deutlich macht was man meint.

MEGILLOS: Wohl denn, als Drittes, würde ich und jeder Lakedämonier behaupten, führte er die Jagd ein.

DER ATHENER: Versuchen wir auch noch ein Viertes und Fünftes anzuführen, wenn wir können.

MEGILLOS: So will ich denn versuchen auch noch ein Viertes anzugeben, nämlich die Übungen im Aushalten von Schmerzen, wie sie gar oft bei uns angestellt werden, teils durch Faustkämpfe mit einander, teils durch gewisse Räubereien, bei denen man sich jedesmal einer tüchtigen Tracht Schläge aussetzt. Dazu kommt dann noch die sogenannte Krypteia, bei welcher es erstaunlich viele Beschwerden auszuhalten gibt, verbunden mit der Gewöhnung winterlichen Barfußgehens und Schlafens auf dem bloßen Erdboden und der ohne fremde Aufwartung ganz sich selbst zu bedienen, indem man bei Tage und bei Nacht durch das ganze Land umherstreifen muß. Und nicht minder arg ist es was man in den Gymnopädien bei uns auszustehen hat, indem man mit der Gewalt der erstickenden Sommerhitze kämpfen muß, und noch gar vieles Andere, so daß jedesmal, wer dieses Alles einzeln durchgehen wollte, fast kein Ende finden würde.

DER ATHENER: Wohlgesprochen, lakedämonischer Gastfreund! Aber, sag', als was werden wir die Tapferkeit bezeichnen? Etwa bloß so einfach als einen Kampf gegen Furcht und Schmerzen? Oder auch gegen Begierden und Lüste und die Macht jener schmeichlerischen Reize welche auch die Herzen Derer die sich erhaben dünken weich wie Wachs machen?

MEGILLOS: Ich denke, gegen Beides zusammen.

DER ATHENER: Wenn ich nun anders des Vorigen mich erinnere, so sagte hier unser Kleinias, daß eine Stadt und ein einzelner Mensch sich selbst unterliegen könne. Nicht wahr, knosischer Gastfreund?

KLEINIAS: Ja wohl.

DER ATHENER: Wollen wir nun bloß den welcher den Schmerzen, oder auch den welcher den Lüsten erliegt als feige, und zwar gerade diesen als den Feigeren, bezeichnen?

KLEINIAS: Mir wenigstens scheint es so, und es sagen auch wohl wir Alle vielmehr von dem welcher von den Lüsten überwältigt wird daß dieser auf eine schmählichere Weise sich selber unterlegen sei, als von dem welcher den Schmerzen nicht Stand zu halten vermochte.

[634 St.] DER ATHENER: Und der vom Zeus und der vom pythischen Gott unterrichtete Gesetzgeber haben nun doch wohl nicht eine hinkende Tapferkeit durch ihre Gesetze zu fördern gesucht, welche nur nach der linken Seite hin Widerstand zu leisten vermöchte, nach der rechten aber, gegen alles Reizende und Schmeichelnde, nicht, sondern vielmehr eine solche die nach beiden Seiten hin stark wäre?

KLEINIAS: Ich wenigstens glaube es.

DER ATHENER: So will ich denn wieder fragen: was für Einrichtungen habt ihr in euren beiderseitigen Staaten, welche, indem sie euch die Genüsse kosten lassen und sie, gerade wie vorhin die Schmerzen, nicht fliehen heißen, sondern mitten in dieselben hineinführen, euch durch Zwang dazu nötigen und durch ausgesetzte Preise dazu überreden derselben Herr zu werden? Ich frage, wo ist ein Gleiches in bezug auf die Genüsse in euren Gesetzen angeordnet? Nennt mir die Veranstaltung welche bei euch auch darauf hinwirkt gleich sehr gegen Schmerz wie gegen Lust dieselben tapferen Männer zu werden, die da siegen wo es sich zu siegen gebührt und nimmer den Feinden die einem Jeden am Nächsten und Gefährlichsten sind unterliegen?

MEGILLOS: Auf die gleiche Weise, Freund, wie ich dir eine Menge von gesetzlichen Anordnungen zur Bekämpfung des Schmerzes zu nennen im Stande war, möchte ich freilich in Beziehung auf die Lust schwerlich ausgerüstet sein, so weit man bedeutende und augenfällig hervortretende Stücke der Gesetzgebung dabei im Sinne hat, minder bedeutende aber dürfte ich vielleicht anzuführen vermögen.

KLEINIAS: Und wahrlich auch ich vermöchte schwerlich in den kretischen Gesetzen in gleichem Maße so Etwas aufzudecken.

DER ATHENER: Ihr besten aller Gastfreunde, das nimmt mich auch gar nicht Wunder. Gesetzt aber auch daß Einer von uns, in dem Bestreben zugleich das Wahre und Beste zu finden, Etwas an der heimischen Gesetzgebung der Anderen zu tadeln hat, so wollen wir das gegenseitig nicht übel aufnehmen, sondern es einander zu Gute halten.

KLEINIAS: Wohl gesprochen, athenischer Gastfreund, so muß man es machen.

DER ATHENER: Es würde auch, lieber Kleinias, Männern von unserem Alter das Gegenteil übel anstehen.

KLEINIAS: Gewiß.

DER ATHENER: Ob man nun freilich mit Recht sei es an der lakedämonischen oder der kretischen Verfassung Etwas aussetzen könne ist eine andere Frage, aber die Urteile welche insgemein über sie gefällt werden dürfte ich wahrscheinlich besser als ihr beide angeben können, und so gut es auch sonst schon mit euren gesetzlichen Einrichtungen bestellt sein mag, so gehört doch eins eurer Gesetze zu dem was das allerhöchste Lob verdient, nämlich das welches allen jungen Leuten verbietet den Vorzügen oder Mängeln der bestehenden Einrichtungen nachzuforschen, vielmehr ihnen befiehlt mit Einer Stimme und aus Einem Munde einhellig zu bekennen daß Alles, als eine Satzung von Göttern, im besten Zustande sei, und wenn etwa Einer anders spräche, so solle Jeder der es höre es schlechterdings nicht dulden; wenn dagegen einer eurer Greise Etwas auszusetzen hat, so solle er einem der Staatsoberhäupter und einem Altersgenossen ohne Beisein eines Jüngeren derartige Bemerkungen mitteilen.

KLEINIAS: Du sprichst vollkommen wahr, Freund, und hast, wie mich dünkt, [635 St.] obwohl du doch nicht mit unserm Gesetzgeber persönlich verkehren konntest, trotzdem, als wärest du ein Seher, die Absicht welche jener damals als er diese Verordnung gab bei derselben hatte jetzt treffend erraten und durchaus richtig kund gegeben.

DER ATHENER: Sind wir nun aber nicht gegenwärtig ohne alle Gesellschaft von jüngeren Männern und begehen daher unsererseits keinen Fehltritt wenn wir uns allein unter uns hierüber unterreden, sondern folgen damit nur der unserem Alter vom Gesetzgeber erteilten Erlaubnis?

KLEINIAS: So ist es, und du brauchst daher auch durchaus nicht zurückzuhalten mit deinem Tadel gegen unsere Gesetzgebung. Ist es doch keine Unehre zu erkennen daß Etwas nicht so ist wie es sein sollte, sondern wenn man die Belehrung ohne Arger und vielmehr mit Wohlwollen aufnimmt, so wird man dadurch zur Verbesserung hingeführt.

DER ATHENER: Gut! Ich werde mich indessen trotzdem nicht eher irgendwie tadelnd über eure Gesetze aussprechen als bevor ich sie möglichst genau untersucht habe, sondern euch nur meine Bedenken vorlegen. Denn euch allein unter allen Griechen und Nichtgriechen, soweit unsere Kunde reicht, hat der Gesetzgeber die gesetzliche Verpflichtung auferlegt der größten Genüsse und Freuden zu entbehren und sie euch zu kosten verboten; hinsichtlich alles dessen dagegen was Schmerz und Furcht einflößt, wie wir es so eben durchgegangen haben, war er der Ansicht daß wer solches von Kindheit auf fortwährend flieht dann wenn er einmal durch unvermeidliche Umstände gezwungen würde Mühseligkeiten, Gefahren und Schmerzen zu bestehen, auch vor denen die in ihrer Ertragung geübt seien fliehen und ihr Sklave werden würde. Ebenso nun, meine ich, hätte derselbe Gesetzgeber auch von den Genüssen denken und so bei sich selber sprechen müssen: wenn unsere Bürger von Kindheit auf die größten Reize des Lebens gar nicht kennen gelernt haben, so haben sie auch keine Übung darin mitten im Genusse standhaft zu bleiben und sich durch das Wohlbehagen mit welchem sie sich in demselben ergehen zu nichts Schändlichem zwingen zu lassen, und so wird ihnen das Gleiche begegnen wie denen welche der Furcht erliegen: sie werden auf eine andere und noch viel schimpflichere Weise Sklaven derer werden welche die Fähigkeit erworben haben im Genusse fest zu bleiben, oder auch derer die im Besitz alles dessen sind was zum Wohlleben erforderlich ist, und das sind zuweilen Leute von der niedrigsten Art; und so werden sie eine halb sklavische und halb freie Seele besitzen, und nicht verdienen wirklich schlechthin tapfer und frei genannt zu werden. Seht nun zu ob Etwas von diesen meinen gegenwärtigen Bemerkungen euch Grund zu haben scheint.

KLEINIAS: Es kommt uns freilich beim ersten Anhören einigermaßen so vor, allein über so wichtige Dinge sofort leichthin Glauben zu schenken möchte denn doch wohl eher jüngeren und unverständigeren Leuten zukommen.

DER ATHENER: Wenn wir aber nun das zunächst hieran sich Anschließende erörtern von dem was wir uns vorgenommen haben, lieber Kleinias und du, lakedämonischer Gastfreund, so haben wir nach der Tapferkeit die Besonnenheit zu besprechen. Was werden wir da nun in euren Staaten Vorzüglicheres finden als in den planlos verwalteten, [636 St.] sowie eben jetzt in Ansehung des Krieges?

MEGILLOS: Das ist nicht so leicht zu sagen; indessen scheinen doch die gemeinsamen Mahlzeiten und die öffentlichen Leibesübungen glücklich für beide Tugenden berechnet zu sein.

DER ATHENER: Es scheint in der Tat, ihr Freunde, ein schwieriges Ding darum zu sein daß sich irgend eine Staatseinrichtung unangefochten gleich sehr in der Praxis wie in der Theorie zu erhalten vermöge, vielmehr scheint dies gerade so unmöglich zu sein als einem jeden Körper Eine bestimmte Lebensweise vorzuschreiben, bei welcher nicht Ein und Dasselbe ihm bald schädlich und bald nützlich sich erwiese. So schaffen denn auch in diesem Falle die öffentlichen Leibesübungen und gemeinsamen Mahlzeiten zwar sonst den Staaten vielerlei Nutzen, wie es denn auch zur Zeit der Fall ist, in Beziehung auf Aufstände aber sind sie gefährlich, wie es sich bei den Milesiern, Böotiern und Thuriern gezeigt hat. Und ferner scheint auch diese alte Einrichtung die Natur durch die Sitte verkehrt zu haben, nämlich denjenigen Liebesgenuß welcher nicht bloß den Menschen sondern auch den Tieren naturgemäß ist, und davon könnte man wohl auf eure Staaten die erste Schuld schieben und auf alle diejenigen welche sich vorzugsweise der Turnübungen befleißigen. Mag man nämlich diese Sache im Scherz oder im Ernst betrachten, so ist doch daran festzuhalten daß der Genuß welchen die geschlechtliche Vereinigung eines Mannes und eines Weibes zum Zwecke der Zeugung mit sich bringt uns den Ordnungen der Natur gemäß verliehen, dagegen die Gemeinschaft der Männer mit Männern oder der Weiber mit Weibern naturwidrig und bei denen die zuerst dergleichen sich erfrecht haben aus Maßlosigkeit im Genusse hervorgegangen ist. Alle aber legen wir den Kretern die Erfindung der Erzählung vom Ganymedes zur Last. Weil nämlich bei ihnen der Glaube herrscht, ihre Gesetze seien ihnen vom Zeus gegeben, so hätten sie auch diese Fabel noch auf Rechnung des Zeus hinzugesetzt, um so nach dessen eigenem Vorbilde auch diese Lust genießen zu können. Doch mag es mit dieser Sage stehen wie es will, wenn Menschen an die Aufrichtung von Gesetzen denken, so haben sie dabei fast ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Freuden und Schmerzen zu richten, wie sie in den öffentlichen Kreisen so wie in den Gemütern der Einzelnen, für sich genommen, erzeugt werden. Denn diese beiden Quellen hat die Natur fließen lassen, und wer aus ihnen schöpft, wo, wann und so viel als er darf, der ist glücklich, mag es nun ein Staat oder ein Privatmann oder überhaupt irgend ein lebendiges Wesen sein, wer es dagegen auf eine unverständige Weise und zugleich zur Unzeit tut, dessen Leben wird im Gegenteil unglücklich sein.

MEGILLOS: Das klingt Alles recht schön, lieber Freund, und Verlegenheit bemächtigt sich unser, was wir darauf antworten sollen. Gleichwohl scheint mir unser lakedämonischer Gesetzgeber mit Recht geboten zu haben die Genüsse zu fliehen, und die Gesetze in Sparta, die knosischen mag hier unser Kleinias, wenn er will, vertreten, welche sich auf sie beziehen, [637 St.] scheinen mir von allen in der Welt am Trefflichsten bestellt zu sein. Denn das wodurch die Menschen am Meisten in die größten Lüste und Ausschweifungen und auf Torheiten jeder Art verfallen hat unser Gesetzgeber aus dem ganzen Staate verbannt, und weder auf dem Lande noch in den Städten, soweit die Obhut Spartas reicht, wirst du Trinkgelage noch Alles was in ihrem Gefolge ist und nach Möglichkeit den Reiz zu allen Lüsten in sich trägt erblicken, und es ist Keiner von uns der nicht, wenn er einem trunken Herumschwärmenden begegnete, ihn auf der Stelle züchtigen würde, und nicht einmal die Dionysien selbst würde ein Solcher zum Vorwande nehmen können um von dieser Strafe befreit zu werden, während ich bei euch an diesem Feste einmal ganze Wagen voll Betrunkener habe umherfahren sehen. Ebenso sah ich aber auch in Tarent, das doch unsere Kolonie ist, die ganze Stadt bei den Dionysien betrunken. Bei uns dagegen kommt nie Etwas der Art vor.

DER ATHENER: Mein lakdedämonischer Gastfreund, Manches ist löblich, so lange eine gewisse Enthaltsamkeit damit verbunden ist, was, wenn diese nachläßt, um so verächtlicher wird, und so könnte denn auch leicht einer von unseren Landsleuten zu unserer Verteidigung dich damit fassen, daß er auf die Zügellosigkeit der Weiber bei euch hinwiese. In Tarent nun und bei uns so gut wie bei euch pflegt, wie ich glaube, auf den Tadel aller solcher Gewohnheiten die gleiche Antwort gegeben zu werden, um es zu rechtfertigen, daß sie gar nicht verkehrt, sondern ganz in der Ordnung sind, denn ein Jeder wird einem Fremden, wenn er sich über das Ungewöhnte dessen was er erblickt wundert, erwidern: wundere dich nicht, Freund, denn bei uns ist das Sitte, bei euch aber in Beziehung auf denselben Gegenstand vielleicht ein Anderes. Wir indessen, liebe Freunde, wollen ja nicht darüber reden was alle andern Menschen, sondern was die Gesetzgeber selbst richtig oder verkehrt machen, und wir müssen uns daher noch über die Trunkenheit überhaupt weiter verbreiten, denn es ist keine unwichtige Sache um dieselbe und sie richtig anzusehen, dazu bedarf es eines nicht gewöhnlichen Gesetzgebers. Und zwar meine ich nicht, ob man überhaupt Wein trinken solle oder nicht, sondern gerade die Trunkenheit selbst, nämlich ob man sie zulassen solle, wie die Skythen und Perser, desgleichen auch die Karthager, Kelten, Iberer und Thraker, welches doch auch lauter kriegerische Völker sind, oder es so machen wie ihr. Ihr nämlich, wie du behauptest, enthaltet euch derselben gänzlich, die Skythen und Thraker dagegen bei denen Männer und Weiber bei jeder Gelegenheit ungemischten Wein trinken und sich die Kleider mit demselben begießen, glauben damit einen schönen und beseligenden Brauch in Übung gebracht zu haben, und die Perser geben sich außerdem auch noch allen anderen Sinnengenüssen hin, die ihr verwerft, nur daß sie mehr dabei Maß halten als Jene.

[638 St.] MEGILLOS: Mein Bester, wir schlagen aber auch alle diese Völker in die Flucht, sobald wir die Waffen in die Hände nehmen.

DER ATHENER: Sage das nicht, mein Guter! Denn es hat schon viele Niederlagen und Siege gegeben, und wird sie geben, deren Grund nicht so zu Tage liegt; Gewinn und Verlust von Schlachten können wir daher nie als ein sicheres, sondern nur als ein zweifelhaftes Kennzeichen guter oder schlechter Staatseinrichtungen geltend machen. Es ist nun einmal so daß die kleineren Staaten von den größeren im Kampfe besiegt und unterworfen werden, von den Syrakusiern die Lokrer, deren öffentliche Einrichtungen unter allen in jener Gegend sich des besten Rufes erfreuen, ferner die Keer von den Athenern, und so könnten wir noch tausend andere ähnliche Beispiele finden. Vielmehr wollen wir jede solcher Einrichtungen und Bräuche rein für sich betrachten und uns so selber zu überzeugen suchen, Siege und Niederlagen aber für jetzt außer Betracht lassen und vielmehr einfach sagen: ein solcher Brauch ist empfehlenswert und ein solcher nicht. Doch zuvörderst hört mich noch erst darüber ein wenig an, wie man bei der Aufsuchung des Vorteilhaften und Nachteiligen in solchen Dingen verfahren muß.

MEGILLOS: Wie meinst du also?

DER ATHENER: Es scheinen mir Alle welche eine öffentliche Einrichtung dergestalt zum Gegenstand ihrer Besprechung machen daß sie dieselbe gleich, so wie sie nur genannt ist, zu tadeln oder zu loben unternehmen, keineswegs nach Gebühr zu verfahren, sondern es gerade so zu machen als ob Jemand, dem man den Käse als eine gute Speise empfohlen, sofort widersprechen wollte, ohne erst darnach zu fragen, welche Wirkung er denn ausübt, noch auf welche Weise und von wem und womit zusammen und in welcher Beschaffenheit und bei welchem Befinden er zu sich genommen werden muß, gerade so, sage ich, machen wir allem Anscheine nach jetzt es auch in unserer Unterredung. Denn kaum haben wir nur das Wort Trunkenheit aussprechen hören, da sind auch gleich die Einen von uns mit ihrem Tadel, die Andern mit ihrem Lobe bei der Hand, und zwar Beide mit gar seltsamen Gründen. Denn beiderseits stützen wir uns bei dem was wir empfehlen lediglich auf fremde Gewährsmänner, indem die Einen etwas Entscheidendes vorzubringen glauben, indem sie deren recht viele, die Anderen, indem die den Umstand anführen daß wir Diejenigen bei denen die in Rede stehende Gewohnheit nicht gilt als siegreiche Krieger erblicken, und gegen diesen Umstand werden dann auch wieder Einwendungen erhoben. Wenn wir nun auf diese Weise auch jede sonstige gesetzliche Einrichtung durchgehen wollten, so würde das gar nicht nach meinem Sinne sein. Vielmehr will ich auf eine andere Weise, welche mir die richtige zu sein scheint, gleich über das Vorliegende, ich meine die Trunkenheit, reden, um zu versuchen ob ich euch nicht etwa so ein sicheres Verfahren zur Entscheidung aller ähnlichen Streitfragen zu zeigen vermöchte, da im übrigen wohl tausend und aber tausend Völker mit euren beiden Staaten hierüber uneins sind und sich mit ihnen in einen Wortkampf einlassen würden.

[639 St.] MEGILLOS: Ja, gewiß, wenn es ein solches gesichertes Verfahren in der Betrachtung solcher Gegenstände gibt, so dürfen wir uns nicht weigern es uns angeben zu lassen.

DER ATHENER: Wir wollen also etwa auf folgende Weise untersuchen. Gesetzt, es lobte Jemand die Ziegenzucht und den Gewinn den dieses Tier abwerfe, ein Anderer aber, welcher Ziegen ohne Hirten weiden und in angebauten Ländereien Schaden anrichten gesehen, spräche sich tadelnd über sie aus und wollte überhaupt von keinem Zuchtvieh etwas wissen, weil er jedes entweder ganz ohne Wächter oder unter schlechten Hütern erblickt, glauben wir da daß der Tadel eines Solchen jemals begründet sei, was er auch immer betreffen möge?

MEGILLOS: Unmöglich.

DER ATHENER: Ist nun derjenige für uns zu Schiffe ein guter Hüter und Leiter der nur das Schifferwesen versteht, gleichviel ob er seekrank wird oder nicht? Oder wie werden wir hierüber urteilen?

MEGILLOS: Nein, sondern diese Zugabe macht alle seine Kunst unnütz.

DER ATHENER: Und wie ist's mit einem Heerführer? Ist Jemand geeignet dazu, wenn er nur das Kriegswesen versteht, sei es auch daß er vor Feigheit gleichsam von der Trunkenheit der Furcht seekrank wird?

MEGILLOS: Wie könnte er!

DER ATHENER: Und wenn er nun gar zu seiner Feigheit zugleich Nichts von der Sache verstände?

MEGILLOS: Dann taugt er vollends ganz und gar Nichts und ist kein Führer für Männer, sondern vielmehr für einen Haufen von völligen Weibern.

DER ATHENER: Und wie steht es nun hiernach mit einem Lobredner oder Tadler irgend welcher Gemeinschaft, in deren Natur es liegt einen Leiter zu haben und die erst unter dessen Obhut eine nützliche Gemeinschaft werden wird? Angenommen, ein solcher Beurteiler hätte niemals eine Gemeinschaft von dieser Art unter richtiger Leitung in sich vereinigt, vielmehr stets entweder ganz ohne Vorsteher oder doch unter schlechten Vorstehern gesehen, glauben wir da daß solcherlei Beobachtungen je zu einem treffenden Urteil über derartige Vereinigungen im Lob oder Tadel führen werden?

MEGILLOS: Wie könnten sie! Haben doch die Beurteiler eine richtig gestaltete derartige Gesellschaft dann niemals gesehen noch ihr beigewohnt.

DER ATHENER: Wohlan denn. Haben wir nun nicht Zecher und Trinkgelage auch als eine unter den vielen Gesellschaften zu betrachten?

MEGILLOS: Ganz gewiß.

DER ATHENER: Hat nun aber diese Gesellschaft jemals schon Einer sich richtig gestalten sehen? Für euch zunächst ist es leicht darauf zu antworten, daß ihr so Etwas schlechterdings nie gesehen habt, da bei euch Trinkgesellschaften weder heimischer Brauch noch gesetzlich erlaubt sind. Ich für mein Teil aber habe zwar vielen und an vielen Orten beigewohnt und mich überdies beinahe nach allen erkundigt, habe aber doch kaum eine gesehen oder von einer gehört welche ganz und gar sich auf die rechte Weise gestaltet hätte, sondern wenn ja, so doch nur in unwesentlichen und wenigen Stücken, die meisten aber waren, geradezu gesagt, in allen Stücken verfehlt.

KLEINIAS: Wie meinst du denn das, Freund? Drücke dich noch etwas deutlicher aus. Denn wir unsererseits würden, weil wir, wie du bereits bemerktest, keine Erfahrung in diesen Dingen haben, [640 St.] auch selbst wenn wir einer solchen Gesellschaft beiwohnten, doch schwerlich sofort das Richtige und das Verkehrte an ihr erkennen.

DER ATHENER: Wahrscheinlich, und so versuche denn es durch meine Auseinandersetzung kennen zu lernen. So viel begreifst du doch, daß in allen Zusammenkünften und Versammlungen zur richtigen Ordnung Ein Mitglied in allen Stücken in Allem was daselbst unternommen wird den Vorsitz über die übrigen führen muß?

KLEINIAS: Wie sollte ich nicht?

DER ATHENER: Auch behaupteten wir so eben daß der Befehlshaber von Kriegern ein tapferer Mann sein müsse.

KLEINIAS: Freilich.

DER ATHENER: Der Tapfere aber wird doch wohl durch Gefahren weniger in Verwirrung gebracht als der Feige?

KLEINIAS: Auch das ist so.

DER ATHENER: Wenn es nun möglich wäre einen schlechterdings Nichts fürchtenden und durch Nichts in Verwirrung zu setzenden Feldherrn an die Spitze eines Heeres zu stellen, würden wir dies nicht auf jede Weise ins Werk zu setzen suchen?

KLEINIAS: Ganz gewiß.

DER ATHENER: Nun sprechen wir aber nicht von einem Solchen welcher ein Heer beim Zusammentreffen von Feinden mit Feinden im Kriege anführen, sondern von einem Solchen, welcher im Frieden eine freundschaftliche Zusammenkunft von Freunden leiten soll.

KLEINIAS: Richtig.

DER ATHENER: Es ist nun aber eine solche Zusammenkunft, wenn es in ihr bis zur Trunkenheit kommt, nicht ohne Verwirrung und Händel. Nicht wahr?

KLEINIAS: Wie sollte sie? Ich glaube, gerade im Gegenteil.

DER ATHENER: Wird es also nicht zunächst auch für eine solche Gesellschaft überhaupt eines Leiters bedürfen?

KLEINIAS: Zuversichtlich, für keine andere so sehr.

DER ATHENER: Muß man ferner nicht zu einem solchen Leiter möglichst einen Mann erwählen der sich selber nicht in Verwirrung setzen läßt?

KLEINIAS: Wie anders?

DER ATHENER: Auch muß er doch wohl, sollte ich denken, in die Verhältnisse der ganzen Gesellschaft Einsicht haben, denn er soll nicht bloß für die unter ihren Teilnehmern bereits bestehende Freundschaft wachen, sondern auch dafür sorgen wie sie durch die gehaltene Zusammenkunft noch vermehrt werden könne.

KLEINIAS: Sehr wahr.

DER ATHENER: Also wird man Zechern einen nüchternen und einsichtigen Mann zum Vorsteher setzen müssen, und nicht einen von umgekehrten Eigenschaften. Denn unter Berauschten würde ein selbst berauschter und jugendlich unüberlegter Vorsteher von großem Glücke sagen können wenn er nicht ein großes Unheil anrichtete.

KLEINIAS: Ja, von sehr großem.

DER ATHENER: Also, wenn Einer auch dann wenn diese Zusammenkünfte in den Staaten sich möglichst richtig gestalteten sie dennoch tadelte, weil er gegen die Sache selbst etwas einzuwenden hätte, so würde sein Tadel begründet sein, wenn er aber auf einen solchen Brauch nur deshalb schmäht weil er den möglichen Mißbrauch mit demselben treiben sieht, so ist für's Erste klar wie er gar nicht bemerkt daß dies nicht die richtige Anordnung der Sache ist, für's Zweite, daß alles Andere auf die gleiche Weise tadelnswert erscheint, wenn es ohne einen nüchternen Meister und Leiter vor sich geht. Oder siehst du nicht ein daß ein Steuermann so gut wie jeder Andere der irgend Etwas, [641 St.] mag es nun ein Schiff oder ein Wagen oder ein Heer oder sonst was immer sein, zu leiten hat Alles zu Grunde richtet, wenn er betrunken ist?

KLEINIAS: Darin hast du vollkommen Recht, lieber Freund. Doch sage uns nun auch das Weitere, welchen Vorteil uns denn nun jene richtige Anordnung der Trinkgelage verschaffen soll. Wenn nämlich, um bei den eben angeführten Beispielen zu bleiben, einem Heere die richtige Leitung zu Teil wird, so wird dadurch freilich für die welche folgen ein nicht geringer Vorteil, nämlich der Sieg, gewonnen, und ähnlich ist es in allen angeführten Fällen, bei einem richtig geleiteten Zechgelage aber, was soll bei dem großes für Privatleute oder für den Staat herauskommen?

DER ATHENER: Und was können wir denn Großes anführen das bei der angemessenen Erziehung eines einzelnen Knaben oder auch Unterweisung eines einzelnen Chores für den Staat herauskommt? Oder müßten wir nicht, wenn wir bloß hiernach gefragt würden, zugeben daß aus der Erziehung eines Einzelnen dem Staate nur ein geringer Vorteil erwachsen könne? Wenn man aber im Allgemeinen darnach fragt, welchen großen Nutzen die richtige Erziehung dem Staate gewähre, so ist es nicht schwer darauf zu antworten, daß wohlerzogene Knaben einst tüchtige Männer werden und dann eben als solche sich nicht bloß in allen anderen Stücken wohl verhalten, sondern namentlich auch die Feinde im Kriege besiegen dürften. Bringt nun hiernach gute Zucht und Erziehung auch Sieg, so dagegen der Sieg nicht selten das gerade Gegenteil von guter Zucht und Sitte mit sich. Denn durch erfochtene Siege sind schon Viele übermütig geworden und haben sich dann in Folge dieses Übermuts noch mit tausend anderen Lastern bedeckt, und gute Zucht hat sich noch nie als ein kadmeischer Sieg, Schlachtensiege aber haben sich oft den Menschen bereits als solche erwiesen und werden sich auch noch fernerhin erweisen.

KLEINIAS: Es scheint, lieber Freund, als wolltest du behaupten daß die Teilnahme an Trinkgesellschaften, wenn sie sich auf die richtige Weise gestalten, ein gut Teil zur Erziehung beitragen könne.

DER ATHENER: Warum auch nicht?

KLEINIAS: Kannst du nun aber auch der ferneren Anforderung entsprechen, nämlich zu zeigen, daß diese deine Behauptung richtig ist?

DER ATHENER: Daß sie richtig sich so verhalte, Freund, das vermöchte, da so Viele hieran zweifeln, zu völliger Sicherheit nur ein Gott zu bringen. Wenn ich aber sagen soll was mir darüber scheint, so will ich es euch nicht vorenthalten, da wir doch einmal jetzt ein Gespräch über Gesetze und Staatsverfassung in Angriff genommen haben.

KLEINIAS: Nun, das ist eben unser Wunsch, deine Ansicht über den gegenwärtigen streitigen Punkt kennen zu lernen.

DER ATHENER: Wohlan! Aber da wird es nötig sein daß wir uns anstrengen, ihr um die Sache aufzufassen, ich aber zu dem Versuche sie euch in irgend einer Weise deutlich zu machen. Zuvor jedoch hört Folgendes. Wir Athener stehen bei allen Griechen in dem Rufe gerne und viel zu reden, ihr Lakedämonier dagegen mit Worten zu kargen, und ihr Kreter euch mehr des Reichtums an Gedanken als an Worten zu befleißigen. [642 St.] Ich muß mich daher in Acht nehmen die Meinung bei euch zu erwecken als sei ich weitläufig über eine Kleinigkeit, wenn ich das Zechen, eine unbedeutende Sache, in einer gar langen Erörterung behandle. Allein es steht hiemit so: die der Natur entsprechende Anordnung eines Trinkgelages kann schwerlich je eine deutliche und befriedigende Auseinandersetzung finden ohne daß man zugleich die richtige Beschaffenheit der Musik und musikalischer Bildung dabei abhandelt, und diese kann wiederum nicht begriffen werden ohne die der Erziehung und Bildung überhaupt, und dies Alles erfordert gar lange Reden. Besinnet euch also, was wir tun, ob wir diesen Gegenstand für jetzt aufgeben und zu einem anderen Punkt in der Gesetzgebung übergehen wollen.

MEGILLOS: Du weißt vielleicht nicht, athenischer Freund, daß meine Familie in öffentlicher Gastfreundschaft mit eurem Staate steht. Und da geht es nun wohl allen Söhnen solcher Häuser so: sobald sie nur hören daß sie zu einem anderen Staat im Verhältnisse öffentlicher Gastfreundschaft stehen, pflanzt sich ihnen allen in Folge dessen gleich von Jugend auf ein gewisses Wohlwollen gegen diesen Staat ein, gerade als wäre er neben ihrem eignen Staate ihnen noch ein zweites Vaterland; und eben dies ist denn auch bei mir der Fall. Denn schon als Knabe habe ich, wenn ich Knaben in den Tadel oder das Lob welches die Lakedämonier gerade in irgend einem Stücke über die Athener aussprachen einstimmen und sie sagen hörte: euer Staat, Megillos, hat uns manchmal gute und manchmal schlechte Dienste geleistet, wenn ich dies hörte, so nahm ich bei solchen Gelegenheiten mich stets eurer gegen die Tadler eures Staates an und hegte ein inniges Wohlwollen gegen euch, und auch jetzt noch macht es mir Freude attisch reden zu hören, und was man insgemein von den Athenern sagt, daß alle diejenigen von ihnen welche tüchtig und wacker sind es auch in einem ausgezeichneten Grade seien, das scheint mir ein durchaus richtiger Ausspruch, denn sie allein sind es ohne Zwang durch Natur und durch göttliche Fügung. Meinetwegen magst du also getrost reden, so viel dir beliebt.

KLEINIAS: Und auch ich fürwahr, Freund, habe dir ein Wort zu sagen welches du freundlich aufnehmen und daraus Mut schöpfen wirst zu reden so lange du willst. Du hast auch wohl schon gehört daß hier einst ein gottbegeisterter Mann, Epimenides, lebte, welcher ein Verwandter meines Hauses war, und daß er zehn Jahre vor den Perserkriegen auf Befehl des Orakels zu euch kam, gewisse vom Gott anbefohlene Opfer darbrachte und den Athenern, die in Furcht vor der Zurüstung der Perser schwebten, verkündete daß dieselben vor zehn Jahren nicht anrücken und nach ihrem Anrücken unverrichteter Sache und in allen ihren Hoffnungen getäuscht wieder abziehen und mehr Schaden erleiden als anrichten würden. So sind denn also damals meine Vorfahren in ein gastfreundliches Verhältnis mit euch getreten, [643 St.] und seit dieser ganzen Zeit ist meine Familie und ich wohlwollend gegen euch gesinnt.

DER ATHENER: Ihr eurerseits seid also, wie es scheint, zu hören bereit, und von meiner Seite ist der gute Wille vorhanden, wenn ihm auch das Vermögen nicht gleich kommt, und so muß denn der Versuch gewagt werden. Zunächst nun wollen wir zum Zwecke dieser unserer Erörterung das Wesen und den Wirkungskreis der Erziehung bestimmen. Denn durch diese Bestimmung, wie schon bemerkt, muß die Erörterung welche wir jetzt unternommen haben hindurchgehen, um endlich bei dem Gotte des Weines anzulangen.

KLEINIAS: Tun wir das, wenn es dir recht ist.

DER ATHENER: So will ich euch denn sagen was ich unter Erziehung glaube verstehen zu müssen, und ihr sehet zu ob dies euren Beifall hat.

KLEINIAS: Sprich.

DER ATHENER: Ich meine also und behaupte daß wer in irgend einer Sache ein tüchtiger Mann werden will sich gleich von Kindheit auf eben in ihr üben und im Scherz wie im Ernst mit allen solchen Dingen beschäftigen muß welche auf sie bezug haben. Wenn etwa Einer ein tüchtiger Landwirt und ein Anderer ein tüchtiger Baumeister werden will, so muß das Spiel des Letzteren darin bestehen Kinderhäuschen zu bauen, und das des Ersteren Land zu bearbeiten, und Jedem von Beiden muß der Erzieher verkleinerte Nachbildungen der wirklichen Gerätschaften in die Hand geben, und eben so muß er auch jeglichem seiner Pflegebefohlenen frühzeitig zur Erwerbung der notwendigen Vorkenntnisse verhelfen, wie den künftigen Baumeister messen und mit dem Richtscheite umgehen, den künftigen Krieger spielend reiten lehren oder etwas Anderes der Art tun lassen, und muß versuchen bei ihren Spielen die Lust und Liebe der Knaben auf das hinzulenken worin sie zum eigentlichen Ziele ihrer Tätigkeit gelangen sollen. Als Hauptsache der Erziehung bezeichne ich also die richtige Anleitung, welche die Seele des Spielenden möglichst zur Liebe zu dem hinführt wodurch er, Mann geworden, allein die vollendete Meisterschaft in seiner Kunst erreichen kann. Wie schon gesagt, sehet nun zu ob wenigstens bis hierher meine Erörterung euren Beifall hat.

KLEINIAS: Wie sollte sie nicht?

DER ATHENER: Nun müssen wir aber das was wir Bildung und Erziehung nennen noch erst genauer bestimmen. Denn oft sagen wir eben, um die Erziehung irgend Jemandes von uns zu tadeln oder zu loben, daß er Eine Erziehung habe und der Andere ohne Erziehung und Bildung sei, obschon der Letztere dabei wohl zu den im Kleinhandel und in der Schiffsreederei oder sonstigen in ähnlicher Art in hohem Grade ausgebildeten Leuten gehören kann, und wer nun so sich ausdrückt, der hält offenbar nicht dies für Erziehung und Bildung, sondern glaubt daß nur die von der frühesten Jugend an fortgeführte Erziehung und Heranbildung zur sittlichen Tüchtigkeit diesen Namen verdient, welche Lust und Liebe dazu einflößt ein untadelhafter Bürger zu werden, und das Geschick verleiht mit Gerechtigkeit zu herrschen und zu gehorchen. [644 St.] Diese Erziehung werden nun wir, wie mich dünkt, in genauerer Bestimmung des Wortes in unserer Erörterung einzig und allein mit diesem Namen benennen, die Anleitung zum Erwerb von Geld oder etwa Körperkraft oder irgend einer Geschicklichkeit ohne vernünftige Einsicht und Gerechtigkeit als handwerksmäßig und unedel bezeichnen und als nicht wert überhaupt Erziehung und Bildung genannt zu werden. So haben wir denn dem Mißverstande des Wortes unter uns vorgebeugt, und der Satz darf hiernach nunmehr unter uns feststehen, daß diejenigen welche auf die richtige Weise erzogen sind auch meistens tüchtige Männer werden, und man darf daher die Erziehung nicht geringschätzen, da sie vielmehr unter den größten Gütern welche den besten Menschen zu Teil werden den ersten Rang einnimmt. Und wenn sie zu Grunde geht und es möglich ist sie wieder zu erwecken, so muß hierauf ein Jeder stets und sein ganzes Leben hindurch hinarbeiten.

KLEINIAS: Richtig, wir geben dir das Alles zu.

DER ATHENER: Und längst sind wir ja doch schon dahin übereingekommen daß sittlich tüchtig Diejenigen seien welche sich selbst zu beherrschen vermögen, und schlecht die welche es nicht vermögen.

KLEINIAS: Sehr richtig gesprochen.

DER ATHENER: Wir wollen nun noch einmal was wir eben mit diesem Satze meinen genauer in Betracht ziehen. Und erlaubt mir daß ich euch dies, wenn es mir gelingen will, durch ein Gleichnis deutlich mache.

KLEINIAS: Sprich nur.

DER ATHENER: Setzen wir nicht Jeden von uns an sich als Einen?

KLEINIAS: Ja.

DER ATHENER: Aber so daß er in sich selbst zwei entgegengesetzte und unvernünftige Ratgeber trägt, welche wir Lust und Schmerz nennen?

KLEINIAS: So ist es.

DER ATHENER: Und zu diesen beiden ferner noch Vorstellungen über das Zukünftige, deren gemeinsamer Name Erwartung ist, und von denen die Erwartung eines Schmerzes den besonderen Namen Furcht und die des Gegenteils den besonderen Hoffnung führt? Und zu dem Allen kommt denn endlich die vernünftige Überlegung darüber, was von demselben das Bessere und was das Schlimmere ist, und diese heißt, so bald sie zur Meinung des Staates erhoben ist, Sitte und Gesetz.

KLEINIAS: Nur mit Mühe zwar folge ich dir noch, indessen fahre fort, als ob ich dir folgte.

MEGILLOS: Auch mir geht es gerade so.

DER ATHENER: So wollen wir uns denn die Sache folgendermaßen vorstellen. Wir wollen jedes von uns lebendigen Wesen als eine sogenannte Marionette ansehen, welche die Götter, sei es bloß zu ihrem Spielzeug, sei es zu einem ernsteren Zwecke, gebildet haben, denn das wissen wir so recht eigentlich nicht. Das aber wissen wir, daß die eben genannten Regungen in uns gleichsam wie innere Drähte oder Schnüre uns leiten und, wie sie einander entgegengesetzt sind, einander entgegenwirkend uns zu entgegengesetzten Handlungen hinziehen, und daß eben hierin der Unterschied von Tugend und Laster beschlossen liegt. Einem dieser Züge nun, sagt die Vernunft, müsse ein Jeder folgen, sich nie von ihm losmachen und dagegen dem aller anderen Drähte widerstreben, [645 St.] und dies sei die goldene und heilige Leitung der vernünftigen Überlegung, welche auch den Namen des gemeinsamen Staatgesetzes führt, die andern Drähte seien hart und eisern, dieser hingegen, weil er von Gold ist, geschmeidig, und überdies seien die anderen auch unter sich selbst wieder von der verschiedensten Art. Man müsse demnach jener schönsten Leitung, welche eben das Gesetz ausübt, stets zu Hülfe kommen, denn da die vernünftige Überlegung zwar eine schöne, aber auch eine milde und nicht gewaltsame Führerin ist, so bedürfe sie auch der Unterstützung, damit der goldene Draht in uns aller anderen Drähte Herr werde. Und so wäre denn wohl diese bildliche Darstellung der Tugend, welche uns mit Marionetten vergleicht, gerechtfertigt, und wenigstens bis zu einem gewissen Grade hin klarer gemacht was das Sichselbstüberwinden und Sichselbsterliegen besagen will, und was den Staat und den Einzelnen anbetrifft, daß der Letztere, nachdem er die richtige Ansicht über diese Züge aus sich selber gewonnen, auch nach ihr sein Leben einrichten, der Staat aber, nachdem er, sei es von den Göttern oder von eben Jenem der diese richtige Ansicht gewonnen dieselbe überkommen hat, sie als Gesetz hinstellen und nach ihr seinen inneren Verkehr sowie den mit anderen Staaten regeln müsse. Und so möchte auch Tugend und Laster genauer von uns zergliedert sein, und nachdem dies deutlicher geworden, werden vielleicht auch die Erziehung und die sonstigen öffentlichen Einrichtungen besser ans Licht treten und demzufolge auch Alles was den geselligen Verkehr mittelst der Trinkgelage anbetrifft und was man geneigt sein könnte für einen allzu geringfügigen Gegenstand zu halten als daß es nicht unnütz sein sollte viele Worte über ihn zu verlieren, aber von dem sich doch vielleicht bald ergeben wird daß er einer solchen Länge der Behandlung nicht unwürdig ist.

KLEINIAS: Wohl gesprochen, und so laß uns denn zu Ende führen was nur immer unserer gegenwärtigen Unterhaltung angemessen ist.

DER ATHENER: Sprich also, wenn wir diese Marionette berauscht werden ließen, in welchen Zustand würden wir sie dadurch versetzen?

KLEINIAS: In welcher Absicht fragst du das?

DER ATHENER: Noch in gar keiner weiteren Absicht, sondern ich will eben überhaupt nur wissen, in welchen Zustand die Berauschung sie versetzt. Doch will ich noch deutlicher auszusprechen suchen was ich meine. Folgendes ist der Gegenstand meiner Frage, ob nicht der Genuß des Weines Freude und Schmerz, Zorn und Liebe heftiger erregt?

KLEINIAS: Ja, und zwar um Vieles.

DER ATHENER: Wie aber ist es mit den Sinneswahrnehmungen, Erinnerungen, Vorstellungen und der Einsicht? Regt er diese eben so in höherem Grade an oder verläßt dies Alles den völlig der sich bis zur Trunkenheit überfüllt?

KLEINIAS: Ja, es verläßt ihn völlig.

DER ATHENER: Und gerät er nicht in denselben Seelenzustand in dem er sich befand als er noch ein unmündiges Kind war?

KLEINIAS: Allerdings.

DER ATHENER: Am Allerwenigsten wird er also dann seiner selbst mächtig sein?

[646 St.] KLEINIAS: Ja.

DER ATHENER: Und bei wem dies der Fall ist, der befindet sich nach unserer Behauptung in dem niedrigsten Zustande der Sittlichkeit.

KLEINIAS: Bei Weitem.

DER ATHENER: Es wird also, wie es scheint, nicht bloß der Greis zum zweiten Male zum Kinde, sondern auch der Betrunkene.

KLEINIAS: Du hast ganz Recht, Freund.

DER ATHENER: Gibt es nun wohl irgend eine Rücksicht, welche uns zu überzeugen vermöchte daß man diesen Brauch mitmachen und nicht vielmehr mit allen Kräften nach Möglichkeit fliehen müsse?

KLEINIAS: Es scheint eine solche zu geben, du wenigstens behauptest es ja und warst ja eben bereit uns dies auseinanderzusetzen.

DER ATHENER: Du erinnerst richtig, und ich bin auch jetzt noch dazu bereit, da ja ihr eurerseits euch willig geäußert habt mich anzuhören.

KLEINIAS: Warum sollten wir nicht, und wäre es auch aus keinem anderen Grunde als um des Wunderlichen und Seltsamen willen, daß ein Mensch sich vorsätzlicher Weise in den allerschlechtesten Zustand hineinstürzen sollte?

DER ATHENER: Du meinst der Seele? Nicht wahr?

KLEINIAS: Ja.

DER ATHENER: Wie aber, lieber Freund, wenn Einer in einen schlechten Zustand des Körpers sich hineinstürzte und Magerkeit, Häßlichkeit und Schwäche auf sich nähme? Sollten wir uns nicht auch darüber wundern wenn Einer vorsätzlicher Weise hiezu gelangt?

KLEINIAS: Wie sollten wir nicht?

DER ATHENER: Wie aber? Glauben wir daß Diejenigen welche von freien Stücken zum Arzte gehen, um sich Arzneimittel geben zu lassen, nicht wissen daß sie kurze Zeit darauf und mehrere Tage hindurch in einen solchen Körperzustand versetzt werden daß sie, wenn er immer fortwähren sollte, den Tod vorziehen würden? Oder wissen wir nicht daß die welche die Turnplätze besuchen und die Übungen auf denselben mitmachen anfänglich dadurch matt und schwach werden?

KLEINIAS: Alles das wissen wir.

DER ATHENER: Und doch auch dies, daß sie sich allem diesem freiwillig um des daraus hervorgehenden Nutzens willen unterziehen?

KLEINIAS: Vollständig.

DER ATHENER: Muß man aber nicht hinsichtlich alles dessen was sonst Brauch ist eben so denken?

KLEINIAS: Ja wohl.

DER ATHENER: Demnach also auch über den Besuch der Trinkgelage, wenn anders dies hierin richtig gedacht heißt?

KLEINIAS: Wie sollte es nicht?

DER ATHENER: Und wenn sich nun dabei ergibt daß er uns einen um Nichts geringeren Nutzen gewähre, als das Vorhergenannte dem Körper, so hat er schon von vorne herein dadurch einen Vorzug vor der Heilung und Übung des letzteren daß diese mit Schmerzen verbunden ist, er aber nicht.

KLEINIAS: Du hast Recht, es sollte mich aber doch wundern wenn wir einen solchen Nutzen hierin zu entdecken vermöchten.

DER ATHENER: Eben dies also muß ich jetzt, wie es scheint, zu zeigen versuchen. Sage mir also: vermögen wir nicht zwei einander so ziemlich entgegengesetzte Arten von Furcht zu erkennen?

KLEINIAS: Welche meinst du denn?

DER ATHENER: Diese: Einmal fürchten wir doch ein Übel dessen Eintreten wir erwarten?

KLEINIAS: Ja.

DER ATHENER: Sodann aber fürchten wir doch oft auch die Meinung Anderer, indem wir glauben für schlecht gehalten zu werden, wenn wir etwas Tadelnswürdiges tun oder sagen. [647 St.] Diese Furcht nun nenne ich, und ich glaube auch Alle, Scham.

KLEINIAS: Richtig.

DER ATHENER: Diese beiden Arten von Furcht nun meinte ich. Von ihnen aber ist die eine den Schmerzen und der anderen Art von Furcht entgegengesetzt, entgegengesetzt aber auch den meisten und größten Arten von Freuden.

KLEINIAS: Du hast vollkommen Recht.

DER ATHENER: Wird nun nicht ein Gesetzgeber, so gut wie jeder Andere der auch nur irgend etwas taugt, diese Furcht in höchsten Ehren halten und, indem er sie Scham nennt, die ihr entgegengesetzte Hoffnung und Zuversicht mit dem Namen der Unverschämtheit belegen und für das größte Übel erklären welches den Einzelnen sowie den Staat betreffen kann?

KLEINIAS: Du hast Recht.

DER ATHENER: Rettet uns nun diese Art Furcht nicht sowohl aus vielen anderen großen Gefahren als uns auch, Eins gegen das Andere gehalten, Nichts in so hohem Grade im Kriege Sieg und Rettung verschafft? Denn zweierlei Dinge sind es doch welche zum Siege führen, die Zuversicht gegen die Feinde und die Furcht vor übler Nachrede von Seiten der Freunde.

KLEINIAS: So ist es.

DER ATHENER: Furchtlos also und furchtsam zugleich muß ein Jeder von uns werden; in welcher von beiden Beziehungen das Eine und in welcher das Andere, haben wir unterschieden.

KLEINIAS: Ja wohl.

DER ATHENER: Und wenn wir nun irgend Jemanden furchtlos machen wollen, so werden wir dies nur dadurch bewerkstelligen können, daß wir ihn der Furcht vor vielerlei Schrecknissen aussetzen, und werden die gesetzlichen Bräuche darnach einrichten.

KLEINIAS: Offenbar.

DER ATHENER: Und ebenso wenn wir Einen auf die rechte Weise furchtsam machen wollen, müssen wir ihn da nicht Anlässen zur Unverschämtheit aussetzen und ihm dadurch Übung verschaffen im Kampfe gegen seine Lüste den Sieg davonzutragen? Oder kann Jemand anders, als dadurch daß er die Feigheit in sich bekämpfen und besiegen lernt, vollendet in der Tapferkeit werden, während er, unerfahren und ungeübt in solchen Kämpfen, kaum halb das sein wird was er in Bezug auf diese Tugend sein könnte? Und in der Besonnenheit sollte er es zur Vollendung bringen können, ohne gegen vielerlei Lüste und Begierden welche zur Unverschämtheit und Ungerechtigkeit verleiten mit Vernunft, Tätigkeit und Geschick im Spiel wie im Ernst angekämpft und gesiegt zu haben, sondern trotzdem daß er sich Nichts von allen diesen Dingen versucht hat?

KLEINIAS: Das hätte freilich keine Wahrscheinlichkeit.

DER ATHENER: Wie nun weiter? Hat irgend ein Gott den Menschen einen furchteinflößenden Trank gegeben, so daß, je mehr man von ihm trinkt, man um so mehr mit jedem Zuge sich für unglücklich hält und sich vor allem Gegenwärtigen und Zukünftigen fürchtet und zuletzt, [648 St.] wenn man auch sonst der Beherzteste aller Menschen ist, ganz in Furcht aufgeht, jedoch, wenn man seinen Rausch ausgeschlafen hat und nicht von Neuem von dem Getränke zu sich nimmt, wieder der Alte wird?

KLEINIAS: Wo sollten wir, lieber Freund, in aller Welt einen solchen Trank suchen?

DER ATHENER: Gewiß nirgends. Gesetzt aber, er wäre irgendwo vorhanden, könnte dann wohl Etwas dem Gesetzgeber zum Gewinn der Tapferkeit bessere Dienste leisten? Könnten wir ihm über denselben nicht unbedingt Folgendes sagen: höre, Gesetzgeber, magst du nun den Kretern oder sonst wem Gesetze zu geben haben, wünschtest du wohl nicht vor allen Dingen die Tapferkeit oder Feigheit deiner Mitbürger einer Probe unterwerfen zu können?

KLEINIAS: Nun, das würde ja offenbar Jeder bejahen.

DER ATHENER: Und ferner eine sichere und nicht mit großen Gefahren verbundene? Oder umgekehrt?

KLEINIAS: Auch darin wird jeder beistimmen, daß die erstere vorzuziehen ist.

DER ATHENER: Würdest du dich also nicht eines solchen Trankes bedienen, um sie Schrecknissen auszusetzen und ihr Benehmen bei denselben auf die Probe zu stellen, und so den einen Teil von ihnen durch Aufmunterungen, Erinnerungen und Ehrenauszeichnungen dahin zu bringen daß sie furchtlos werden, dagegen jeden der sich nicht dir Folge leistend so benehmen würde wie du es ihm vorschreibst mit Schmach und Schande belegen? Und würdest erst den welcher die Übung wacker und mannhaft durchgemacht hat straflos entlassen, jeden Anderen aber zur Strafe ziehen? Oder würdest du dich überhaupt dieses Trankes nicht bedienen, wenn du auch sonst Nichts daran auszusetzen wüßtest?

KLEINIAS: Wie sollte er ihn verschmähen, lieber Freund?

DER ATHENER: Wenigstens wäre das eine Übung, lieber Freund, welche im Vergleiche mit denen die man jetzt anstellt erstaunlich leicht sowohl bei Einem wie bei Mehreren, ja bei so Vielen als man nur immer wollte, sich vornehmen ließe; und gleichviel ob Einer für sich allein in der Stille, und in schamhafter Verborgenheit, weil er von der Ansicht ausgeht, er dürfe sich nicht eher damit sehen lassen als bis er Meister geworden, sich im Ertragen von Schrecknissen übte und zu diesem Zwecke anstatt tausend anderer Sachen nur diesen Trank sich anschaffte, oder ob er im Vertrauen auf sich selbst weil er durch Naturanlage und Übung hinlänglich darauf vorbereitet zu sein glaubt, sich nicht scheute mit mehreren Trinkgenossen sich zu üben und sich zu zeigen wie er die unvermeidliche sinnesändernde Wirkung des Getränkes zu meistern und überwinden versteht, so daß er keinen einzigen groben Verstoß aus Mangel an sittlicher Haltung beginge, vielmehr vermöge seiner sittlichen Tüchtigkeit beständig sich gleich bliebe, sich jedoch, ehe es bis zum letzten Zuge gekommen, aus Furcht vor der Niederlage welche das Getränk zuletzt allen Menschen beibringt von dannen machte, so würde er Recht daran tun.

KLEINIAS: Gewiß, denn auch bei der letzteren Handlungsweise würde er Besonnenheit an den Tag legen. [649 St.]

DER ATHENER: Laßt uns denn also weiter zum Gesetzgeber sprechen: nun hat freilich, Gesetzgeber, ein furchterregendes Getränk den Menschen weder ein Gott gegeben noch wir selbst eines erfunden, denn die Zaubertränke rechne ich nicht, gibt es nun aber wohl nicht einen Trank welcher Furchtlosigkeit und übergroße Zuversicht, und zwar zur Unzeit und zu ungehörigen Dingen, hervorruft? Oder meinst du nicht?

KLEINIAS: Es gibt einen, dürfte er antworten, nämlich den Wein.

DER ATHENER: Hat nun dieser nicht überhaupt die entgegengesetzten Wirkungen von denen des so eben vorausgesetzten Trankes? Denn den Menschen welcher ihn trinkt macht er doch gleich im Anfang heiterer als er zuvor war, und je mehr derselbe von ihm genießt, desto mehr erfüllt er ihn mit frohen Hoffnungen und mit vermeintlicher Kraft? Und endlich wird doch ein solcher Zecher dergestalt voll von Freimut und Beredsamkeit, gerade als ob nur Weises von seinem Munde ausgehen könnte, und wird dergestalt frei von aller Furcht daß er ohne Bedenken jedes Beliebige sagt und auch tut? Jeder, denke ich, wird uns das zugeben.

KLEINIAS: Sicherlich.

DER ATHENER: Wir wollen uns nun daran erinnern daß wir vorhin behauptet haben, zwei Dinge müßten in unseren Seelen gepflegt werden, einmal die Erlangung der größtmöglichen Beherztheit und Zuversicht, andererseits aber die der größtmöglichen Furcht.

KLEINIAS: Du meinst diejenige, glaube ich, welche du Scham nanntest.

DER ATHENER: Du hast es ganz richtig behalten. Da man aber in der Tapferkeit und Furchtlosigkeit sich in Gefahren und Schrecknissen üben muß, so laßt uns sehen ob nicht zur Pflege der entgegengesetzten Eigenschaften auch die entgegengesetzten Verhältnisse erforderlich sind.

KLEINIAS: Das ist allerdings wahrscheinlich.

DER ATHENER: An Demjenigen also durch dessen Einwirkung wir insgemein ganz vorzugsweise zuversichtlich und verwegen werden müssen wir darin geübt werden so wenig als möglich unverschämt und mit Verwegenheit erfüllt zu sein und uns vielmehr davor fürchten zu lernen daß wir jemals etwas Schändliches zu sagen oder zu dulden oder zu tun wagen.

KLEINIAS: So scheint es.

DER ATHENER: Und ist es nicht vornehmlich Folgendes wodurch wir jenes Erstere werden: Zorn, Liebe, Übermut, Unwissenheit, Gewinnsucht, Feigheit, und ferner Reichtum, Schönheit, Stärke und überhaupt Alles was uns durch Genuß berauscht und der Vernunft beraubt? Welchen Genuß aber vermöchten wir anzuführen der eine geeignetere Gelegenheit dazu darböte, einmal eine leichte und ziemlich unschädliche Prüfung und sodann auch Übung hierin vorzunehmen, als die Lust und den Scherz beim Weine, wenn anders dieser Probierstein nur mit einiger Vorsicht angewandt wird? Erwägen wir doch nur Folgendes. Ist es gefährlicher einen finstern und rohen Charakter, welcher tausenderlei Ungerechtigkeiten erzeugt, dadurch auf die Probe zu stellen daß man in Geschäftsverkehr mit ihm tritt und das Gelingen dieses letzteren dabei auf das Spiel setzt, [650 St.] oder bei einer Zusammenkunft mit ihm zur Prüfung des Dionysos? Oder wird man einen der Wollust ergebenen Menschen dadurch daß man ihm seine Töchter, Söhne und Gattinnen anvertraut prüfen und so mit Gefahr dessen was Einem das Teuerste ist seinen Charakter kennen lernen wollen? Und so würde man wohl nie damit fertig werden, wenn man alle die tausenderlei Fälle aufzählen wollte welche zeigen, um wie viel vorzüglicher es ist bei einer Lustbarkeit gelegentlich ohne Gefahr seine Beobachtungen anzustellen. Und eben dies, glaube ich, werden in Betreff dieses Gegenstandes denn auch weder die Kreter noch irgend sonst ein Mensch in Zweifel ziehen, daß diese Art gegenseitiger Prüfung sowohl angemessen sei als auch vor allen anderen Prüfungen an Einfachheit, Sicherheit und Schnelligkeit den Vorzug verdiene.

KLEINIAS: Das ist richtig.

DER ATHENER: Nun ist aber doch die Erkenntnis der natürlichen Anlagen und des Charakters menschlicher Seelen eins der nützlichsten Erfordernisse für diejenige Kunst welcher es obliegt dieselben zu pflegen. Das ist aber doch, wie ich glaube, nach unserer Ansicht die Staatskunst. Nicht wahr?

KLEINIAS: Ja wohl.

ZWEITES BUCH



[652 St.] DER ATHENER: Nun müssen wir aber, wie es scheint, noch weiter untersuchen, ob Trinkgelage, wenn man die richtige Anwendung von ihnen macht, bloß diesen Vorteil gewähren, daß sie Gelegenheit zur Prüfung unserer Charaktere geben, oder ob noch sonst irgend ein erheblicher Nutzen in ihnen enthalten ist, welcher eine recht ernstliche Erwägung verdient. Was sagen wir also dazu? Er ist in ihnen enthalten, wie mich unsere Untersuchung ahnen läßt, in welcher Art und Weise aber, wollen wir sehen, indem wir darauf achten uns durch dies Ahnen nicht täuschen zu lassen.

KLEINIAS: So sprich denn.

DER ATHENER: Ich wünschte also daß ihr es euch ins Gedächtnis zurückrufen möchtet, was wir unter der richtigen Erziehung glaubten verstehen zu müssen. [653 St.] Denn ihre Erhaltung ist, wie mich wenigstens jetzt bedünken will, von der richtigen Anordnung solcher Gesellschaften abhängig.

KLEINIAS: Das will viel sagen.

DER ATHENER: Ich behaupte nämlich daß Lust und Unlust der Kinder erste, daß es die recht eigentlich kindlichen Empfindungen seien, und daß Tugend und Untugend zuerst in dieser Gestalt in die Seele eintreten, ja daß es noch ein Glück ist wenn vernünftige Einsicht und bleibende richtige Vorstellungen Einem auch nur erst gegen das Alter hin zu Teil werden. Vollkommen freilich ist ein Mensch erst dann wenn er zum Besitz dieser und aller in ihnen begriffenen Güter gelangt ist. Unter Erziehung verstehe ich daher die Tugend in der Gestalt in welcher die Kinder sie zuerst empfangen, wenn nämlich eben, noch ehe sie die Vernunft zu gebrauchen im Stande sind, Lust und Liebe so wie Schmerz und Haß auf die rechte Weise in ihren Seelen erregt werden. Wenn sie aber sodann als Erwachsene dieselbe zu gebrauchen gelernt haben und dann eben in Folge jener ihnen zu Teil gewordenen richtigen und zweckmäßigen Gewöhnung diese Regungen in ihnen mit derselben übereinstimmen, so schließt diese Übereinstimmung die gesamte Tugend ein, denjenigen Teil von der letzteren aber welcher in der empfangenen richtigen Pflege von Lust und Unlust besteht, in Folge deren man gleich von Anfang an bis zum Ende haßt was hassens-, und liebt was liebenswert ist, ich sage, wenn man eben dies in der Darstellung absonderte und eben hierauf die Erziehung sich erstrecken ließe, so würde man wenigstens meiner Meinung nach die richtige Bezeichnung wählen.

KLEINIAS: Auch uns, Freund, scheint sowohl das früher als auch das jetzt über die Erziehung Gesagte richtig zu sein.

DER ATHENER: Gut denn. Von dieser richtigen Leitung von Lust und Unlust, welche sie empfangen haben und in welcher die Erziehung besteht, pflegen nun aber die Menschen im Verlauf ihres Lebens in vielen Stücken wieder abzuweichen und lassen sich verderben, und die Götter, des zu Mühsal geborenen Menschengeschlechts sich erbarmend, haben ihm daher nicht bloß zur Erholung von derselben ihrer Feste stete Wiederkehr verordnet, sondern auch die Musen und Apollon den Musenführer und den Dionysos zu Festgenossen gegeben, damit die Menschen so durch das Zusammensein mit den Göttern an den Festen wenigstens die Erziehung wieder in ihren früheren Zustand zurückführen lernten. Wir müssen nun aber zusehen, ob das was unsere Rede nun künden will wirklich der Natur der Sache gemäß als wahr anzusehen ist, oder ob es anders damit steht. Sie behauptet nämlich jetzt daß, geradezu gesagt, Alles was noch jung ist seinem Körper und seiner Stimme keinen Augenblick Ruhe zu lassen vermag, sondern sich beständig zu bewegen und Töne hervorzubringen sucht und bald hüpft und springt und vor Lust gleichsam scherzhafte Tänze aufführt, bald in alle möglichen Töne ausbricht. Die andern lebenden Wesen nun, behaupten wir ferner, haben keine Empfindung für die Ordnung oder Unordnung in den Bewegungen, für das was wir Rhythmus und Harmonie nennen, für uns aber sind eben dieselben Götter welche, wie schon gesagt, [654 St.] uns zu Festgenossen gegeben sind, auch zugleich die Geber des Gefühls für Rhythmus und Harmonie und der Freude an denselben geworden, vermöge deren sie ja unsere Bewegungen und Reigen leiten, wenn sie uns zu Gesängen und Tänzen zusammenscharen, und sie haben auch den Namen Chorreigen, der naturgemäß von der freudigen Erregung hergeleitet ist, eingeführt.

Nehmen wir nun fürs Erste dies an? Setzen wir fest daß unsere erste Erziehung von den Musen und vom Apollon herrühre, oder nicht?

KLEINIAS: Wir setzen es fest.

DER ATHENER: Also nehmen wir an daß wer des Chortanzes unkundig auch ein Mensch ohne Erziehung, ein wohlerzogener dagegen hinlänglich in demselben geübt ist?

KLEINIAS: Wie anders?

DER ATHENER: Nun schließt aber der Chorreigen als Ganzes doch Tanz und Gesang in sich.

KLEINIAS: Notwendig.

DER ATHENER: Ein Mensch von guter Erziehung muß also gut und schön zu singen und zu tanzen verstehen.

KLEINIAS: So scheint es.

DER ATHENER: Laßt uns nun sehen, was wiederum von dieser Behauptung der eigentliche Kern ist.

KLEINIAS: Wie meinst du das?

DER ATHENER: Ein solcher singt schön, behaupten wir, und tanzt schön. Wir wollen doch wohl damit zugleich sagen daß auch der Inhalt seines Gesanges und Tanzes schön sein soll? Oder nicht?

KLEINIAS: Ja, auch diese Bestimmung wollen wir hinzufügen.

DER ATHENER: Wie aber? Wenn Einer das Schöne für schön und das Häßliche für häßlich hält und die Dinge auch demgemäß behandelt, wird ein Solcher uns dann für besser erzogen gelten in Bezug auf Chortanz und Musik, oder Derjenige welcher zwar mit dem Körper und der Stimme das als schön Erkannte jedesmal genügend auszuführen im Stande wäre, aber weder am Schönen seine Freude hätte noch das Unschöne haßte? Oder würde nicht der Erstere sogar in dem Falle den Vorzug verdienen wenn er mit der Stimme und dem Körper das Schöne zur Darstellung zu bringen nicht besonders geschickt wäre, wohl aber in Lust und Schmerz, indem er an Allem was schön ist Freude, über Alles was unschön dagegen Verdruß empfände?

KLEINIAS: Gewiß, Freund, dessen Erziehung verdient bei Weitem den Vorzug.

DER ATHENER: Wenn also wir Drei von dem Schönen des Gesanges und Tanzes Kenntnis besitzen, so können wir auch richtig beurteilen ob Jemand Erziehung und Bildung hat oder nicht. Wenn wir aber jene Kenntnis nicht haben, so werden wir auch das nie zu durchschauen im Stande sein, ob sich überhaupt eine Überwachung der Erziehung anstellen läßt und wo dieselbe stattfindet. Ist's nicht so?

KLEINIAS: Allerdings.

DER ATHENER: Wir werden also demnächst Spürhunden gleich wiederum Folgendem nachspüren müssen: der Schönheit der Stellungen und Körperwendungen, der Tonweise, des Gesanges und des Tanzes. Denn wenn uns Dies entginge, so dürfte uns auch alle weitere Erörterung über die rechte Erziehung, sei es bei den Griechen oder den Nichtgriechen, vergeblich sein.

KLEINIAS: Ja wohl.

DER ATHENER: Wohlan denn! Welche Körperwendung oder Tonweise soll man als schön bezeichnen, sprich, [655 St.] wenn ein tapferer Charakter und ein feiger ganz in der gleichen Not sich befänden, wird es da wohl geschehen daß auch ihre Körperwendungen und die Töne welche sie ausstoßen die gleichen sind?

KLEINIAS: Wie sollten sie? Wird es doch nicht einmal ihre Farbe sein.

DER ATHENER: Ganz recht, mein Freund! Doch in den musischen Künsten gibt es nur Körperwendungen, Tanzbewegungen und Töne, denn sie beruhen auf Rhythmos und Harmonie, so daß man, wenn man sich richtig ausdrücken will, wohl von gutem Rhythmos und guter Harmonie, aber nicht von einer schönen Färbung der Tanzbewegungen und Töne sprechen darf, wie es die Chorlehrer in bildlicher Redeweise tun. Von den Tanzbewegungen und Gesangesweisen des Tapfern und Feigen aber sind und heißen mit Recht die des Ersteren schön und die des Letzteren häßlich, und überhaupt, um nicht lange Redens hierüber zu machen, alle Körperbewegungen und Töne ohne Ausnahme, welche mit einer Tugend der Seele oder mit irgend einem körperlichen Vorzuge sei es im wirklichen Leben oder in der Nachbildung verbunden sind, setzen wir als schön, alle welche mit irgend einem Gebrechen zusammenhängen dagegen allemal als das Gegenteil.

KLEINIAS: Mit Recht schlägst du das vor, und wir wollen dies so festsetzen.

DER ATHENER: Ziehen wir dann auch noch dies in Betracht, ob wir wohl Alle an allen Chortänzen uns auf die gleiche Weise erfreuen oder ob viel daran fehlt?

KLEINIAS: Es fehlt ungeheuer viel daran.

DER ATHENER: Was bezeichnen wir nun wohl als Dasjenige was uns dabei zum Irrtum verleitet? Ist denn etwa nicht Dasselbe für uns Alle schön, oder es ist es zwar Dasselbe, scheint es uns aber nicht zu sein? Denn das wird doch wohl Keiner behaupten wollen, daß je die Tänze des Lasters schöner sein könnten als die der Tugend, oder daß er selbst an den Tanzweisen des Lasters seine Freude habe, andere Leute aber an der entgegengesetzten Muse. Freilich behaupten die meisten Leute, die Vollkommenheit der musischen Kunst bestehe in ihrer Fertigkeit den Seelen Genuß zu bereiten. Aber diese Meinung ist nicht zu dulden, ja es ist nicht einmal sie auszusprechen erlaubt, vielmehr ist es wahrscheinlicher daß uns Folgendes dabei irre führt.

KLEINIAS: Was denn?

DER ATHENER: Da die Tänze Nachahmungen des Benehmens welches verschiedenartige Charaktere bei verschiedenartigen Handlungen und Glückszufällen äußern in der Art sind daß alle einzelnen Tänzer selbst die Rolle derselben spielen, so müssen Diejenigen deren Benehmen, wie es von Natur ist oder durch Gewohnheit geworden oder endlich durch Beides ist, die Darstellung durch Sprache, Gesang und selbst bloßen Tanz entspricht sich auch darüber freuen und es loben und als schön bezeichnen. Diejenigen aber deren Natur oder Charakter oder Gewohnheit sie widerspricht können weder Freude darüber hegen noch Lob äußern, sondern es nur häßlich nennen. Nun gibt es aber auch Leute welche von guten Naturgaben, aber von schlechten Angewohnheiten sind, oder umgekehrt, [656 St.] und diese werden gerade das Gegenteil von dem loben was ihnen Freude macht. Sie werden nämlich von gewissen Darstellungen dieser Art sagen daß sie zwar Vergnügen gewährten, aber unsittlich seien, und werden sich anderen Leuten gegenüber, welchen sie Einsicht zutrauen, schämen ähnliche Körperbewegungen zu machen, schämen ähnliche Weisen zu singen, als wenn sie dergleichen im Ernste für schön erklärten, innerlich aber werden sie sich daran freuen.

KLEINIAS: Du hast ganz Recht.

DER ATHENER: Bringt es nun nicht Dem welcher an Darstellungen des Schlechten in Tänzen oder Tonweisen seine Freude hat auch irgendwie Schaden, und dagegen Dem welcher an den entgegengesetzten seine Lust empfindet Nutzen?

KLEINIAS: Wahrscheinlich.

DER ATHENER: Ist es bloß wahrscheinlich oder muß es nicht notwendig eben so sein als wenn Einer unter schlechte Menschen geraten wäre und dann ihre lasterhaften Sitten nicht etwa verabscheute, sondern sie recht annehmlich fände und sich an ihnen erfreute, wenn er auch dabei in scherzhafter Weise (und) halb im Schlafe ihre Schlechtigkeit tadelte? Es muß nämlich doch wohl notwendig ein Jeder den Leuten mit denen er gerne verkehrt, seien es nun gute oder böse, ähnlich werden, auch wenn er sich schämen sollte sie zu loben? Und nun, welches größere Gut oder Übel, das uns mit aller Notwendigkeit aus Etwas erwachsen müßte, würden wir wohl anzuführen im Stande sein?

KLEINIAS: Ich glaube, keines.

DER ATHENER: Wo sich also wohleingerichtete Gesetze bereits finden oder auch in Zukunft gegeben werden sollten, glauben wir nun daß es da in bezug auf die Erziehung in den Musenkünsten und den Genuß welcher durch sie bereitet wird ganz den mit der schöpferischen Fähigkeit in ihnen Begabten überlassen bleiben darf, eben das was dem Künstler selbst bei seinen Schöpfungen in Ansehung des Rhythmos, der Tonweise oder der Worte gefällt, auch die Söhne von Bürgern eines wohlgeordneten Staates als Knaben und Jünglinge in Chören zu lehren und sie so, je nachdem es der Zufall mit sich bringt, zu guten oder zu schlechten Sitten anzuleiten?

KLEINIAS: Nein, das hätte durchaus keinen Sinn, und wer sollte es daher billigen können?

DER ATHENER: Und doch ist gerade dies heutzutage wohl in allen Staaten gestattet mit Ausnahme von Ägypten.

KLEINIAS: Und was bestehen denn in Ägypten hierüber für Gesetze?

DER ATHENER: Ihr werdet sie mit Verwunderung hören. Schon längst ist nämlich bei den Ägyptern, wie es scheint, die Behauptung welche wir eben jetzt aufstellen als richtig anerkannt, man müsse die jungen Männer in den Staaten an schöne Tanzbewegungen und an schöne Tonweisen gewöhnen. Und nachdem sie nun dies bestimmt hatten, geben sie auch bei ihren Festfeiern zu erkennen, welches und wie beschaffen etwa dieselben seien, und es war weder Malern noch allen sonstigen Darstellern von Gestalten oder was sonst dahin einschlägt, gestattet und ist es auch heute noch nicht, weder in der bildenden noch in der gesamten musischen Kunst Neuerungen zu machen oder irgend etwas von den hergebrachten vaterländischen Sitten Abweichendes zu erfinden. Wenn man also die daselbst vor zehntausend, ich meine das nicht so wie man wohl so unbestimmt diesen Ausdruck gebraucht, sondern buchstäblich vor zehntausend Jahren gearbeiteten Gemälde und Bildsäulen betrachtet, [657 St.] so wird man finden daß sie weder irgendwie schöner noch häßlicher als die jetzt gelieferten, sondern mit derselben Kunst gearbeitet sind.

KLEINIAS: Das ist wunderbar.

DER ATHENER: Vielmehr ein Beweis ausgezeichneter Gesetzgebung und Staatsklugheit, und wenn man auch manches Andere dort finden kann was Tadel verdient, so ist doch Das was die Musenkunst anlangt nicht bloß richtig, sondern auch in so fern beachtenswert als es möglich war, wenn man nur mit Zuversicht dabei zu Werke ging, feste Gesetze in diesen Dingen zu geben und Tonweisen welche das Richtige naturgemäß ausdrücken festzustellen. Dies dürfte aber wohl das Werk eines Gottes oder eines von einem Gott begeisterten Mannes sein, wie denn auch dort die durch diese lange Zeit hindurch bewahrten Weisen für Schöpfungen der Isis gelten. Wenn daher, wie gesagt, der Gesetzgeber nur auf irgend welche Weise das Richtige in solchen Dingen sich anzueignen vermag, so darf er es auch getrost zum Gesetz und zur Richtschnur erheben, denn die Sucht der Lust und des Schmerzes, welche sich in immer neuen Melodien auszusprechen sucht, hat denn doch schwerlich einen so großen Einfluß um durch das Gesetz geschützte Weisen, bloß weil sie sie veraltet schilt, umzustürzen, dort wenigstens scheint sie keineswegs dazu im Stande gewesen zu sein, sondern gerade das Gegenteil stattgefunden zu haben.

KLEINIAS: Es wird durch das eben von dir angeführte Beispiel glaublich daß es sich allerdings so verhält.

DER ATHENER: Werden wir nun hiernach den rechten Gebrauch der Musik und der Scherze des Tanzes nicht zuversichtlich in folgender Weise bestimmen dürfen? Wir freuen uns doch wenn wir uns glücklich fühlen, und wiederum, wenn wir fröhlich sind so fühlen wir uns auch glücklich? Ist's nicht so?

KLEINIAS: Ja, so ist es.

DER ATHENER: Und wahrlich, wenn wir uns so über irgend Etwas freuen, so läßt uns Dies nicht stille sitzen.

KLEINIAS: So ist es.

DER ATHENER: Nämlich in solchem Falle sind unsere Jünglinge sogleich von selber zum Tanze bereit, wir Älteren aber glauben uns geziemend zu benehmen indem wir dann ihnen zuschauen und uns an ihren Spielen und ihrer Festeslust mitfreuen, weil uns nun einmal die erforderliche Behendigkeit nunmehr dazu fehlt, deren Verlust wir mit sehnsüchtigem Verlangen bedauern, und so stellen wir denn wenigstens Wettkämpfe unter ihnen an und setzen Preise darauf, wer es am Besten versteht uns in der Erinnerung unsere Jugendjahre aufs Neue zu erwecken.

KLEINIAS: Sehr wahr.

DER ATHENER: Können wir also wohl jenes gegenwärtig in Betreff der festlichen Spiele allgemein gangbare Urteil für so ganz grundlos erklären, daß man Den für den Geschicktesten halten und ihm den Sieg zuerkennen müsse welcher uns am Meisten Genuß und Vergnügen bereitet? Denn wenn es uns überhaupt verstattet ist bei dergleichen Gelegenheiten uns an solchen festlichen Spielen zu ergötzen, dann muß doch wohl auch Der welcher den meisten Leuten am Meisten Freude gemacht hat auch am Meisten geehrt werden und den Siegespreis davontragen? [658 St.] Heißt das nicht richtig geurteilt und gehandelt, wenn man diesen Weg einschlägt?

KLEINIAS: Vielleicht.

DER ATHENER: Doch, Bester, laß uns nicht zu leicht so urteilen, sondern erst die Sache nach ihren besonderen Seiten etwa folgendermaßen betrachten. Gesetzt, es stellte Jemand einmal nur so im Allgemeinen einen Wettkampf an, ohne genauer zu bestimmen ob in körperlichen Übungen oder in musischen Leistungen oder in den Künsten des Reiters und des Wagenlenkers, sondern er versammelte alle Bürger, setzte Preise aus und verkündigte ihnen dann daß Jeder welcher Lust hätte auftreten möge mit Andern, lediglich um die Ergötzung der Zuschauer und sonach darum in die Wette zu kämpfen, wer sie am Meisten, gleich viel auf welche Weise, vergnügen und, weil er eben diese gesteckte Aufgabe am Besten erreicht hätte, zum Sieger erklärt werden würde, welcher den Preis davon trägt unter allen Kämpfern am Meisten gefallen zu haben, was, meinen wir wohl, werde auf eine solche Aufforderung erfolgen?

KLEINIAS: In wie fern meinst du?

DER ATHENER: Vermutlich würde dann doch wohl der Eine, wie Homer, sich mit einer Rhapsodie hören lassen, der Zweite mit einem Liede zur Zither, der Dritte mit einer Tragödie, und ein Vierter mit einer Komödie, und es wäre selbst gar nicht wunderbar wenn Einer mit Vormachen von Kunststücken am Ehesten den Preis davontragen zu müssen vermeinte. Wenn nun also solche und noch tausend andere Kämpfer aufträten, vermöchten wir da zu bestimmen, wem rechtmäßig der Preis gebührte?

KLEINIAS: Seltsame Frage! Denn wer soll dir das beantworten, als könnte er es wissen, bevor er jeden dieser Kämpfer selbst mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört hätte?

DER ATHENER: Schon gut! Wollt ihr mir denn nur erlauben daß ich diese seltsame Frage selber auch seltsam beantworte?

KLEINIAS: Warum nicht?

DER ATHENER: Wenn die noch kleinen Kinder urteilen sollten, so würden sie Den welcher sich mit Kunststücken hat sehen lassen für Den erklären welcher ihnen am Meisten gefallen. Nicht wahr?

KLEINIAS: Wie anders?

DER ATHENER: Wenn aber die größeren Kinder, dann Den welcher mit Komödien, und die gebildeten Frauen und angehenden Jünglinge und wohl so ziemlich die Mehrzahl aller Andern Den welcher mit einer Tragödie aufgetreten ist?

KLEINIAS: Wahrscheinlich wohl.

DER ATHENER: Einen Rhapsoden aber welcher die Ilias und Odyssee oder Etwas aus den hesiodischen Gedichten gut vortrüge würden vielleicht wir Greise am Liebsten hören und ihm bei Weitem den Vorzug zuerkennen. Wer hat denn nun rechtmäßig gesiegt? Das ist jetzt die Frage. Nicht wahr?

KLEINIAS: Ja.

DER ATHENER: Offenbar werden ich und ihr hierauf notwendigerweise antworten: Diejenigen welche von unseren Altersgenossen für Sieger erklärt worden sind. Denn der Brauch, daß sie entscheiden, scheint uns unter allen so eben besprochenen Staaten insgesamt und überall der Beste zu sein.

KLEINIAS: Wie anders?

DER ATHENER: So viel gebe mithin auch ich jenem allgemeinen Urteil zu, daß man die musische Kunst nach dem Genusse den sie gewährt abschätzen müsse, aber nur nicht nach dem welchen sie dem Ersten Besten gewährt, sondern jene Muse werde die schönste sein [659 St.] welche die Edelsten und Gebildetsten erfreut und vor Allem Den welcher an Tugend und Bildung über Alle hervorragt; und zwar behaupte ich daß die Richter in diesen Dingen deshalb der Tugend bedürfen weil sie nicht bloß im Übrigen alle mögliche Einsicht, sondern auch Tapferkeit besitzen müssen. Denn ein Richter welcher in Wahrheit diesen Namen verdient wird doch nicht erst sein Urteil dem Publikum ablernen und sich von dem Lärme der Menge und seiner eigenen Unwissenheit bei demselben betäuben lassen dürfen, und eben so wenig, wenn er bereits selbst das Richtige erkennt, aus Unmännlichkeit und Feigheit mit demselben Munde mit welchem er die Götter zu Zeugen seines Urteils anrief leichtsinnig wider seine Überzeugung urteilen. Denn nicht als Schüler, sondern vielmehr als Lehrer der Zuschauer, wenn es anders dem Rechte nach zugeht, sitzt der Richter da und um Denen entgegenzutreten welche denselben auf eine unziemliche Weise Genuß bereiten. Und dies war nach altem und echt hellenischem Herkommen gestattet, ganz anders als wie jetzt die Sitte in Sikelien und Italien der Masse der Zuschauer die Entscheidung überläßt und durch Aufheben der Hände den Sieger ernennt und teils die Dichter selbst, denn sie dichten nur nach dem schlechten Geschmacke ihrer Kunstrichter und überlassen es somit dem Publikum sich selber zu bilden, teils auch den Geschmack der Zuschauer selber verdorben hat. Denn während sie dadurch daß ihnen beständig edlere Charaktere als die ihrigen sind vorgeführt werden denselben verbessern sollten, begegnet ihnen jetzt durch ihre eigene Schuld gerade das Gegenteil. Was will nun aber das jetzt wieder in unserer Erörterung Dargelegte bedeuten? Sehet zu ob etwa dies.

KLEINIAS: Was denn?

DER ATHENER: Es scheint mir unsere Erörterung zum dritten oder vierten Male auf Dasselbe zurückzukommen, daß nämlich Erziehung Dies sei, wenn die Knaben zu dem hingeleitet und hingezogen würden was vom Gesetz für das Richtige erklärt wird und wovon auch die tüchtigsten und ältesten Männer vermöge der von ihnen gemachten Erfahrung erklären daß es in Wahrheit das Richtige sei. Damit also die Seele des Kindes sich nicht daran gewöhne sich in seiner Freude oder Betrübnis mit dem Gesetze und Denen die dem Gesetze gehorchen in Widerspruch zu setzen, sondern sie ganz auf dieselben Gegenstände richte wie der Greis, zu diesem Zwecke müssen die sogenannten Lieder und Gesänge nunmehr in Wahrheit Zaubergesänge für die Seele werden und mit allem Fleiße auf eine solche Übereinstimmung wie wir sie bereits beschrieben haben berechnet sein, weil aber die Seelen der jungen Leute den Ernst noch nicht vertragen können, deshalb sollen sie als Spiel und Sang bezeichnet und behandelt werden, gleichwie Diejenigen denen die Sorge für körperlich Schwache und Kranke obliegt [660 St.] Alles was denselben heilsam ist unter süßen Speisen und Getränken, Alles dagegen was schädlich unter bitteren ihnen zu reichen bestrebt sind, damit sie so Jenes gern nehmen, gegen Dieses aber den gebührenden Widerwillen sich angewöhnen. Ganz dem entsprechend wird denn der rechte Gesetzgeber auch die mit schöpferischer Kraft in Poesie und Musik begabten Leute dazu überreden daß sie so allein das Rechte tun, oder, wenn ihm dies nicht gelingt, sie dazu zwingen daß sie in ihren schönen und Beifall gewinnenden Werken nur besonnener, tapferer und überhaupt tugendhafter Männer Körperbewegungen und Worte durch Rhythmos und Tonweise und somit das Richtige darstellen.

KLEINIAS: Aber, beim Zeus, Freund, scheint man dir denn jetzt in den anderen Staaten so zu verfahren? Denn ich für mein Teil, so weit meine Wahrnehmung reicht, weiß Nichts davon daß das was du jetzt angibst irgendwo geschähe, außer bei uns und bei den Lakedämoniern, sondern, daß stets einige Neuerungen im Tanze, sowie überhaupt in Allem was sonst zu den musischen Künsten gehört, vor sich gehen, und zwar nicht etwa durch gesetzliche Bestimmungen, sondern durch einen ungeregelten Geschmack, der weit entfernt davon ist immer derselbe zu bleiben und an Demselben Genuß zu finden, wie du von den Ägyptern erzählst, und vielmehr jeden Augenblick wechselt.

DER ATHENER: Ganz recht, lieber Kleinias. Es wundert mich aber auch gar nicht wenn du glaubst ich habe das wonach du fragst als Etwas was jetzt in Geltung steht bezeichnen wollen, insofern mir Dies dadurch begegnet ist und ich es selbst dadurch veranlaßt habe daß ich nicht bestimmt genug meine Ansicht aussprach, sondern meine Wünsche in Bezug auf die Anordnung der musischen Kunst vielleicht so äußerte daß du mich in dieser Weise mißverstehen durftest. Und dies kommt daher, weil es durchaus nicht angenehm ist unheilbare und schon weit vorgeschrittene Schäden in den bestehenden Verhältnissen zu rügen. Indessen zuweilen ist Dies notwendig, und da auch du eben so darüber denkst, so antworte denn. Du meinst also daß die beschriebenen Einrichtungen mehr bei euch und den Lakedämoniern als bei den übrigen Hellenen bestehen?

KLEINIAS: Gewiß.

DER ATHENER: Gesetzt nun aber, sie beständen auch bei diesen, würden wir da nicht dieselben für besser als ihre gegenwärtig bestehenden Einrichtungen erklären?

KLEINIAS: Gewiß wäre es weit vorzüglicher wenn solche Einrichtungen wie sie bei den Lakedämoniern und bei uns bestehen, und die du überdies als solche bezeichnet hast wie sie sein sollen, auch bei ihnen vorhanden wären.

DER ATHENER: Doch laß sehen ob wir übereinstimmen werden. Nicht wahr, es kommt Das was bei euch in bezug auf alles zur Erziehung und musischen Kunst Gehörige gilt etwa auf Folgendes hinaus? Ihr nötiget die Dichter zu lehren daß der tüchtige Mann, besonnen und gerecht wie er ist, auch glückselig sei, gleichviel ob er groß und stark oder klein und schwach ist und ob er Reichtum besitzt oder nicht, daß vielmehr auch wer noch größere Schätze als Kinyras und Midas besäße, aber dabei ungerecht lebte, trotzdem unglücklich sein und ein elendes Dasein führen würde. Und „Nimmer gedächt' ich im Lied“, wird euer Dichter singen, wenn er anders die Wahrheit singen will, „... noch achtet' ich irgend den Mann auch", der nicht Alles was schön und löblich heißt mit Gerechtigkeit ausführt und sich aneignet, [661 St.] und auch nur ein Solcher „faßt nahe zum Wurf zielend ins Auge den Feind”, während der Ungerechte es niemals wagen wird „bluttriefenden Mord zu erblicken”, noch „obsiegen im Lauf Boreas' thrakischer Kraft”, noch ihm überhaupt irgend eins von den genannten Gütern zu Teil werden dürfte. Was nämlich die Leute gewöhnlich so nennen verdient nicht diesen Namen. Denn gewöhnlich gilt für das vornehmste Gut die Gesundheit, für das zweite die Schönheit und für das dritte der Reichtum, und außerdem werden dann noch tausenderlei andere Güter aufgeführt, ein scharfes Gesicht und Gehör und überhaupt die möglichste Schärfe aller Sinnesempfindungen, vor Allem aber der Besitz unbeschränkter Herrschergewalt, um tun zu können was einem beliebt. Und für den Gipfel aller Glückseligkeit würde es gelten wenn Jemand so rasch als möglich in den Besitz aller dieser Dinge gelangte und dann noch obendrein in demselben unsterblich würde. Ihr aber und ich, wir behaupten doch wohl daß dies Alles insgesamt zwar für gerechte und fromme Männer höchst schätzbare, aber für ungerechte eben so Alles insgesamt, von der Gesundheit an, höchst verderbliche Besitztümer seien, und daß mithin auch Sehen und Hören und Empfinden und überhaupt Leben, wenn man als unsterblich für alle Zeit im Besitz aller jener sogenannten Güter, aber ohne den der Gerechtigkeit und überhaupt jeglicher Tugend wäre, das größte Übel, und ein möglichst kurzes Leben in einem solchen Falle noch ein geringeres Übel sein würde. Eben dies nun was ich verlange werdet ihr, denke ich, die Dichter bei euch überreden und zwingen zu lehren und so unter Hinzufügung der entsprechenden Rhythmen und Tonweisen eure Jugend zu erziehen. Ist es so? Sehet wohl zu. Denn ich für meine Person behaupte mit Bestimmtheit daß die genannten Übel für die Ungerechten Güter und für die Gerechten Übel und die Güter für die Guten dies wirklich, für die Schlechten aber das Gegenteil sind. Wie ich nun fragte, sind wir, ihr und ich, hierin einverstanden oder nicht?

KLEINIAS: In einigen Stücken, scheint es mir, wohl, in anderen aber auf keine Weise.

DER ATHENER: Ist nun vielleicht das der Punkt worin ich euch nicht überzeuge, daß Jemand der bei Unsterblichkeit Gesundheit, Reichtum, Herrschaft ohne Aufhören und, ich setze mit Rücksicht auf euch noch hinzu, auch ausgezeichnete Stärke und Tapferkeit besäße, und im Übrigen von allen sogenannten Übeln frei wäre, dabei aber nur Ungerechtigkeit und Zügellosigkeit in sich trüge, ich sage, daß Jemand der ein solches Leben führte nicht etwa glücklich, sondern vielmehr handgreiflich elend sein würde?

KLEINIAS: Du vermutest ganz richtig.

DER ATHENER: Gut denn! Was werden wir denn hierbei zunächst in Betracht zu ziehen haben? [662 St.] Scheint euch Einer der tapfer, stark, schön, reich ist und sein ganzes Leben hindurch Alles tun kann was er begehrt denn nicht etwa notwendigerweise schmachvoll zu leben, wenn er dabei ungerecht und zügellos ist? Doch das werdet ihr mir wohl einräumen, daß ein solches Leben eine Schmach und Schande ist.

KLEINIAS: Gewiß.

DER ATHENER: Aber auch das, daß dies Leben für ihn selbst von Übel wäre?

KLEINIAS: Das nicht mehr in gleicher Weise.

DER ATHENER: Und gar daß er ein unlustiges und ihm selber gar nicht zuträgliches Leben führen würde?

KLEINIAS: Ja, wie könnten wir wohl das noch zugeben?

DER ATHENER: Wie ihr es könntet? Wenn ein Gott, ihr Freunde, so scheint es, uns einhellig macht, denn jetzt freilich sind wir ziemlich weit auseinander. Denn mir scheint dies nun einmal so notwendig sich so zu verhalten daß es mir kaum so gewiß ist wie Kreta sei eine Insel. Und wenn ich Gesetzgeber wäre, so würde ich die Dichter und alle Staatsangehörigen zu nötigen suchen daß sie eben so lehrten, und ich würde so ziemlich die größte Strafe Dem auferlegen welcher im Lande die Behauptung ausspräche daß es Menschen geben könne die ein unsittliches und doch dabei angenehmes Leben führten, oder daß ein Anderes das Nützliche und Gewinnbringende und ein Anderes das der Gerechtigkeit mehr Entsprechende sei, und noch zu vielen anderen ganz von den, wie es scheint, jetzt bei den Kretern und Lakedämoniern und somit auch wohl bei anderen Leuten gangbaren Behauptungen abweichenden Urteilen würde ich meine Mitbürger anleiten. Denn sagt mir doch um des Zeus und Apollo willen, ihr besten der Männer, wenn wir eben diese beiden Götter selbst, die euch eure Gesetze gegeben haben, fragten, ob das gerechteste Leben auch das angenehmste sei oder ob es zwei verschiedene Lebensweisen gebe, von denen die eine die angenehmste und die andere die gerechteste ist, und sie uns dann antworteten, das Letztere sei der Fall, so würden wir sie, wenn wir anders richtig verfahren wollten, doch wohl weiter fragen, welche von beiden man denn als glücklich bezeichnen müsse, die welche das gerechteste, oder die welche das angenehmste Leben führt? Und wenn sie uns dann erwiderten: die welche das angenehmste, so wäre das eine seltsame Antwort. Doch ich will so Etwas nicht von Göttern gesagt haben, sondern vielmehr nur von unseren Vätern und Gesetzgebern, und meine vorhergehende Frage also vielmehr an einen von ihnen gestellt haben und annehmen, er habe mir geantwortet daß wer das angenehmste Leben führt der Glückseligste sei. Dann würde ich fortfahren: wünschtest du es denn nicht, Vater, daß ich so glücklich sein solle als möglich? Denn beständig ermahntest du mich dazu, und hörtest gar nicht auf, daß ich so gerecht als möglich leben solle. Und damit würde denn, denke ich, Der welcher jene obige Behauptung aufgestellt hat, mag es nun ein Gesetzgeber oder sonst einer unserer Vorväter sein, ungereimt erscheinen und in Verlegenheit geraten, wie er mit sich selber in Übereinstimmung bleiben möge. Wenn er aber vielmehr erklärte, daß das gerechteste Leben das glückseligste sei, so würde, glaub' ich, doch wohl Jeder der dies hörte weiter forschen, worin denn das Gute und Schöne innerhalb des gerechten Lebens besteht, welches das Angenehme noch überbietet und dieserhalb vom Gesetze anempfohlen wird. [663 St.] Und welches Gut kann denn dem Gerechten zu Teil werden das gesondert von allem Genusse ist? Laß sehen. Ist Ruhm und Lob bei Göttern und Menschen zwar etwas Gutes und Schönes, aber nicht Angenehmes, und die Schande das Gegenteil? Nicht im Geringsten, lieber Gesetzgeber, werden wir antworten. Oder ist es unangenehm Niemandem Unrecht zu tun und es von Niemandem zu erleiden, aber gut und löblich, das Entgegengesetzte aber angenehm, jedoch schimpflich und schlecht?

KLEINIAS: Wie sollte es?

DER ATHENER: Somit ist denn die Ansicht welche Angenehmes und Gerechtes, Gutes und Schönes nicht trennt, wenn zu nichts Anderem, so doch dazu gut um einen starken Beweggrund zu dem Entschlusse herzugeben ein frommes und gerechtes Leben zu führen, so daß ein Gesetzgeber keinen tadelnswerteren und zweckwidrigeren Grundsatz aufstellen könnte als den welcher die Richtigkeit dieser Ansicht leugnet. Denn Niemand wird sich leicht überreden lassen irgend Etwas zu tun was nicht mehr Freude als Schmerz im Gefolge hat. Was man nun freilich erst von ferne sieht erscheint besonders Kindern, aber auch wohl überhaupt Allen in einem düsteren Nebel, und da soll denn nun der Gesetzgeber dieses Dunkel vertreiben und uns im Gegenteil zu einem klaren Urteil verhelfen und soll uns auf alle mögliche Art, durch Gewöhnung, Lobsprüche und Gründe, davon überzeugen daß das Gerechte und das Ungerechte als solche auf die Wirkung in die Ferne berechnete Malereien zu betrachten seien, wobei das Bild des Ungerechten dem des Gerechten gegenübergestellt ist, so daß, mit den Augen des selber Ungerechten und Lasterhaften angesehen, das erstere angenehm, das letztere aber im höchsten Grade widrig, mit denen des Gerechten dagegen von beiden in allen Stücken das Gegenteil erscheint.

KLEINIAS: Das ist klar.

DER ATHENER: Welchem von beiden Urteilen werden wir nun aber die Wahrheit und die höhere Geltung zuschreiben, dem des schlechten oder dem des guten Charakters?

KLEINIAS: Notwendig doch wohl dem des guten.

DER ATHENER: Notwendigerweise muß also das ungerechte Leben nicht bloß schmachvoller und schlechter, sondern in der Tat auch unangenehmer als das gerechte und fromme Leben sein.

KLEINIAS: So scheint es wenigstens nach der gegenwärtigen Auseinandersetzung, ihr Freunde.

DER ATHENER: Und gesetzt, es verhielte sich dies selbst nicht so wie es dieselbe so eben erwiesen hat, so dürfte doch ein Gesetzgeber der nur irgend etwas taugt sich auch wohl erkühnen zur Beförderung der Tugend selbst eine Lüge gegen die Jünglinge auszusprechen, und er könnte dann schwerlich je eine ersinnen welche nützlicher als diese wäre und mehr als sie zu bewirken vermöchte daß sie nicht gezwungen, sondern freiwillig Alles was recht ist tun.

KLEINIAS: Schön ist die Wahrheit, Freund, und unumstößlich, doch scheint es nicht leicht von ihr zu überzeugen.

DER ATHENER: Das mag wohl sein. Und doch war es leicht der Erzählung von jenem Sidonier, die doch so unwahrscheinlich klingt, und tausend anderen Glauben zu verschaffen.

KLEINIAS: Welche meinst du?

DER ATHENER: Daß einst aus ausgesäten Zähnen bewaffnete Männer entsprossen seien. Das ist denn doch ein starker Beleg dafür daß es einem Gesetzgeber schon gelingen werde [664 St.] die Gemüter der jungen Leute von Allem was er nur versucht zu überzeugen. Daher soll er auch bei seinen Erfindungen keine andere Rücksicht nehmen als darauf, woran er glauben machen muß um dadurch dem Staate am Meisten zu nützen, und zu diesem Zweck muß er jedes nur mögliche Mittel ausfindig zu machen suchen welches in irgend einer Art darauf hinwirkt daß diese ganze Gemeinschaft der Bürger über den Gegenstand jener seiner Erfindungen ihr ganzes Leben hindurch stets dieselbe Sprache führe in Liedern wie in Sagen und Reden. Wenn es nun aber euch irgendwie anders als so erscheint, so steht euch Nichts im Wege eure Einwände dagegen vorzubringen.

KLEINIAS: Nun, ich glaube nicht daß Einer von uns Beiden hiergegen je etwas wird einwenden können.

DER ATHENER: So wird es denn also meine Aufgabe sein das zunächst hieran sich Anschließende darzulegen. Ich behaupte nämlich daß alle Chöre, deren es eben drei Gattungen gibt, den noch jungen und zarten Gemütern der Kinder sowohl alle sonstigen edlen Grundsätze, welche wir bereits durchgegangen haben und noch durchgehen werden, durch ihren Vortrag einsingen und gleichsam einzaubern sollen, als auch daß ihre Hauptlehre darin bestehen muß daß wir mit der Behauptung, das angenehmste und das tugendhafteste Leben sei nach dem Ausspruche der Götter dasselbe, nicht bloß vollkommen die Wahrheit sagen, sondern auch von derselben diejenigen welche zu überzeugen uns obliegt viel besser überzeugen werden als von jedem irgendwie abweichenden Ausspruch.

KLEINIAS: Ich muß dir beistimmen.

DER ATHENER: So werden wir denn am Passendsten zuerst den aus Knaben bestehenden Musenchor auftreten lassen, um mit allem Eifer jene Lehren der ganzen Bürgerschaft vorzusingen, als zweiten aber einen Chor von Jünglingen unter 30 Jahren, welcher den Päan zum Zeugen für die Wahrheit des von ihm Vorgetragenen anrufen und ihn anflehen soll daß er der Jugend gnädig sei und ihr den Glauben an dieselbe gewähre. Es müssen aber drittens auch noch die Männer über dreißig bis zu sechzig Jahren singen, die noch Älteren aber, denn sie besitzen nicht mehr die Fähigkeit des Gesanges, mögen als übrig geblieben gelten, um dieselben Grundsätze in Form alter Sagen aus göttlicher Eingebung vorzutragen.

KLEINIAS: Was für Chöre, Freund, sollen denn jene dritten sein? Denn wir verstehen noch nicht genau genug was du bei ihnen im Auge hast.

DER ATHENER: Gleichwohl sind es gerade diese auf welche so ziemlich die meisten bisherigen Erörterungen hinzielen.

KLEINIAS: Das gibt uns noch nicht Licht genug. Versuche es also uns noch deutlicher zu machen.

DER ATHENER: Wir sagten, wenn ich mich recht erinnere, am Anfang der vorliegenden Erörterungen, daß Alles was jung ist vermöge seiner feurigen Natur sich nicht ruhig zu verhalten im Stande sei, weder mit dem Körper noch mit der Stimme, sondern stets regellos singe und springe, daß das Gefühl für die richtige Ordnung in beiderlei Bewegungen allen andern lebendigen Geschöpfen versagt und allein der menschlichen Natur zu Teil geworden sei, daß man ferner die Ordnung in den körperlichen Bewegungen Rhythmos, [665 St.] die der Verbindung des Hohen und Tiefen in der Stimme aber Harmonie und die Vereinigung von Beiden endlich Chorreigen nenne. Die Götter, sagten wir dann weiter, hätten sich unser erbarmt und uns zu Mittänzern und Reigenführern den Apollon und die Musen gegeben, und dazu führten wir dann, wenn ihr euch dessen noch erinnert, als Dritten noch den Dionysos an.

KLEINIAS: Gewiß erinnern wir uns dessen noch.

DER ATHENER: Von dem Chor der Musen und dem des Apollon ist nun bereits das Nötige gesagt, wir müssen nun auch von dem dritten noch übrigen Chore, dem des Dionysos, sprechen.

KLEINIAS: Wie? Erkläre dich genauer. Denn wenn man das so plötzlich hört, muß einem ein Chor des Dionysos, der aus bejahrten Leuten besteht, gar wunderlich vorkommen. Wie, es sollten also die Männer über dreißig, ja fünfzig Jahre und bis zum sechzigsten hin ihm Reigentänze aufführen!

DER ATHENER: Du hast ganz Recht, und so bedarf es denn allerdings einer genaueren Bestimmung darüber wie ein solcher Chor dennoch vernunftgemäß sein kann.

KLEINIAS: Gewiß.

DER ATHENER: Gesteht ihr mir denn noch zu, was ihr mir vorher eingeräumt habt?

KLEINIAS: Welches meinst du?

DER ATHENER: Daß männiglich, Alt und Jung, Freier und Sklave, Mann und Weib, einander und der ganze Staat dem ganzen Staate ohne Unterlaß die besprochenen Grundsätze gleichsam wie Zauberformeln in den verschiedenartigsten Variationen und mannigfaltigsten Formen einsingen müsse, so daß sie dieser Lieder nicht satt werden und sie mit steter Lust singen.

KLEINIAS: Wie sollte man dir nicht zugestehen daß es so geschehen müsse?

DER ATHENER: Aber bei welcher Gelegenheit soll uns nun jener edelste Teil der Bürgerschaft, welcher durch sein Alter und zugleich durch seine Einsicht unter allen Staatsangehörigen das größte Vertrauen genießt, diese schönsten aller Lieder singen, um dadurch am Meisten dem Staate Heil zu bringen? Oder sollen wir so töricht sein ihn dabei ganz außer Betracht zu lassen, der doch in den Schönsten und ersprießlichsten Gesängen die allergrößte Wirksamkeit auszuüben im Stande ist?

KLEINIAS: Nein, das ist unmöglich zufolge dem eben hervorgehobenen Gesichtspunkt.

DER ATHENER: Auf welche Weise dürfte dies also am Schicklichsten anzustellen sein? Meint ihr nicht auch, etwa auf folgende?

KLEINIAS: Nun?

DER ATHENER: Jeder der älter wird bekommt doch eine starke Scheu vor dem Singen, und es vergeht ihm immer mehr die Lust daran, und wenn er einmal nicht umhin kann, so wird er sich doch um so mehr Dessen schämen je älter und besonnener er wird, ist es nicht so?

KLEINIAS: Freilich.

DER ATHENER: Und gar erst recht würde dies der Fall sein, wenn er sich im Theater und vor aller Welt aufrecht hinstellen und singen sollte. Und wenn dann noch dazu solche Männer gezwungen würden, wie die um den Sieg kämpfenden Chöre, sich der vom Chorlehrer vorgeschriebenen Lebensweise zu unterwerfen und bei schmaler Kost mit hungrigem Magen zu singen, so würden sie gewiß vollends mit Unlust und Scham sich dazu verstehen und allen möglichen Widerwillen dagegen an den Tag legen. [666 St.]

KLEINIAS: Ja, so würde es ganz notwendigerweise kommen.

DER ATHENER: Wie wollen wir sie denn aufmuntern und zum Singen geneigt machen? Wie wäre es wenn wir ein Gesetz aufstellten, daß zunächst Knaben bis zu achtzehn Jahren den Wein ganz und gar nicht kosten sollen, indem wir sie lehren daß sie nicht zu dem Feuer welches bereits in ihrem Körper und ihrer Seele glüht noch neues Feuer hinzuleiten dürfen, ehe sie noch an anstrengende Arbeiten zu gehen unternehmen? So würden wir denn die aufbrausende Art der Jugend mit der gehörigen Vorsicht berücksichtigt haben. Sodann dem Jünglinge bis zum dreißigsten Jahre hin würde der Genuß des Weines bereits erlaubt werden, jedoch mit Maßen und so daß er sich einer häufigen Anwendung desselben und des Rausches durchaus zu enthalten hätte. Wenn der Mann jedoch so in die Vierzig tritt, mag er, nachdem er es bei den gemeinschaftlichen Mahlzeiten sich hat schmecken lassen, mit den andern Göttern auch den Dionysos zu dem Feste und der Lust der Greise einladen, welche dieser Gott den Menschen zum Schutze gegen den mürrischen Ernst des Alters verlieh, indem er ihnen den Wein als Heilmittel gab, so daß wir von Neuem wieder jung werden und allen Unmut vergessen und die Härte unseres Charakters wie Eisen im Feuer erweicht und geschmeidig wird. Fürs erste also, wird in einer solchen Stimmung nicht Jeder bereitwilliger dazu werden und sich minder davor schämen, nicht vor Vielen, aber doch vor einer mäßigen Anzahl, und nicht vor Fremden, wohl aber vor Landsleuten zu singen und die wiederholt besprochenen Zauberformeln vorzutragen?

KLEINIAS: Und zwar um Vieles.

DER ATHENER: Wenn wir also die Alten auf diese Weise dazu reizten uns zu Gefallen am Gesange Teil zu nehmen, so würde hierin nichts Unschickliches liegen?

KLEINIAS: Keineswegs.

DER ATHENER: Was für einen Ton sollen nun aber die Männer anstimmen und was soll ihre Muse sein? Offenbar müssen doch wohl ihre Lieder passend für sie gewählt sein?

KLEINIAS: Das versteht sich.

DER ATHENER: Welche möchten nun aber für gottbegeisterte Männer passend sein? Etwa die der Chöre?

KLEINIAS: Wir wenigstens, Freund, und auch die Lakedämonier möchten wohl schwerlich ein anderes Lied zu singen im Stande sein als die welche wir in den Chören gelernt haben und die uns so geläufig geworden sind.

DER ATHENER: Natürlich, denn es hat euch in der Tat an Gelegenheit gefehlt die schönste aller Gesangarten euch anzueignen. Denn ihr habt eine Verfassung wie sie sich für ein Heerlager und nicht wie sie sich für Stadtbewohner eignet, sondern eure Jugend gleicht einem Trupp Füllen, die in einer Herde zusammenweiden, und Niemand nimmt das seine, wenn es sehr wild und störrisch ist, von dieser Herde mit Gewalt hinweg und gibt es auf seine eigene Hand zum Berittenen und erzieht es selbst durch Streicheln und Zähmung und durch Anwendung alles dessen was zur Kindererziehung zweckdienlich ist, [667 St.] um so nicht bloß einen Krieger aus ihm zu machen, sondern auch einen Mann der den Staat zu verwalten und Städte zu lenken vermag und eben auch, wie wir im Anfange sagten, einen tüchtigeren Krieger abgibt als die des Tyrtäos sind, indem er zu allen Zeiten und an allen Orten und für Privatleute so gut wie für den ganzen Staat die Tapferkeit unter den Tugenden nicht als das erste, sondern erst als das vierte Besitztum ehrt.

KLEINIAS: Abermals, Freund, setztest du unsere Gesetzgeber, ich weiß nicht wie, sehr herunter.

DER ATHENER: Wenn ich das tue, mein Guter, so geschieht es nicht mit Absicht, sondern wohin die Untersuchung uns führt, dahin müssen wir ihr auch folgen, wenn es euch recht ist. Gibt es also eine Muse welche schöner ist als die der Chöre und der öffentlichen Schauspiele, so müssen wir auch versuchen sie Denen eigen zu machen welche, wie gesagt, dieser letzteren sich schämen und dagegen streben mit der welche die schönste ist in Gemeinschaft zu treten.

KLEINIAS: Allerdings.

DER ATHENER: Muß nun nicht mit allen Dingen die von irgend einer Annehmlichkeit begleitet sind zuvörderst die Beschaffenheit verbunden sein, daß entweder eben dies selber das Wünschenswerteste an ihnen ist oder aber eine innere Richtigkeit oder drittens irgend ein Nutzen? Wie ich sage daß Essen und Trinken und überhaupt alle Nahrung von einer solchen begleitet sind, daher wir denn auch von dem Genusse derselben reden; und wenn wir von ihrer Richtigkeit und ihrem Nutzen sprechen, so meinen wir damit, daß alles Dasjenige von Dem, was uns aufgetragen wird, welches uns jedesmal an demselben gesund, eben dies auch das Richtigste daran ist.

KLEINIAS: Ganz recht.

DER ATHENER: Und eben so ist auch mit dem Lernen eine Annehmlichkeit, nämlich der Genuß den man an ihm findet, verbunden, was aber die innere Richtigkeit und den Nutzen, die Güte und den Wert desselben bewirkt, das ist die Wahrheit.

KLEINIAS: So ist es.

DER ATHENER: Und nun ferner, wenn alle die Künste welche wegen der Darstellung des ähnlichen nachahmende heißen diesen ihren Zweck wirklich erreichen, würde man da nicht, wenn es als Folge damit verbunden ist daß in ihren Werken ein Genuß enthalten ist, eben dies mit vollem Recht eine Annehmlichkeit an ihnen nennen?

KLEINIAS: Ja.

DER ATHENER: Dagegen die innere Richtigkeit solcher Werke würde wohl eher durch ihre Gleichheit, um es mit einem Worte auszudrücken, mit den Urbildern an Größe und Beschaffenheit bestimmt werden als durch den Genuß?

KLEINIAS: Richtig.

DER ATHENER: Also wird man nach dem Genuß nur Das allein mit Recht beurteilen dürfen was weder Nutzen bringt, noch Wahrheit zeigt, noch Ähnlichkeit darstellt, aber auch keinen Schaden tut, sondern lediglich in Dem sein Ziel findet was jene anderen Eigenschaften bloß begleitet, in der Annehmlichkeit; denn diese Annehmlichkeit kann nur dann im eigentlichen Sinn Genuß genannt werden wenn sie keine derselben nach sich zieht.

KLEINIAS: Also bloß den unschädlichen Genuß nennst du überhaupt Genuß?

DER ATHENER: Ja, Genuß und eben so auch heiteren Scherz nenne ich ihn nur dann wenn er weder einen Schaden noch einen Nutzen bringt welcher einer ernsten Sorgfalt oder der Rede wert wäre.

KLEINIAS: Du hast vollkommen Recht.

DER ATHENER: Dürfen wir nun nicht dem jetzt Erörterten zufolge behaupten daß jegliche Nachahmung nicht nach dem Genusse und nach der unrichtigen Vorstellung zu beurteilen sei, [668 St.] und eben so jegliche Gleichheit? Denn nicht darum, ob Jemand diese oder jene Vorstellung darüber hat oder an Diesem oder Jenem Genuß findet, ist das Gleiche durchaus gleich und das Ebenmäßige ebenmäßig, sondern weil das seine wahre Beschaffenheit so ist, und schlechterdings aus keinem anderen Grunde.

KLEINIAS: Unstreitig.

DER ATHENER: Behaupten wir nun nicht daß die gesamte musische Kunst eine nachbildende und nachahmende sei?

KLEINIAS: Wie anders?

DER ATHENER: Keineswegs also darf man es gelten lassen, wenn Jemand die musische Kunst nach dem Genusse abschätzen wollte, und darf durchaus diese, wenn es auch wohl eine solche gibt, nicht zum Gegenstande seines Strebens machen, weil sie dies nicht verdient, sondern diejenige welche durch Nachahmung des Schönen die Verähnlichung ihrer Werke mit demselben wirklich erreicht hat.

KLEINIAS: Sehr wahr.

DER ATHENER: Und für jene, unsere Greise, also, welche nach dem schönsten Gesange und der schönsten Muse suchen, wird, wie es scheint, nicht nach einer solchen zu suchen sein welche angenehm ist, sondern welche innere Richtigkeit besitzt, denn diese Richtigkeit der Nachahmung, wie gesagt, hängt davon ab ob sie das Nachgeahmte nach seiner Größe und Beschaffenheit vollkommen darstellt.

KLEINIAS: Wie anders?

DER ATHENER: Und nun muß das doch wohl Jeder hinsichtlich der musischen Kunst zugeben, daß alle ihre Schöpfungen Nachahmung und Nachbildung seien, oder sollten das nicht Dichter und Tonsetzer so gut wie Publikum und Darsteller zugeben?

KLEINIAS: Vollständig.

DER ATHENER: Folglich muß aber, wie es scheint, Jeder der bei ihrer Beurteilung nicht in Irrtum verfallen will bei jedem einzelnen dieser Werke wissen was es darstellen soll, und welches das Wesen dieses darzustellenden Gegenstandes ist. Denn wenn er dies Wesen nicht kennt, und folglich nicht weiß was jenes Werk beabsichtigt und wovon es in Wahrheit ein Abbild ist, wird er schwerlich auch die Richtigkeit im Gelingen oder aber das Verfehlen dieser Absicht durchschauen.

KLEINIAS: Gewiß, denn wie wäre das möglich?

DER ATHENER: Wer aber nicht erkennt ob die Richtigkeit der Nachahmung vorhanden ist, wird der wohl jemals im Stande sein ihre Güte oder ihren Unwert zu durchblicken? Doch ich spreche nicht deutlich genug, vielleicht sollte ich mich vielmehr deutlicher folgendermaßen ausdrücken.

KLEINIAS: Nun?

DER ATHENER: Es gibt doch tausenderlei Nachbildungen für das Auge?

KLEINIAS: Ja.

DER ATHENER: Wie, wenn nun Jemand auch bei diesen nicht wüßte was für einen Körper eine jede darstellen soll und wie dieser beschaffen ist, könnte er da wohl jemals erkennen was an ihnen richtig gearbeitet sei? Ich meine, ob sie die Maßverhältnisse des Körpers, so viel ihrer sind, und die Lage seiner einzelnen Teile haben, dergestalt daß immer das zugehörige Glied mit dem zugehörigen in der richtigen Ordnung verbunden ist, und ob sie überdies auch die Farben und Stellungen wiedergeben, oder ob dies Alles verkehrt gemacht sei. Scheint dir dies wohl jemals Einer beurteilen zu können welcher gar nicht weiß welches lebendige Wesen denn hier nachgebildet werden sollte und wie dieses beschaffen ist?

KLEINIAS: Wie sollte er!

DER ATHENER: Wie aber, wenn wir wüßten daß dies Gemälde oder diese Bildsäule einen Menschen darstellt und daß es auch alle die ihm zukommenden Teile, [669 St.] Farben und Stellungen von der Kunst erhalten hat, wissen wir damit notwendig auch sogleich schon das Weitere, ob es schön ist oder worin es etwa der Schönheit ermangelt?

KLEINIAS: Da würden ja geradezu wir Alle, Freund, Kenner des Schönen an den Bildwerken sein.

DER ATHENER: Sehr richtig gesprochen. Wird also nicht, wer über irgend welche Darstellung eines bildenden so wie eines musischen und überhaupt jedes beliebigen Künstlers ein verständiger Richter sein will, diese drei Dinge inne haben müssen: erstens zu wissen was sie darstellt, zweitens wie richtig und drittens wie gut und schön das jedesmalige Abbild in Worten, Tonweisen und Rhythmen ausgeführt ist?

KLEINIAS: So scheint es wenigstens.

DER ATHENER: Laß es uns denn nicht verdrießen die besonderen Schwierigkeiten in Betracht zu ziehen welche die Sache bei der musischen Kunst hat. Denn da man von ihr weit mehr Rühmens macht als von den Darstellungen anderer Künste, so ist auch bei ihrer Beurteilung weit größere Vorsicht als bei der von allen diesen erforderlich. Teils nämlich schadet wer hierin fehlgreift sich im höchsten Grade dadurch, weil er damit eine Vorliebe für schlechte Gesinnungen gewinnt, teils ist es höchst schwierig wahrzunehmen, weil die Dichter und Tonsetzer viel schlechtere Künstler sind als die Musen. Denn diese würden sich wohl nie so weit vergreifen daß sie Worte welche sie Männern in den Mund legten mit weiblichen Tanzbewegungen und Tonweisen begleiteten, noch auch daß, wenn sie Tonweisen und Tänze für Freie gesetzt, sie diese dann mit Rhythmen verbänden wie sie für Sklaven oder Leute von sklavischem Sinne sich eignen, oder endlich zu edlen Rhythmen und Tanzbewegungen eine Tonweise oder Worte lieferten die mit jenen Rhythmen im Widerspruch ständen. Auch würden sie schwerlich die Stimmen von Tieren, Menschen und Instrumenten, kurz alle Arten von Schall in Eins verbinden, gerade als ob eine solche Darstellung Einheit hätte. Die menschlichen Dichter und Tonsetzer aber mischen und rühren dergleichen Alles unverständig durch einander und müssen so wohl vor solchen Menschen zum Gelächter werden von denen Orpheus sagt daß sie zur wahrhaften Blüte des Genusses gediehen seien. Denn nicht genug daß diese dies Alles durch einander gemengt sehen, so reißen die Dichter und Tonsetzer andererseits auch das Zusammengehörige auseinander, indem sie bald Rhythmos und Tanz ohne Tonweise geben, und bloße Worte in Versmaße bringen, bald umgekehrt Tonweise und Rhythmos ohne Worte setzen und bloßes Zither- oder Flötenspiel anwenden. Da ist es denn freilich sehr schwer zu erkennen, was Rhythmos und Melodie ohne Worte ausdrücken wollen und was für einem nennenswerten Urbilde sie ähnlich sind. Allein von so Etwas, wobei so hoher Wert auf Geschwindigkeit und ein Spiel ohne Anstoß und auf tierische Laute gelegt und Flöten- und Zitherspiel [670 St.] auch anders als zur Begleitung des Gesanges und des Tanzes angewandt wird, kann man auch nicht anders urteilen, als daß es voll von lauter Rohheit steckt, denn die Anwendung jeder für sich ist sicherlich eine vollständige Gaukelei und Abirrung von den Musen.

So also steht es nun hiermit, wir jedoch untersuchen nicht, wozu Diejenigen von uns die bereits über dreißig Jahr, ja über die Fünfzig hinaus sind die Musen nicht, sondern wozu sie sie gebrauchen sollen, und das scheint mir denn durch das Bisherige unsere Auseinandersetzung bereits klar gemacht zu haben daß alle Fünfzigjährigen, wenn anders es ihnen wohl anstehen soll des Gesanges zu pflegen, besser ausgebildet sein müssen als es die chorische Muse erheischt. Denn notwendig müssen sie ein feines Gefühl für Rhythmos und Harmonie und Kenntnis von beiden haben, oder wie soll Einer die innere Richtigkeit eines Gesangstückes beurteilen der sich so gut wie gar nicht um das Wesen der dorischen Tonart und des Rhythmos gekümmert hat, welchen der Dichter und Tonsetzer mit ihr verband, wie will er beurteilen ob derselbe hiermit das Richtige oder das Verkehrte tat?

KLEINIAS: Offenbar wird er auf keine Weise hiezu im Stande sein.

DER ATHENER: Denn lächerlich ist es wenn die Leute aus der großen Masse sich einbilden, so viel ihrer nur mitzusingen und im Takte einher zu schreiten angehalten gewesen sind, sie vermöchten nun auch schon genügend zu beurteilen, welches Gesangstück harmonisch und rhythmisch vollendet sei oder nicht. Daß man Ersteres ja doch tun kann, ohne irgend eine Kenntnis von dem Wesen der jedesmaligen Harmonien und Rhythmen zu besitzen, erwägen sie nicht. Und doch ist des Gesangstück bei welchem diese schicklich angebracht sind von der richtigen, jedes dagegen bei welchem dies nicht der Fall ist von fehlerhafter Beschaffenheit.

KLEINIAS: Ganz notwendig.

DER ATHENER: Wie nun? Wer also, noch nicht einmal weiß was irgend ein Ding ist, wird der jemals irgend wobei wissen können wie richtig dasselbe angebracht ist oder nicht?

KLEINIAS: Was bliebe ihm dazu für ein Mittel?

DER ATHENER: Das also, wie es scheint, haben wir jetzt des Weiteren gefunden, daß die Männer welche wir jetzt aufmuntern und gewissermaßen mit ihrem eigenen Willen nötigen zu singen wohl notwendig so weit ausgebildet sein müssen, daß ein jeder von ihnen die Schritte der Rhythmen und die Tonschwingungen der Melodien zu verfolgen im Stande sei, damit sie vermöge ihres Einblicks in das Wesen der Harmonien und Rhythmen das Geeignete auszuwählen wissen was sich für Leute von solchem Alter zu singen ziemt, und sodann auch dem entsprechend singen, und so durch ihren Gesang teils sich selbst für den Augenblick einen unschuldigen Genuß bereiten, teils den jüngeren Leuten durch ihren Vorgang gesunden Geschmack an guten Sitten einflößen. Sind sie aber bis zu diesem Punkte ausgebildet, so haben sie es eben damit auch zu einer feineren Bildung gebracht als die welche die Menge erhält, und als die der Dichter und Tonsetzer selbst ist. Denn jenes Dritte, nämlich ob die Nachahmung schön oder nicht schön sei, brauchen die Letzteren gar nicht wissen, und nur die Kenntnis der Harmonien und Rhythmen dürfte denselben unerläßlich sein, für sie dagegen ist es notwendig alle drei Stücke zu kennen, damit sie die Auswahl des Schönsten und was ihm zunächst steht zu treffen im Stande sind, oder aber niemals durch den Zauber des Gesanges junge Männer zur Tugend anlocken zu können. [671 St.] Und so hat denn nun unsere Untersuchung ihren im Anfange ausgesprochenen Zweck nach Möglichkeit erreicht, nämlich zu zeigen daß unsere Verteidigung eines Chores für den Dionysos wohlbegründet sei.

Sehen wir also zu, ob sich dies bestätige. In einer solchen Gesellschaft muß es notwendig im ferneren Verlaufe des Trinkens immer stürmischer zugehen, wie wir es denn vorhin bei denen, von welchen jetzt die Rede ist, als eine notwendige Tatsache vorausgesetzt haben.

KLEINIAS: Es kann nicht anders sein.

DER ATHENER: Und ein Jeder fühlt sich da leichter als zuvor und erhebt sich über sich selbst und wird freudig und von solchem Freimut und solcher Redseligkeit erfüllt daß er gar nicht mehr auf das hört was seine Genossen sagen, und glaubt Manns genug dazu geworden zu sein sich selbst und die Anderen zu beherrschen?

KLEINIAS: Wie anders?

DER ATHENER: Sagten wir nun nicht daß, sobald dies geschieht, die Gemüter der Trinker wie Eisen im Feuer zu glühen beginnen und sich erweichen und verjüngen, so daß sie leicht zu lenken würden für Den welcher es vermag und versteht sie zu erziehen und zu bilden, gleichwie sie es in der Jugend waren? Dazu aber sei gerade wie damals wiederum der gute Gesetzgeber der Bildner, welcher Gesetze für die Trinkgelage aufstellen müsse die da geeignet wären den Trinker, welcher allzu sehr voll Hoffnung und Zuversicht geworden und alles Anstandes zu vergessen beginnt und sich der Ordnung und Abwechslung von Schweigen und Reden, des Trinkens und der Muse nicht unterwerfen will, ganz zum Gegenteil umzustimmen und dem Einbruche der tadelnswerten Zuversicht jene preiswürdigste Furcht nach Gebühr zu ihrer Bekämpfung entgegenzustellen welche wir Scham und sittliche Scheu genannt haben.

KLEINIAS: So ist es.

DER ATHENER: Und ferner, daß aber auch als Wächter und Mitarbeiter dieser Gesetze die ruhigen und nüchternen Leute den Befehl über die Trunkenen haben müßten, indem es ohne solche Führer schlimmer gegen die Trunkenheit als gegen die Feinde ohne sie zu kämpfen sei, und daß fernerhin Der welcher sich nicht bezwingen könne ihnen und den eigentlichen Führern des Dionysos, nämlich den Greisen über sechzig Jahre, zu gehorchen, eine gleiche und noch größere Schande dafür davontragen solle als wer den Führern des Ares ungehorsam sei.

KLEINIAS: Richtig.

DER ATHENER: Wenn es also so bei der Trunkenheit, wenn es so bei der Lustbarkeit zuginge, würden da nicht die Trinkgenossen mit wahrem Nutzen und noch befreundeter denn zuvor auseinandergehen und nicht, [672 St.] wie jetzt, als Feinde, ich sage, wenn sie so nach den Gesetzen das ganze Gelage hindurch mit einander verkehrten und die Trunkenen der Leitung der Nüchternen Folge leisten würden?

KLEINIAS: Gewiß, wenn es nach dieser deiner Beschreibung dabei zuginge.

DER ATHENER: Wir wollen also nicht ferner jene Gabe des Dionysos so schlechthin tadeln, als sei sie vom Übel und dessen unwert im Staate Aufnahme zu finden. Ja, es ließe sich noch mehr zu ihrer Empfehlung sagen. Scheut man sich doch gerade von dem größten Gute mit welchem uns der Gott beschenkt hat öffentlich zu reden, weil die Menschen, wenn man sich darüber ausspricht, es übel aufzufassen und verkehrt zu verstehen pflegen.

KLEINIAS: Welches meinst du denn?

DER ATHENER: Es schleicht eine Erzählung so als Sage unter dem Volke fort, daß dieser Gott von seiner Stiefmutter Hera des Verstandes beraubt worden sei, und da habe er denn nun aus Rache die Ausgelassenheit der bacchischen Feste und alle wilden und rasenden Tänze ins Leben gerufen und zu eben diesem Zwecke uns denn auch den Wein geschenkt. Ich überlasse indessen dergleichen von den Göttern Denen zu erzählen welche glauben, es lasse sich so Etwas mit Sicherheit von ihnen sagen, so viel jedoch weiß ich, daß kein lebendes Wesen mit demselben und eben so vielem Verstande zur Welt kommt als es nachher besitzt, wenn es erwachsen ist. In dieser Zwischenzeit nun, in welcher es noch nicht die ihm zukommende vernünftige Einsicht in sich trägt, tollt ein jedes und es schreit regellos, und so bald es nur aufrecht gehen gelernt hat springt und hüpft es wiederum ebenso. Ihr werdet euch aber erinnern daß wir dies für die Anfänge der musischen und gymnastischen Künste erklärten.

KLEINIAS: Wie sollten wir uns nicht dessen noch erinnern?

DER ATHENER: Dann auch wohl Dessen noch daß wir sagten, das Gefühl für Rhythmos und Harmonie habe diese Anfänge uns Menschen zu eigen gemacht, und von den Göttern seien Apollon, die Musen und Dionysos die Urheber dieses unseres Gefühles?

KLEINIAS: Gewiß.

DER ATHENER: Und eben so geht denn auch von dem Weine, so scheint es, zwar bei Anderen die Rede, daß auch er den Menschen von dem Gotte verliehen sei um sie in Raserei zu versetzen und so an ihnen seine Rache zu nehmen, bei uns dagegen nach unserer gegenwärtigen Erörterung, daß gerade als ein Mittel zum Gegenteile, nämlich um der Seele Scham und dem Körper Gesundheit und Stärke zu erwerben.

KLEINIAS: Ganz vortrefflich, Freund, hast du Alles wieder ins Gedächtnis gerufen.

DER ATHENER: Und so mag denn nun die eine Hälfte des Chorreigens abgehandelt sein, die andere aber wollen wir, je nachdem es euch gefällt, durchnehmen oder liegen lassen.

KLEINIAS: Welche meinst du denn und wie unterscheidest du beide?

DER ATHENER: Das Ganze des Chorreigens bezog sich uns doch auf das Ganze der Erziehung, und von ihm nun wieder ein Teil auf die Stimme, nämlich Rhythmos und Harmonie?

KLEINIAS: Ja.

DER ATHENER: Der andere Teil aber, welcher sich auf die Bewegung des Körpers bezieht, hat zwar mit der Bewegung der Stimme den Rhythmos gemein, aber die Körperwendung als eigen für sich, [673 St.] gerade so wie dort die Bewegung der Stimme die Tonweise.

KLEINIAS: Sehr wahr.

DER ATHENER: Die Wirkung der Stimme nun bis in die Seele hinein, welche dieselbe zur Tugend bildet, haben wir, ich weiß nicht mit welchem Recht, musische Kunst genannt.

KLEINIAS: Sicherlich mit Recht.

DER ATHENER: Was dagegen die Bewegung des Körpers betrifft, die, als bloßes Spiel ausgeübt, Tanz heißt, so haben wir, wenn sie dagegen dahin geübt wird daß sie dem Körper Tüchtigkeit verleiht, der kunstgemäßen Anleitung desselben zu ihr den Namen Turnkunst zu geben.

KLEINIAS: Sehr richtig.

DER ATHENER: Über die musische Kunst, welche wir eben bereits als die eine, schon abgehandelte und durchgenommene, so zu sagen, Hälfte des Chorreigens bezeichneten, mag denn also das Bisherige genügen. Wollen wir nun auch die andere Hälfte besprechen oder wie wollen wir es machen?

KLEINIAS: Mein Bester, da du mit Kretern und Lakedämoniern in Unterredung bist und wir die musische Kunst durchgegangen, die Turnkunst aber übrig gelassen haben, was meinst du wohl, was dir der eine wie der andere von uns auf eine solche Frage antworten wird?

DER ATHENER: Ich meine, du hast bereits deutlich genug auf sie geantwortet, indem du mir diese Frage stellst, und verstehe daß sie nicht bloß, wie gesagt, eine Antwort, sondern auch noch eine Aufforderung an mich ist die Turnkunst abzuhandeln.

KLEINIAS: Du hast es ganz richtig begriffen, und so handle denn auch darnach.

DER ATHENER: Es soll geschehen, und es wird auch gar nicht schwierig sein etwas euch Geläufiges zu besprechen. Denn ihr habt bei Weitem mehr Erfahrung in dieser Kunst als in jener.

KLEINIAS: Darin hast du wohl nicht Unrecht.

DER ATHENER: Es liegt also der Ursprung auch dieser Lustbarkeit wiederum in der naturgemäßen Gewohnheit jedes lebenden Wesens zu springen; der Mensch aber, der, wie gesagt, das Gefühl für den Rhythmos empfangen hat, zeugte und gebar den Tanz, und da der Rhythmos an die Tonweise mahnte und sie neu erweckte, so erzeugten beide in Gemeinschaft mit einander den Chorreigen und seine Lustbarkeit.

KLEINIAS: Sehr richtig.

DER ATHENER: Und den einen Teil hievon, wie gesagt, haben wir bereits durchgegangen, den andern aber wollen wir im Verlauf unserer Unterredung durchzugehen versuchen.

KLEINIAS: Ja wohl.

DER ATHENER: Zuvörderst wollen wir auf unsere Erörterung über die Trunkenheit den Schlußstein setzen, wenn es auch euch recht ist.

KLEINIAS: Was meinst du damit?

DER ATHENER: Wenn ein Staat den eben besprochenen Brauch der Trinkgelage als eine ernsthafte Sache behandeln, Gesetze und Ordnungen über ihn aufstellen und ihn so zur Übung in der Besonnenheit und Mäßigung anwenden, wenn er auf die gleiche Weise und nach denselben Grundsätzen auch die übrigen Genüsse nicht von sich ausschließen, sondern veranstalten wird, damit seine Angehörigen über sie herrschen lernen, so mag er unter solchen Bedingungen immerhin sich alle erlauben. Wenn er sie aber als bloße Ergötzlichkeit behandelt und jedem der da Lust hat und wann und mit wem er Lust hat und [674 St.] nach irgend welcher anderen Anordnung zu zechen erlaubt, so möchte ich meine Stimme nicht dahin abgeben daß hier Alle oder Einzelne je sich berauschen dürfen. Vielmehr werde ich sogar dem Gesetze der Karthager noch vor dem Brauche der Kreter und Lakedämonier den Vorzug zuerkennen, daß nämlich Keiner im Felde je Wein kosten, sondern die ganze Zeit hindurch an das Wasser sich halten solle, und daß eben so auch in der Stadt Sklavinnen und Sklaven, auch die Obrigkeiten während des Jahres in welchem sie als solche in Tätigkeit sind, desgleichen auch Steuermänner und Richter während ihrer Amtstätigkeit schlechterdings keinen Wein zu sich nehmen dürften, ferner Keiner der über irgend eine Sache von Wichtigkeit an irgend einer beratenden Versammlung Teil nehmen soll, ja überhaupt bei Tage Niemand, weder Mann noch Weib, es sei denn zur Stärkung zu körperlichen Übungen oder in Krankheiten, und auch bei Nacht dann nicht wenn sie den Zeugungsakt vornehmen wollen. Und noch gar viele andere Fälle könnte man anführen, in welchen Die welche der Vernunft und dem richtigen Gesetze folgen keinen Wein trinken werden, so daß zufolge dieser Auseinandersetzung auch vieler Weinberge kein einziger Staat bedürfen wird, sondern so gut wie für die übrigen Landeserzeugnisse und die ganze Nahrung ein festes Maß bestimmt sein muß, so würde hiernach dem Weine wohl so ziemlich das beschränkteste und geringste gesetzt werden. Dies, Freunde, mag, wenn ihr beistimmt, den Schlußstein unserer Erörterungen über den Wein bilden.

KLEINIAS: Du hast vortrefflich und ganz nach unserem Sinne gesprochen.

DRITTES BUCH


[676 St.] DER ATHENER: So viel denn also hierüber. Was mag aber wohl der Ursprung des Staatslebens gewesen sein? Möchte uns derselbe nicht etwa hieraus am Leichtesten und Besten begreiflich werden?

KLEINIAS: Woraus?

DER ATHENER: Aus eben dem woraus auch der weitere Fortgang der Staaten im Guten wie auch im Schlimmen jedesmal abzunehmen ist.

KLEINIAS: Was meinst du denn aber?

DER ATHENER: Ich meine die unendliche Länge der Zeit und der Veränderungen welche innerhalb derselben vor sich gehen.

KLEINIAS: Aber wie verstehst du das?

DER ATHENER: Laß sehen! Getrautest du wohl jemals dir ausrechnen zu können wie lange Zeit verstrichen ist seit Staaten bestehen und Menschen im Staatsverbande leben?

KLEINIAS: Nein, wahrhaftig, das wäre nichts Leichtes.

DER ATHENER: So viel aber weißt du doch, daß diese Zeit eine unendliche und unermeßliche ist?

KLEINIAS: Das allerdings.

DER ATHENER: Sind uns nun nicht tausend und aber tausend Staaten während dieser Zeit entstanden und nach demselben Maße auch wieder zerstört worden? Haben sie ferner nicht an allen Orten oft alle möglichen Verfassungen durchgemacht? Und sind sie nicht bald aus kleinen groß, bald aus großen klein, und bald schlecht aus guten und gut aus schlechten geworden?

KLEINIAS: Es kann nicht andes sein.

DER ATHENER: Von diesem Wechsel also laßt uns, wenn wir können, die Ursache ergründen, denn vielleicht macht sie uns den ersten Ursprung der Staaten und ihre weiterhin erlittenen Veränderungen klar.

KLEINIAS: Wohl gesprochen! Halte du dich denn bereit uns deine Ansichten hierüber an den Tag zu legen, so wie wir es sind dir zu folgen.

[677 St.] DER ATHENER: Wohlan! Scheinen euch die alten Sagen eine gewisse Wahrheit zu enthalten?

KLEINIAS: Welche denn?

DER ATHENER: Daß wiederholte Verheerungen des Menschengeschlechts durch Überschwemmungen, Seuchen und vieles Andere stattgefunden haben, bei denen dann nur ein geringer Teil desselben übrig geblieben sei.

KLEINIAS: All derartiges glaubt ja alle Welt.

DER ATHENER: Wohlan denn, wir wollen von den vielen nur Eine, nämlich die einst durch jene große Überschwemmung bewirkte in Betracht ziehen.

KLEINIAS: Was wollen wir denn an ihr in Betracht ziehen?

DER ATHENER: Daß Diejenigen welche damals dem Untergange entrannen so einige Hirten der Gebirge gewesen sein dürften, welche hie und da auf den Gipfeln derselben als schwache Funken des Menschengeschlechts erhalten blieben.

KLEINIAS: Offenbar.

DER ATHENER: Und Leute von solcher Art waren denn doch wohl notwendig sowohl in allen anderen Künsten unerfahren als auch namentlich in den Mitteln welche man in den Städten zur Befriedigung der Gewinnsucht und des Ehrgeizes anwendet und in allen sonstigen Ränken welche man dort gegen einander aussinnt.

KLEINIAS: Wahrscheinlicherweise wenigstens.

DER ATHENER: Wir nehmen also an daß die in den Ebenen und am Meere gelegenen Staaten sämtlich damals zu Grunde gegangen seien?

KLEINIAS: Ja.

DER ATHENER: Werden wir also nicht behaupten daß auch alle Werkzeuge und was etwa an Erfindungen von erheblicher Kunst im Staatswesen und in irgend einem anderen Zweige menschlicher Geistestätigkeit vorhanden war, damals Alles verloren gegangen ist?

KLEINIAS: Wie hätte denn, Bester, wenn dies Alles immerfort im Stande geblieben wäre wie es jetzt eingerichtet ist, jemals irgend etwas Neues erfunden werden können? Vielmehr blieb dergleichen durch eine lange Reihe von Jahrtausenden den Früherlebenden verborgen, und es sind erst tausend oder zweitausend Jahre her seitdem Einiges durch den Dädalos, Anderes durch den Orpheus, noch Anderes durch den Palamedes, die Musik vom Marsyas und Olympos, die Leier vom Amphion, und gar vieles Andere von Andern, also fast möchte man sagen erst gestern und vorgestern erfunden ward.

DER ATHENER: Weißt du, Kleinias, du hast dabei einen dir befreundeten Mann ausgelassen, der recht eigentlich erst von gestern ist.

KLEINIAS: Meinst du den Epimenides?

DER ATHENER: Freilich meine ich ihn. Denn bei Weitem überflügelt er bei euch die Erfindungen aller Anderen mit der seinen, welche zwar mit Worten Hesiod längstens angedeutet hatte, er aber nach eurer Behauptung erst eigentlich ins Werk gesetzt hat.

KLEINIAS: Allerdings ist das unsere Behauptung.

DER ATHENER: Also nehmen wir an, Folgendes sei damals, als diese Verheerung eingetreten war, der Zustand der Menschen gewesen: eine ungeheure schreckliche Einöde, eine überaus große Menge fruchtbaren Landes, aber von Tieren, da die anderen untergegangen waren, nur einiges Rindvieh und eine irgendwo etwa übrig gebliebene Ziegenart, [678 St.] und auch diese Tiere damals anfänglich nur in geringer Zahl zum Unterhalte für ihre Züchter.

KLEINIAS: Wie anders?

DER ATHENER: Ist es nun glaublich daß von den Dingen von denen unsere jetzige Unterredung handelt, Staat, Verfassung und Gesetzgebung, geradezu gesagt, auch nur eine Erinnerung damals geblieben war?

KLEINIAS: Sicherlich nicht.

DER ATHENER: Also aus jenem Zustand der Dinge ist Alles was zu unserer gegenwärtigen Einrichtung gehört hervorgegangen, Staaten, Verfassungen, Künste, Gesetze, die Fülle des Lasters und die Fülle der Tugend?

KLEINIAS: Wie meinst du?

DER ATHENER: Können wir uns denken, mein Teurer, daß die damals lebenden Menschen, welche mit den vielen Vorzügen so gut wie Mängeln des städtischen Lebens noch unbekannt waren, es wirklich zu etwas Rechtem sei es in Tugend oder in Laster gebracht?

KLEINIAS: Du hattest Recht, und wir begreifen jetzt was du willst.

DER ATHENER: Also erst im Fortgang der Zeit und mit der Vermehrung unseres Geschlechtes ist Alles in den Zustand in welchem es sich gegenwärtig befindet fortgeschritten?

KLEINIAS: Ja wohl.

DER ATHENER: Und zwar natürlich nicht auf einmal, sondern allmählich und im Verlaufe gar langer Zeit?

KLEINIAS: Auch dies konnte nicht anders sein.

DER ATHENER: Denn um von den Höhen in die Ebene hinabzusteigen, dazu war, meine ich, Allen der Schrecken noch in zu frischem Andenken.

KLEINIAS: Freilich.

DER ATHENER: Mußten nun nicht die Menschen wegen ihrer geringen Anzahl in den damaligen Zeiten begierig sein einander zu sehen? Allein Fuhrwerke oder Fahrzeuge, auf denen sie zu Lande oder zur See hätten zu einander reisen können, waren damals mit den Künsten sämtlich so gut wie ganz untergegangen. Gegenseitiger Verkehr war also, denke ich, damals nicht leicht möglich. Denn Eisen und Erz und alle Metalle waren dergestalt verschüttet daß man nicht im Stande war sie wieder auszuscheiden; und so fehlte es auch an Mitteln zum Holzfällen. Denn wenn auch hie und da wohl eine Art auf den Bergen übrig geblieben war, so waren diese doch bald durch den Gebrauch abgenutzt und zu Ende, und neue konnten nicht gemacht werden, bevor die Kunst des Bergbaues wieder zu den Menschen gelangt war.

KLEINIAS: Freilich war es nicht eher möglich.

DER ATHENER: Und wie viele Menschenalter später mag dies wohl geschehen sein?

KLEINIAS: Offenbar sehr viele.

DER ATHENER: Also werden denn auch wohl alle Künste zu denen man Eisen, Erz und alle anderen Metalle gebraucht damals eben so lange und noch länger verloren gewesen sein?

KLEINIAS: Wie anders?

DER ATHENER: Damit war denn aber auch zugleich Aufruhr und Krieg in der damaligen Zeit aus vielfältigen Gründen beseitigt.

KLEINIAS: Wie so?

DER ATHENER: Fürs Erste waren die Menschen wegen ihrer Vereinsamung liebreich und wohlwollend gegen einander gesinnt, sodann brauchten sie sich nicht um ihre Nahrung zu streiten, [679 St.] denn es war, außer vielleicht anfänglich für einige, kein Mangel an Weide, deren sie damals vorzugsweise zu ihrem Lebensunterhalte bedurften, und so fehlte es ihnen nie an Milch und Fleisch; überdies aber verschafften sie sich auch durch Jagd nicht wenig und nicht schlechte Nahrung. Und auch mit Kleidern, Lagerdecken, Wohnungen, feuerfesten und nicht feuerfesten Gerätschaften waren sie wohl versehen, denn die Künste des Töpferns und Webens bedürfen in keinem Stücke des Eisens, und diese beiden Künste gab daher Gott den Menschen, um sich vermittelst derselben jenes Alles verschaffen zu können, damit das Menschengeschlecht, wenn es in eine solche Not geriete, Gedeihen und Wachstum habe. In solcher Ausrüstung waren sie denn eben nicht arm und gerieten nicht, durch Armut gezwungen, in Zwist mit einander; andererseits konnten sie aber auch nicht reich werden, da sie kein Gold und Silber besaßen. Wo aber in einer Gemeinde weder Reichtum noch Armut eingebürgert sind, da werden denn auch wohl die Sitten am reinsten sein. Denn dort können weder Übermut noch Ungerechtigkeit noch auch Neid und Mißgunst entstehen. So waren sie denn teils aus diesem Grunde tugendhaft, teils durch das was man Sitteneinfalt nennt. Denn was sie als löblich und tadelnswert bezeichnen hörten, das hielten sie in ihrer Einfalt auch mit vollkommener Zuversicht dafür und handelten darnach, und aus solcher Art Weisheit wie man sie heutzutage findet eine Lüge dahinter zu suchen, daran dachte Niemand, sondern was man ihnen über Götter und Menschen sagte, das hielten sie für wahr und richteten ihr Leben darnach ein. Und so waren sie denn ganz und gar so geartet wie wir sie eben beschrieben haben.

KLEINIAS: Mir wenigstens und dem Megillos scheint es ebenfalls so zu sein.

DER ATHENER: Müssen wir also nicht annehmen daß diese Leute viele Menschenalter auf solche Weise zwar minder geschickt und erfahren als die vor der Flut und als die jetzt Gebornen in allen anderen und namentlich in den Kriegskünsten, wie man sich ihrer jetzt zu Lande und zur See bedient oder auch im Innern des Staates selber übt, nämlich bei dem was man Rechtshändel und Aufruhr heißt, und wobei man alle möglichen Kunstgriffe anwendet um einander zu schädigen und Unrecht zu tun, durchlebt haben werden, aber dafür einfältiger und tapferer und zugleich besonnener und in allen Stücken gerechter waren? Die Ursache davon haben wir bereits dargelegt.

KLEINIAS: Du hast Recht.

DER ATHENER: Dies Alles, und was sich sonst weiter noch hieran anschließt, soll uns nun aber zu dem Zwecke gesagt und bemerkt sein um daraus zu ersehen, [680 St.] in wie fern die damals lebenden Menschen von Gesetzen Gebrauch gemacht und was für einen Gesetzgeber sie gehabt haben.

KLEINIAS: Und vortrefflich hast du dies Alles bemerkt.

DER ATHENER: Nicht wahr, sie bedurften gar keiner Gesetzgeber und in jener Zeit pflegte man keine Gesetze zu machen? Denn die in einem solchen Zeitabschnitte Geborenen haben noch keine Schrift, sondern ihr Leben folgt nur dem Gewohnheitsrecht und den sogenannten väterlichen Bräuchen.

KLEINIAS: Wahrscheinlicherweise wenigstens.

DER ATHENER: Doch haben sie schon eine Art Staatsverfassung, und zwar auch in ähnlicher Weise.

KLEINIAS: In welcher?

DER ATHENER: So viel ich weiß, nennen Alle die in jener Zeit übliche Verfassung patriarchale Monarchie, welche auch jetzt noch an vielen Orten unter Griechen und Nichtgriechen besteht, nämlich die welche auch Homer irgendwo, indem er sie dem Lande zuschreibt wo die Kyklopen hausen, in folgenden Versen schildert:

„Dort ist weder Gesetz noch Ratsversammlung des Volkes,

Sondern All' umwohnen die Felsenhöh'n der Gebirge

Rings in gewölbten Grotten, und Jeglicher richtet nach Willkür

Weiber und Kinder allein, und Niemand achtet des Andern.”

KLEINIAS: Ihr scheint einen anmutigen Dichter an diesem eurem Homer zu besitzen, denn ich habe auch noch Anderes aus ihm vortragen hören was recht hübsch ist, wenn auch nicht Vieles, denn wir Kreter beschäftigen uns nicht viel mit ausländischen Dichtungen.

MEGILLOS: Wir Lakedämonier hingegen beschäftigen uns mit ihm, und er scheint mir alle Dichter derselben Art zu übertreffen, obschon er nicht lakonische, sondern vielmehr überall eine ionische Lebensweise schildert. Hier nun aber scheint er vortrefflich deine Behauptung zu bestätigen, indem er hier in seiner Dichtung den Urzustand der Menschen als den einer solchen Rohheit schildert.

DER ATHENER: Freilich bestätigt er sie, und so mögen wir ihn denn zum Zeugen dafür nehmen daß es eine Zeit gibt in welcher solche Verfassungen entstehen.

KLEINIAS: Wohl!

DER ATHENER: Und zwar doch wohl bei solchen Menschen die in Folge der durch solche Verwüstungen eintretenden Verödung nach einzelnen Häusern und Geschlechtern zerstreut wohnen, und bei welchen denn die ältesten die Herrschaft führen, weil dieselbe von Vater und Mutter auf sie gekommen ist, deren Führung sie, gleichwie Vögel die zu Einem Schwarme gehören, folgen und so unter dem väterlichen Herkommen und dem allerrechtmäßigsten Königtume stehen?

KLEINIAS: Allerdings.

[681 St.] DER ATHENER: Hierauf aber treten Mehrere zu größeren Gemeinwesen zusammen und wenden sich zunächst an den Abhängen der Berge dem Ackerbau zu, hegen ihre Felder mit irgend welchem Mauerwerk als Schutzwällen wider die wilden Tiere ein, und bilden so wiederum je Ein gemeinsames großes Haus.

KLEINIAS: Wahrscheinlich wenigstens wird die Sache sich so gestalten.

DER ATHENER: Und ferner, ist nicht auch Folgendes wahrscheinlich?

KLEINIAS: Nun?

DER ATHENER: Daß in diesen größeren Häusern, welche aus jenen ersten kleineren erwachsen sind, doch jedes der letzteren als eine eigene Familie bestehen bleibt, die nicht bloß ihren Ältesten zu ihrem Haupte hat, sondern auch wegen des getrennten Wohnsitzes aller dieser Familien von einander seine eigenen Sitten beibehält, die verschieden von denen aller anderen sind, weil sie von verschiedenen Eltern und Pflegern herstammen, und an welche sich Jedermann gewöhnt hat in Beziehung auf die Götter wie auf sich selbst, als an ehrbarere weil von Ehrbareren und mannhaftere als von Mannhaften stammend, und daß jedes Haus feierlich diese ihm eigenen Grundsätze Kindern und Kindeskindern einprägt und so, wie ich meine, alle bereits im Besitze von eigenen Gesetzen waren als sie in die größere Gemeinde eintraten?

KLEINIAS: Wie anders?

DER ATHENER: Und daß nun Jedem seine eigenen Gesetze gefielen, und die aller Andern weniger, das konnte doch wohl kaum anders sein?

KLEINIAS: Kaum.

DER ATHENER: So sind wir denn also, wie es scheint, so ganz unvermerkt zum Anfange der Gesetzgebung gelangt.

KLEINIAS: Freilich.

DER ATHENER: Notwendig nämlich müssen die so Zusammengetretenen bald nach dieser ihrer Vereinigung Einige aus ihrer Mitte erwählen, um die gesetzlichen Bräuche aller in Betrachtung zu ziehen und Alles was ihnen von denselben am Meisten gefällt den Häuptern, welche dieselben gleich Königen leiteten, gemeinschaftlich vorzulegen und zur Wahl zu stellen, wobei dann sie selber Gesetzgeber heißen und sodann feststellen werden wer künftig Herrscher sein soll, indem sie aus den patriarchalischen Monarchien eine Aristokratie oder auch wohl ein Königtum bilden, und so werden sie dann unter dieser veränderten Regierungsform im Staate leben.

KLEINIAS: Auf diese Art und Weise mag wohl dieser weitere Verlauf vor sich gehen.

DER ATHENER: Wir wollen aber auch noch von einer dritten Gestaltung des Staatslebens reden, in welcher ja sämtliche nur mögliche Arten und Zustände von Verfassungen und zu-gleich Staaten alle zusammen sich bilden.

KLEINIAS: Was ist denn das für eine?

DER ATHENER: Die welche Homer gleichfalls neben der zweiten angedeutet hat, indem er in folgenden Worten ihre Eigentümlichkeit bezeichnet, da wo er von dem Dardanos spricht:

„Ihn, Dardanias Stifter, denn Ilios heilige Feste

Stand noch nicht im Gefilde, bewohnt von redenden Menschen,

Sondern am Abhang wohnten sie noch des quelligen Ida.”

[682 St.] Diese Verse nämlich, eben so wie jene über die Kyklopen, entsprechen offenbar ganz der Natur der Dinge, und er singt sie aus göttlicher Eingebung. Denn auch die Dichter sind ja ein gottbegeistertes Geschlecht, und so treffen sie in ihrem Gesange mit Hülfe der Chariten und Musen jedesmal zum Teile die Wahrheit.

KLEINIAS: Sicherlich.

DER ATHENER: Laßt uns denn diese Sage die uns jetzt entgegengetreten ist noch weiter verfolgen, denn vielleicht offenbart sie uns Etwas was unserer Absicht dient. Sollen wir nicht?

KLEINIAS: Ja wohl.

DER ATHENER: Es wurde also, sagen wir, nachdem man die Gebirge verlassen in einer großen und ebenen Ebene Ilion erbaut auf einem Hügel der nicht hoch und mit vielen oben vom Ida herabströmenden Flüssen bedeckt war.

KLEINIAS: So sagt man wenigstens.

DER ATHENER: Glauben wir nun nicht daß dies erst lange Zeit nach der Flut geschehen sei?

KLEINIAS: Gewiß lange nach ihr.

DER ATHENER: Wenigstens muß damals die eben besprochene Verwüstung gewaltig in Vergessenheit geraten sein, als man so in der Nähe vieler und von den Gebirgen herabströmender Flüsse eine Stadt anzulegen wagte und sich auf Hügeln von geringer Höhe sicher glaubte.

KLEINIAS: Gewiß folgt daraus daß man durch eine überaus lange Zeit von jenem Begegnis geschieden sein mußte.

DER ATHENER: Auch viele andere Städte, sollte ich denken, waren damals schon bewohnt, da die Menschenzahl sich gemehrt hatte.

KLEINIAS: Sicher.

DER ATHENER: Sie führten ja sogar auch Krieg mit Ilion, und zwar selbst, wie es heißt, über's Meer, da Alle bereits ohne Scheu die See befuhren.

KLEINIAS: Richtig.

DER ATHENER: Und nachdem die Achaier etwa zehn Jahre vor Troja gelegen hatten, zerstörten sie es.

KLEINIAS: Allerdings.

DER ATHENER: In diesem Zeitraume von zehn Jahren nun, während dessen es belagert wurde, nahmen die Verhältnisse aller Belagerer in ihrer Heimat selbst vielfach eine schlimme Wendung durch ausbrechende Empörungen, dergestalt daß die Aufrührer auch die in ihre Staaten und Häuser zurückkehrenden Krieger nicht freundlich und nach Gebühr aufnahmen, sondern so daß fast überall Mord und Totschlag und Vertreibung aus dem Lande erfolgte. Späterhin aber wurden sie selbst ihrerseits wieder aus demselben vertrieben und kehrten dann unter einem anderen Namen zurück, indem sie jetzt Dorer anstatt Achaier hießen, weil der welcher damals die Flüchtlinge vereinigt hatte ein Dorer war. Und was dann von da ab geschehen, das wisset ja ihr Lakedämonier Alles bereits ausführlich zu berichten.

MEGILLOS: Freilich.

DER ATHENER: Eben dahin also, von wo wir gleich im Anfange unserer Unterredung über die Gesetze auf die musische Kunst und die Trinkgelage abschweiften, sind wir jetzt wie durch göttliche Führung wieder zurückgelangt, und unser Gespräch bietet uns gleichsam die Handhabe dazu jenen Gegenstand wieder aufzunehmen. Denn es ist jetzt bei der staatlichen Einrichtung von Ladedämon selber angelangt, [683 St.] welche ihr eben so wie die von Kreta vermöge der eng verwandten Gesetze von beiden für vollkommen ansetzt. Und so haben wir denn durch jene Abschweifung, welche uns durch mehrere Verfassungen und staatliche Einrichtungen hindurchführte, so viel gewonnen: wir haben die erste, zweite und dritte Regierungsform betrachtet, wie sie nach unserer Ansicht in ihren Ursprüngen zusammenhingen und so in unendlich langen Zeiträumen, aus einander entstanden sind, und jetzt bietet sich uns denn nun dieser vierte Staat oder, wenn ihr wollt, dies vierte Volk dar, welches ehemals seine staatliche Einrichtung erhielt und dieselbe noch jetzt bewahrt. Wenn wir nun aus diesem Allem irgendwie zu erkennen vermögen was von diesen Staatseinrichtungen löblich ist und was nicht, und welche Gesetze Dasjenige in ihnen aufrecht erhalten was sich aufrecht erhält, und welche Das zu Grunde richten was zu Grunde geht, und was wohl an die Stelle der letzteren treten müßte um den Staat glücklich zu machen, so müssen wir, lieber Megillos und Kleinias, hierüber unsere Erörterung gleichsam von vorne an wieder beginnen, es sei denn daß wir an der bisherigen Auseinandersetzung etwas auszustellen hätten.

MEGILLOS: Nun, Freund, wenn irgend ein Gott uns nur verheißen wollte daß wir bei diesem zweiten Anlauf unserer Betrachtung über die Gesetzgebung nichts Schlechteres noch minder Reichhaltiges als das bisher Entwickelte vernehmen sollen, so würde wenigstens ich für meinen Teil einen weiten Weg deshalb machen und der gegenwärtige Tag würde mir kurz erscheinen, obwohl es beinahe derjenige ist an welchem der Gott aus der sommerlichen in die winterliche Bahn übergeht.

DER ATHENER: Wir sollen also, scheint's, zu dieser weiteren Betrachtung übergehen.

MEGILLOS: Ja wohl.

DER ATHENER: Wir wollen uns demnach mit unseren Gedanken in die damalige Zeit versetzen, als Lakedämon, Argos, Messene und alles dazu gehörige Land euren Vorfahren, Megillos, völlig unterworfen war. Demnächst also beschlossen sie, wie die Sage meldet, ihr Heer in drei Teile zu teilen und drei Staaten zu gründen, Argos, Messene und Lakedämon.

MEGILLOS: Allerdings.

DER ATHENER: Und Könige wurden über Argos Temenos, über Messene Kresphontes, über Lakedämon Prokles und Eurysthenes.

MEGILLOS: Freilich.

DER ATHENER: Und das gesamte damalige Kriegsheer Schwur ihnen Hilfe zu leisten, wenn Jemand ihre Königsherrschaft vernichten wolle.

MEGILLOS: Richtig.

DER ATHENER: Zerfällt nun aber ein Königtum, beim Zeus, oder auch jede andere Herrschaft je durch irgend etwas Anderes als durch sich selbst? Haben wir nicht, als wir hierauf zu reden kamen, diesen Satz festgestellt? Und sollten es jetzt vergessen haben?

MEGILLOS: Unmöglich.

DER ATHENER: Suchen wir ihn also jetzt noch mehr zu befestigen. Wir sind nämlich, so scheint es, auf Tatsachen gestoßen die eben diesen Satz bestätigen, und es werden sich also unsere Untersuchungen über denselben nicht auf ein leeres Gedankenbild, [684 St.] sondern auf Geschichte und wirkliche Begebenheiten gründen. Es geschah nämlich Folgendes wirklich. Die drei Königshäuser und die drei von ihnen beherrschten Staatsgemeinden schwuren einander gegenseitig daß, getreu den Gesetzen, nach welchen sie gemeinsam festgesetzt hatten zu herrschen und sich beherrschen zu lassen, die ersteren im Fortgange der Zeit und ihres Geschlechtes die Grenzen ihrer Gewalt nicht weiter ausdehnen, die letzteren aber daß sie, so lange die Könige ihren Eid hielten, weder selbst jemals die königliche Würde beseitigen, noch Anderen welche dies versuchen möchten es zulassen wollten, und daß jeder König und jedes Volk den beiden anderen Königen und Völkern gegen jegliche Unterdrückung zu Hülfe kommen sollte. Ist's nicht so?

MEGILLOS: Ganz so.

DER ATHENER: Nicht wahr, die wichtigste Grundlage für den Bestand von Staatverfassungen war in den gesetzlichen Einrichtungen jener drei Staaten vorhanden, sei es nun daß die Könige selbst dieselben trafen oder andere Leute?

MEGILLOS: Was meinst du?

DER ATHENER: Daß allemal zwei Staaten gegen den dritten welcher diesen Gesetzen nicht Folge leistete sich vereinigten um den Gehorsam gegen dieselben von ihm zu erzwingen.

MEGILLOS: So ist es.

DER ATHENER: Freilich der große Haufen schreibt den Gesetzgebern vielmehr vor nur solche Gesetze zu geben welche die Völker oder wenigstens die Mehrzahl bei ihnen freiwillig annehmen, gerade so als wenn man den Turnlehrern und Ärzten auftragen wollte die Körper welche sie behandeln so zu behandeln und zu heilen daß es denselben Vergnügen bereitet.

MEGILLOS: Ganz und gar so ist es.

DER ATHENER: Während man doch häufig damit zufrieden sein muß wenn Jemand nur mit nicht allzu großen Schmerzen den Leibern Wohlsein und Gesundheit zu verschaffen im Stande ist.

MEGILLOS: Ganz recht.

DER ATHENER: Dann erleichterte aber auch noch folgender Umstand damals nicht wenig die Gesetzgebung in jenen Staaten.

MEGILLOS: Welcher denn?

DER ATHENER: Es konnte gegen ihre Gesetzgeber, als sie eine gewisse Gleichheit des Vermögens bei ihnen einrichteten, nicht jener größte aller Vorwürfe erhoben werden, wie ihn in vielen anderen Staaten bei Einführung einer neuen Gesetzgebung ein jeder zu hören bekommt der etwa eine Änderung im Grundbesitz und eine Ablösung der Schulden versucht, weil er einsieht daß ohne dies die angemessenen Vermögensverhältnisse niemals genügend wiederherzustellen sind. Denn so bald ein Gesetzgeber an so Etwas zu rühren unternimmt, tritt ihm Alles mit der Warnung entgegen ja nicht an unantastbaren Verhältnissen zu rütteln und verwünscht ihn, wenn er Länderverteilungen und Nachlaß der Schulden vornimmt, so daß jeder Gesetzgeber dabei in Verlegenheit gesetzt wird. Den Dorern aber fügte sich auch dies durch die gegebenen Verhältnisse wohl und ging ohne Anstoß von Statten daß sie sowohl ohne Widerspruch Land verteilen konnten als auch keine großen und alten Schulden hatten.

MEGILLOS: So ist es.

DER ATHENER: Warum ist denn nun aber trotzdem, meine Lieben, ihre staatliche Einrichtung und Gesetzgebung ihnen so schlecht gelungen?

[685 St.] MEGILLOS: Wie so? Und was hast du an ihnen zu tadeln?

DER ATHENER: Daß von den drei so entstandenen Staaten zwei schnell ihre Verfassung und Gesetze zu Grunde gehen ließen, und nur einer, nämlich der eure, unverändert geblieben ist?

MEGILLOS: Das ist keine leicht zu beantwortende Frage.

DER ATHENER: Trotzdem müssen wir dergleichen Fragen in unserer gegenwärtigen Unterhaltung über die Gesetze in Betracht ziehen und unserer Untersuchung unterwerfen und uns so, wie wir schon im Anfange unserer Wanderung bemerkten, eine vernünftige Anregung, wie sie sich für unser Alter schickt, verschaffen und gleichsam ein für dasselbe angemessenes Spiel spielen, um unseren Weg ohne Überdruß zurücklegen zu können.

MEGILLOS: Gewiß müssen wir es so machen wie du sagst.

DER ATHENER: Und welche schönere Betrachtung über Gesetze könnten wir wohl anstellen als wenn wir diejenigen betrachten welche diesen Staaten ihre rechtliche Ordnung gegeben haben, denn mit welchen berühmteren Staaten und bedeutenderen staatlichen Einrichtungen könnten wir uns wohl beschäftigen?

MEGILLOS: Ich wüßte nicht leicht andere zu nennen.

DER ATHENER: Nun ist es wohl klar daß jene Staaten damals die vorerwähnte von ihnen getroffene Einrichtung nicht allein als einen hinlänglichen Schutz für den Peloponnes, sondern auch für alle Griechen ansahen, für den Fall daß irgend ein auswärtiges Volk gegen sie freveln sollte, wie denn damals die Bewohner von Ilion, auf die Macht der Assyrer, welche vom Ninos begründet war, trotzend, den trojanischen Krieg erregt hatten. Denn noch immer hatte sich jenes assyrische Reich einen nicht geringen Glanz bewahrt, eben so sehr wie wir den Großkönig jetzt fürchten, fürchteten die damaligen Griechen jene vereinigte Kriegsmacht. War doch die zweite Eroberung Trojas ein gewichtiger Grund zur Klage gegen sie geworden, da diese Stadt ein Teil des assyrischen Reiches war. In Rücksicht auf dies Alles erschien es als eine wohl ausgedachte und ausgeführte Einrichtung daß das dorische Heer damals unter seinen verbrüderten Königen und Abkömmlingen des Herakles, in drei Staaten verteilt, doch eine einzige Heeresmasse bildete, und es durfte so auch vorzüglicher erscheinen als das gegen Troja gezogene. Denn fürs Erste durften sie glauben daß die Herakliden tüchtigere Führer seien als die aus dem Pelopidengeschlecht, und sodann auch daß ihr Heer das gegen Troja gezogene an Tapferkeit übertreffe, denn jenes habe gesiegt und dieses sei von ihm geschlagen worden, nämlich die Achaier von den Dorern. Nicht wahr, eine solche Einrichtung und ungefähr in einer solchen Absicht gaben sie dieselbe sich damals?

MEGILLOS: Allerdings.

[686 St.] DER ATHENER: Ist es nicht ferner wahrscheinlich daß sie derselben einen festen Bestand und lange Dauer zutrauten, indem sie auf die vielen Mühen und Gefahren fußten die sie mit einander geteilt hatten, so wie darauf daß sie von Königen von gleichem Stamme, von Brüdern jene ihre Anordnungen empfangen, und dazu endlich noch darauf daß sie neben vielen anderen Orakeln namentlich den delphischen Apollon zu Rate gezogen hatten?

MEGILLOS: Gewiß ist das wahrscheinlich.

DER ATHENER: Diese Macht nun, die zu so großen Erwartungen berechtigte, ist, wie wir sehen, damals schnell verflogen bis auf, wie eben gesagt, den kleinen Teil welcher euer Land umfaßt, und dieser nun hat bis auf den heutigen Tag nie aufgehört gegen die beiden anderen Teile Krieg zu führen, während, wenn ihre damalige Gesinnung wirklich Eins geworden und im Einklange geblieben wäre, sie wohl eine Macht hätten aufstellen können der keine andere im Kriege gewachsen gewesen wäre.

MEGILLOS: Zuverlässig.

DER ATHENER: Wie nun und auf welche Weise ging diese Macht zu Grunde? Lohnt es sich nicht zu untersuchen welches Geschick es war das einst einem Bunde von solcher Größe und Beschaffenheit den Untergang brachte?

MEGILLOS: Gewiß, denn kaum dürfte Jemand an einem anderen Beispiele abnehmen können welche Gesetze und Staatsverfassungen herrliche und mächtige Zustände aufrecht erhalten und welche sie im Gegenteile gänzlich zu Grunde richten, wenn er dieses nicht beachtet.

DER ATHENER: So sind wir denn hier allem Anscheine nach durch eine Art von glücklichem Zufall auf eine geeignete Untersuchung geraten.

MEGILLOS: Allerdings.

DER ATHENER: Begegnet es nicht, Teuerster, unvermerkt allen Menschen, und so jetzt auch uns, daß man oft zu sehen glaubt, es sei eine schöne Sache um Etwas und es würden bewundernswerte Dinge dabei herausgekommen sein, wenn man nur irgendwie auch den rechten Gebrauch davon zu machen gewußt hätte? Vielleicht denken so auch wir über den vorliegen den Gegenstand nicht richtig und der Natur der Dinge gemäß, und eben so möchte es auch Andern in Bezug auf alle anderen Dinge gehen über welche sie ein ähnliches Urteil fällen.

MEGILLOS: Was willst du denn damit sagen und worauf sollen wir uns denn eigentlich diese deine Bemerkung als hinzielend denken?

DER ATHENER: Bester, ich habe mich eben selber mit ihr verlacht. Denn beim Hinblick auf jene eben besprochene Kriegsmacht schien es mir als ob es ein gar herrliches Ding um sie gewesen sei und als ob mit ihr ein beneidenswerter Schatz den Griechen zugefallen sein würde, wenn, wie gesagt, man damals die richtige Anwendung von ihr gemacht hätte.

MEGILLOS: Und diese Äußerung von deiner Seite und unsere Billigung derselben wäre nicht richtig und verständig gewesen?

DER ATHENER: Vielleicht nicht, obwohl ich glaube daß noch Jeder der etwas Großartiges und mit vieler Macht und Stärke Ausgerüstetes erblickte sofort den Eindruck davon erfuhr daß, wenn der Besitzer von etwas so Vorzüglichem und Bedeutendem Gebrauch zu machen wüßte, es dann auch zu seinem Heile dienen und er viel Bewundernswertes damit auszurichten im Stande sein müßte.

[687 St.] MEGILLOS: Und wäre dann nicht auch das richtig? Oder denkst du anders darüber?

DER ATHENER: Siehe nur zu, in welcher Rücksicht der welcher ein solches Lob über irgend einen Gegenstand ausspricht richtig urteilt. Was zunächst den gerade jetzt besprochenen anlangt, wie hätten wohl die damaligen Befehlshaber, wenn sie es verstanden hätten das Heer auf die gehörige Weise zu ordnen, den rechten Vorteil erlangt? Nicht wahr, dadurch daß sie es fest zusammengehalten und ihm für alle Folgezeit seine Dauer bewahrt hätten, so daß sie sowohl selbst frei geblieben wären als auch noch Andere, so viel sie wollten, unter ihre Herrschaft gebracht und überhaupt samt ihren Nachkommen unter allen Völkern, Griechen und Nichtgriechen, Alles was sie begehrten durchzusetzen vermocht hätten. Würde man nicht dieserhalb sie gepriesen haben?

MEGILLOS: Allerdings.

DER ATHENER: Würde nun nicht auch wer in Ansehung großen Reichtums und hoher Ehre des Geschlechts dasselbe lobende Urteil fällt dies mit Rücksicht darauf tun, weil dem Besitzer dadurch Alles wonach er begehrt zu Teil werden dürfte oder doch das Meiste und Erheblichste?

MEGILLOS: So scheint es wenigstens.

DER ATHENER: Laß nun sehen! Haben nicht alle Menschen einen gemeinsamen Wunsch, nämlich den jetzt von unserer Untersuchung angegebenen, wie eben diese es bezeugt?

MEGILLOS: Welchen denn?

DER ATHENER: Daß was geschieht so geschehen möge wie unser Herz darüber verfügt, am Liebsten Alles, wo nicht, so wenigstens so viel als Menschen nur immer erreichbar ist.

MEGILLOS: Gewiß.

DER ATHENER: Und da wir Alle Dergleichen beständig wünschen, als Kinder, Männer und Greise, werden wir nicht notwendigerweise um eben dies unaufhörlich beten?

MEGILLOS: Wie anders?

DER ATHENER: Und für Die welche uns lieb sind werden wir mit um Das beten was sie für sich selber erflehen?

MEGILLOS: Ohne Zweifel.

DER ATHENER: Lieb ist nun doch ein Sohn seinem Vater, als Knabe dem Manne?

MEGILLOS: Sicherlich.

DER ATHENER: Und doch dürfte der Vater die Götter anrufen daß sie vieles von Dem was der Sohn für sich erfleht nimmermehr nach diesem seinem Gebete geschehen lassen mögen.

MEGILLOS: Du meinst, wenn dieser im Unverstand und in noch allzu großer Jugend dies Gebet ausspricht?

DER ATHENER: Aber auch wenn der Vater, mag er nun ein Greis oder selber noch sehr jung sein, nicht einsieht was gut und recht ist, und in einem ähnlichen Zustande wie Theseus in Betreff des Hippolytos, der ein so unglückliches Ende nahm, recht inbrünstig betete, und der Sohn die Wahrheit durchschaut, glaubst du dann daß er mit in des Vaters Gebet einstimmen soll?

MEGILLOS: ich verstehe was du meinst. Du scheinst mir sagen zu wollen, man müsse nicht darum beten oder darauf dringen daß Alles unserem Willen gehorche, wenn dabei der Wille selber nicht der Vernunft gehorchen soll, sondern daß darum sowohl der Staat wie jeder Einzelne von uns beten und sich beeifern müsse, der richtigen Einsicht teilhaftig zu werden.

[688 St.] DER ATHENER: Richtig, und daß demnach ein staatskluger Gesetzgeber eben dies bei seinen gesetzlichen Anordnungen im Auge haben müsse, dies war, wie ich mich dessen noch wohl erinnere und ihr euch dessen wohl noch gleichfalls erinnern werdet, wenn ich es euch hiermit ins Gedächtnis zurückrufe, das gleich im Anfange von uns Bemerkte, als ihr nämlich an einen tüchtigen Gesetzgeber die Anforderung stelltet, er müsse alle seine gesetzlichen Einrichtungen auf den Krieg berechnen, ich aber meine Ansicht dahin aussprach, dies heiße verlangen daß die Gesetze nur zum Behufe einer einzigen Tugend unter allen vieren gegeben werden sollten, während man doch die gesamte Tugend und vor Allem die oberste Leiterin derselben im Auge haben müsse, und diese letztere bestehe in Einsicht, Vernunft und richtiger Vorstellung nebst denjenigen Neigungen und Begierden welche ihrer Leitung folgen. So ist denn unsere Erörterung von Neuem in ihren Ausgangspunkt zurückgekehrt und ich, der damals jenen Ausspruch tat, tue ihn jetzt von Neuem, wenn ihr wollt, im Scherze und, wenn ihr lieber wollt, im Ernste, daß es gefährlich sei, sage ich, wenn ein Mensch zum Gebete greift, ohne die richtige Einsicht zu besitzen, und daß ihm mit deren Erfüllung vielmehr das Gegenteil von seinen Wünschen widerfahre. Und ist es euch recht, so nehmet lieber an daß ich im Ernste spreche. Denn ich darf wohl erwarten daß ihr zufolge unserer kurz zuvor gegebenen Auseinandersetzung finden werdet daß die Ursache von dem Verderben der Könige und der Vereitlung ihres ganzen Planes nicht Feigheit gewesen sei, noch auch dies daß die Herrscher sowohl wie Die welche sie zu beherrschen hatten im Kriegswesen unerfahren gewesen wären, sondern daß sie an dem Mangel aller sonstigen Tugenden und besonders an der Unkenntnis in den wichtigsten Angelegenheiten der Menschen zu Grunde gegangen seien. Daß es nun wirklich damals so zuging und auch jetzt unter ähnlichen Verhältnissen eben so zugeht und auch in der Zukunft nicht anders zugehen wird, das werde ich, wenn ihr wollt, in geordneter Folge zu ermitteln und euch als meine Freunde nach Kräften darüber ins Klare zu setzen suchen.

KLEINIAS: Wenn wir dich, Freund, mit Worten deshalb loben wollten, so würde dir dies eher lästig sein, wohl aber wollen wir es durch die Tat nach Möglichkeit tun. Wir wollen nämlich deinem Vortrage aufmerksam folgen, und das ist es ja wodurch am meisten sich kund gibt wer auf eine feine Weise lobt und wer nicht.

MEGILLOS: Vortrefflich, Kleinias, ja, so wollen wir es machen.

KLEINIAS: Mag es denn also, so Gott will, geschehen, und so rede denn!

DER ATHENER: Wir behaupten also jetzt, um den Weg unserer Erörterung weiter zu verfolgen, daß die weitreichendste Art von Unwissenheit damals jene Macht zu Grunde gerichtet habe und noch heute naturgemäß von gleicher Wirkung sei, weshalb denn der Gesetzgeber, wenn anders sich dies wirklich so verhält, den Gemeinden so viel Einsicht als möglich einzuflößen und den Unverstand möglichst auszutreiben bestrebt sein muß.

KLEINIAS: Offenbar.

[689 St.] DER ATHENER: Welche Art von Unverstand darf nun mit Recht die weitreichendste heißen? Sehet zu ob auch ihr meiner Ansicht beistimmt, ich nämlich setze dieselbe hierein.

KLEINIAS: Nun, worein?

DER ATHENER: Darein, wenn Jemand das was ihm schön und gut erscheint dennoch nicht liebt, sondern haßt, und das was er dagegen für schlecht und unrecht ansieht dennoch liebt und pflegt. Diese Disharmonie von Schmerz und Lust mit der der Vernunft entsprechenden Vorstellung nenne ich den äußersten Unverstand und zugleich den weitreichendsten, weil er die große Masse unserer geistigen Regungen beherrscht, denn derjenige Teil unserer Seele welcher Freude und Schmerz empfindet ist in ihr Dasselbe was die große Masse des Volkes im Staate ist. Wenn also die Seele der Erkenntnis oder richtigen Vorstellungen oder der Vernunft, denen von Natur die Herrschaft gebührt, sich widersetzt, so nenne ich das Unverstand, und Unverstand im Staate, wenn die große Menge den Obrigkeiten und Gesetzen nicht gehorcht, ebenso bei einem Einzelnen, wenn er treffliche Grundsätze im Geiste trägt und diese doch Nichts bei ihm ausrichten, sondern das gerade Gegenteil derselben. Diese ganze Art von Unverstand rechne ich dem Staate wie dem einzelnen Bürger für die schlimmste an, und nicht den in Gewerben und Künsten. Ihr versteht doch, liebe Freunde, wie ich es meine?

KLEINIAS: Wir verstehen es, Freund, und geben es dir zu.

DER ATHENER: Dies mag denn nun so festgestellt und ausgesprochen sein, daß Bürgern welche in diesem Stücke unverständig und ungeschickt sind Nichts was mit der Regierung zusammenhängt anvertraut werden darf, sondern daß sie vielmehr als unverständige und ungeschickte Leute verachtet zu werden verdienen, wenn sie übrigens auch noch so geschickte Rechner und noch so geübt in allen glänzenden Kunstfertigkeiten und in Allem was dem Geiste Gewandtheit gibt wären, und daß man dagegen die Leute von entgegengesetztem Verhalten, auch wenn sie, wie man zu sagen pflegt, weder lesen noch schwimmen können, als weise und verständig bezeichnen und ihnen als solchen die obrigkeitlichen Würden übertragen muß. Denn wo der Einklang fehlt, meine Freunde, wie könnte da auch nur der kleinste Bruchteil von vernünftiger Einsicht entstehen! Gewiß ist das unmöglich, vielmehr als der schönste und vollkommenste Einklang darf mit dem vollsten Rechte die vollendete Weisheit betrachtet werden, und diese besitzt wer nach der Vernunft lebt; wer aber von ihr abfällt, der wird ein Verderber seines Hauses und auch kein Erhalter des Staates sein, sondern vielmehr als ungeschickt zu allen gemeinnützigen Dingen erscheinen. Dies mag denn also, wie eben gesagt, so ausgesprochen und festgestellt sein.

KLEINIAS: Wohl!

DER ATHENER: Nun müssen aber doch wohl notwendig in jedem Staate Herrscher und Untertanen sein?

KLEINIAS: Wie anders?

[690 St.] DER ATHENER: Gut! Von welcher Art und Zahl sind nun aber die Ansprüche auf welche sich das Herrschen und Untertansein gründet, in großen und kleinen Staaten und ebenso in Familien? Ist nicht einer derselben der welchen Vater und Mutter erheben, und wird es nicht schlechterdings überall eine gerechte Anforderung der Eltern sein daß die Kinder ihnen untertan seien?

KLEINIAS: Eine sehr gerechte.

DER ATHENER: Hieran knüpft sich dann der Anspruch der Edelbürtigen auf die Herrschaft über die Unedlen, und sodann drittens der der Älteren daß sie zu befehlen, die Jüngeren aber zu gehorchen haben.

KLEINIAS: Freilich.

DER ATHENER: Der vierte Anspruch sodann welcher erhoben wird wird der sein daß die Sklaven gehorchen und die Herren gebieten.

KLEINIAS: Unstreitig.

DER ATHENER: Der fünfte aber, denke ich, daß der Stärkere herrsche und der Schwächere diene.

KLEINIAS: Das ist eine Herrschaft der man sich gar nicht entziehen kann.

DER ATHENER: Und eine solche die sich am meisten unter allen lebenden Wesen findet und der Natur gemäß ist, wie einst Pindar der Thebaner sprach. Der gewichtigste Anspruch aber, glaube ich, wird der sechste sein, welcher verlangt daß der Unverständige Folge leiste, der Verständige aber leite und herrsche. Und von dem möchte ich meinesteils, weisester Pindar, denn doch vielmehr behaupten daß er nicht wider die Natur sei, sondern daß im Gegenteil diejenige Herrschaft des Gesetzes der man sich freiwillig unterwirft, und nicht die welche in Gewalttätigkeiten besteht, die naturgemäße ist.

KLEINIAS: Du hast ganz Recht.

DER ATHENER: Wir haben aber noch als eine siebente Art von Herrschaft die anzuführen wo dieselbe zur Verlosung gestellt und der Gunst der Götter und dem Glücke anheimgegeben wird, und erklären es ihr zufolge für das Gerechteste daß Der welcher das glückliche Los zieht Herrscher sei, und Der welcher bei der Verlosung leer ausgeht seines Weges ziehe und sich beherrschen lasse.

KLEINIAS: Sehr richtig bemerkt.

DER ATHENER: Siehst du also, lieber Gesetzgeber, möchten wir scherzend zu Einem von Denen sagen welche sich so leicht mit Gesetzgebungen zu befassen geneigt sind, wie viele verschiedene Ansprüche auf Herrschaft vorhanden sind und wie sehr sie mit einander im Widerspruch stehen? Da haben wir also eine Quelle von Aufständen entdeckt, die du zu verstopfen hast. Zunächst aber betrachte mit uns, wie und worin die Könige von Argos und Messene hiergegen gefehlt und dadurch zugleich sich selbst und die Macht der Hellenen, die damals so staunenswert groß war, zu Grunde gerichtet haben. Nicht wahr, darin daß sie nicht erkannten wie wahr das Wort des Hesiod ist, daß die Hälfte oft mehr als das Ganze sei? Nämlich wenn es schädlich ist das Ganze zu nehmen und die Hälfte für uns hinreicht, dann hielt er dies Hinreichende für mehr als das Übermäßige, weil dieses das Schlechtere, jenes aber das Bessere ist.

KLEINIAS: Ganz recht.

DER ATHENER: Hegen wir nun die Ansicht daß diese Krankheit eher bei den Königen sich zu zeigen und sie zu Grunde zu richten pflege oder bei den Völkern?

[691 St.] KLEINIAS: Allem Anscheine nach trifft sie meistens überhaupt nur die Könige, die aus Üppigkeit sich dem Übermute ergeben.

DER ATHENER: Ist es also nicht klar daß zuerst die damaligen Könige diese Krankheit an sich trugen, mehr zu verlangen als die Gesetze ihnen gewährten, und daß sie mit Dem was sie durch Wort und Eid gebilligt hatten und dadurch mit sich selber nicht in Einklang blieben, sondern daß vielmehr die Disharmonie welche nach unserer Behauptung die größte Torheit ist, obgleich sie für Klugheit gilt, durch ihre Verkehrtheit und traurige Rohheit alle Macht derselben zu Grunde gerichtet hat?

KLEINIAS: So scheint es wenigstens.

DER ATHENER: Gut denn! Welche Bestimmungen hätte nun der damalige Gesetzgeber treffen müssen um der Entstehung dieses Übels vorzubeugen? Oder ist es, bei den Göttern, eben keine Kunst dies jetzt zu erkennen und nicht schwer sich darüber zu äußern, während doch wohl, wenn es damals wäre vorherzusehen gewesen, Derjenige welcher es vorausgesehen hätte weiser gewesen wäre als wir?

MEGILLOS: Was meinst du denn nur?

DER ATHENER: Es ist für Jeden der auf Das was jetzt bei euch, Megillos, geschieht sein Augenmerk richtet leicht anzugeben, was damals zu tun gewesen wäre.

MEGILLOS: Drücke dich noch deutlicher aus.

DER ATHENER: So wird es denn am deutlichsten sein wenn ich mich folgendermaßen erkläre.

MEGILLOS: Nun?

DER ATHENER: Wenn man mit Vernachlässigung des richtigen Maßverhältnisses Gegenstände mit einer Ausrüstung versieht welcher sie an Größe und Kraft nicht gewachsen sind, z.B. Schiffe mit übermäßigen Segeln, so gerät Alles verkehrt, und so stürzt sich denn auch, wenn man einem Körper zu viele Nahrung reicht und einer Seele zu viel Gewalt in die Hände gibt, jener vor lauter Üppigkeit in Krankheiten, diese in die Ausgeburt der Üppigkeit und des Übermuts, in Ungerechtigkeit. Was sollen wir nun da sagen? Doch wohl, ihr lieben Freunde, daß es keine sterbliche Seele gibt die so geartet wäre daß sie, so lange sie noch jung ist und sobald sie dabei Niemandem Rechenschaft zu geben hat, stark genug sein wird die höchste Gewalt unter den Menschen zu ertragen und nicht, von der größten aller Krankheiten, dem Unverstande, ergriffen, ihrer Gesinnung einen Haß selbst bei den nächsten Freunden zuzöge, der, einmal entstanden, bald den Herrscher zu Grunde richtet und seine ganze Macht zerstört? Dem also nach Erkenntnis des richtigen Verhältnisses vorzubeugen ist die Aufgabe großer Gesetzgeber. Was aber damals geschah, das scheint, so weit es sich jetzt noch mit hinlänglicher Sicherheit berechnen läßt, Folgendes zu sein.

MEGILLOS: Nun?

DER ATHENER: Ein Gott, glaube ich, hat besondere Fürsorge für euch getragen, indem er in Voraussicht der Zukunft die königliche Gewalt bei euch nicht von einem einzelnen Herrscher, sondern von einem Zwillingspaare, das von einem solchen entsprossen war, ausgehen ließ und so dieselbe mehr auf das richtige Maß beschränkte, und hernach hat dann noch menschliche Art mit göttlicher Kraft verbunden, von der Wahrnehmung geleitet daß eure Herrscher noch immer von allzu glühender Leidenschaft beseelt waren, [692 St.] jener auf ihre Abkunft allzu stolzen Gewalt eine Macht welche durch das Alter vielmehr besonnen gemacht wurde beigemischt, indem sie der der Könige die des Rats der achtundzwanzig Greise mit gleicher Berechtigung in den wichtigsten Angelegenheiten an die Seite stellte. Endlich hat noch der dritte Helfer, als er eure Herrscher noch immer zu keck und leidenschaftlich sah, ihrer Macht einen Zaum in der der Ephoren angelegt, die er in ähnlicher Weise erwählen ließ wie die durch das Los ernannten Beamten. Und weil nun auf diese Weise das Königtum bei euch zu einer aus den geziemenden Bestandteilen gemischten Verfassung und dem richtigen Maße unterworfen wurde, so erhielt er sich selber und ward dadurch zugleich die Ursache daß das ganze Staatswesen unverändert erhalten blieb. Denn unter Temenos, Kresphontes und den damaligen Gesetzgebern, welche sie immer gewesen sein mögen, würde sich auch der Anteil des Aristodemos nicht erhalten haben. Sie hatten nämlich in der Gesetzgebung noch nicht die nötige Erfahrung, denn schwerlich würden sie sonst geglaubt haben je durch Eidschwüre ein jugendliches Gemüt in Schranken halten zu können, dem eine Macht in die Hände gegeben worden aus welcher eine Gewaltherrschaft hervorgehen konnte. Jetzt aber hat Gott gezeigt, wie die Regierung sein mußte und wie sie noch sein muß, um möglichst Bestand zu gewinnen, und daß dies daher von uns richtig erkannt wird, nachdem es sich jetzt durch die Tat bewährt hat, ist, wie gesagt, keine Kunst, denn Etwas aus einem Beispiele zu ersehen das als verwirklicht vorliegt ist eben nicht schwierig. Wenn aber Jemand dies damals vorausgesehen hätte und im Stande gewesen wäre die Herrscher in Schranken zu halten und ihre drei Reiche zu Einem zu verbinden, so würde er alle jene herrlichen damaligen Entwürfe aufrecht erhalten haben und es würde darin schwerlich weder die persische noch irgend eine andere Kriegsmacht mit Verachtung von uns, als wären wir ein Volk von geringer Bedeutung, sich auf Hellas geworfen haben.

KLEINIAS: Du hast Recht.

DER ATHENER: Auf eine schmähliche Weise haben sich wenigstens die damaligen Griechen gegen die Perser verteidigt. Ich verstehe aber dies Schmählich nicht so als ob sie nicht manche herrliche Siege zur See wie zu Lande erfochten hätten, sondern was ich so nenne ist vor Allem das daß von allen jenen Staaten, die doch ihrer drei waren, nur Einer zur Verteidigung Griechenlands kämpfte, die beiden andern aber so tief gesunken waren daß der eine sogar Lakedämon an diesem Kampfe hinderte, indem er sich mit aller Macht gegen dasselbe erhob, und der andere, welcher in jener Zeit der Teilung den Vorort bildete, der Staat von Argos, allen Aufforderungen zur Abwehr der Barbaren keine Folge leistete und nicht zum Widerstande schritt. Und so könnte man in einem Bericht über die Vorfälle jenes damaligen Krieges noch vieles Andere rügend hervorheben was Griechenland keineswegs zur Ehre gereicht, ja nicht einmal das kann man mit Recht behaupten daß Griechenland überhaupt Widerstand geleistet habe. [693 St.] Vielmehr hätte nicht der Athener und Ladedämonier einmütiges Zusammenwirken nach gemeinsamem Plane die drohende Knechtschaft abgewehrt, so würden jetzt wohl alle griechischen Stämme unter einander und unter die fremden und diese unter sie gemischt sein, gleichwie diejenigen welche gegenwärtig unter dem Joche der Perser leben ein übel verstreuter, hier zusammengeworfener und dort auseinandergerissener Haufe sind. Dies, Kleinias und Megillos, sind die Punkte welche wir den alten sowie den gegenwärtigen sogenannten Staatsmännern und Gesetzgebern vorzuwerfen haben, um dadurch zur Aufsuchung der Ursachen hiervon und damit zur Auffindung dessen hingeführt zu werden was sie statt dessen vielmehr hätten tun sollen, und von dieser Art ist auch das was wir so eben bemerkten, daß man der Staatsregierung gesetzlich keine allzu große und ungemischte Gewalt in die Hände geben dürfe, in Erwägung dessen daß ein Staat frei, weise geleitet und einträchtig in sich selber sein, und daß der Gesetzgeber eben hierauf sein Augenmerk bei seiner Gesetzgebung richten müsse. Wundern wir uns aber nicht darüber, wenn wir bereits mehrmals Dinge vorgeführt haben von denen wir behaupteten der Gesetzgeber müsse auf sie sein Augenmerk bei seiner Gesetzgebung richten, und dies nicht in jedem Falle dasselbe zu sein scheint, sondern bedenken wir vielmehr daß, mögen wir nun sagen, er müsse auf die Besonnenheit oder die Einsicht oder die Eintracht dasselbe lenken, dies in Wahrheit nicht ein verschiedener, sondern derselbe Zweck ist; und wenn noch viele andere ähnliche Ausdrucksweisen zum Vorschein kommen, so darf uns das nicht stören.

KLEINIAS: Wir wollen versuchen es so zu machen, indem wir die Erörterungen wieder durchgehen. Doch jetzt erkläre dich über die Eintracht, Weisheit und Freiheit, nämlich in welchem Betracht du sagen wolltest daß der Gesetzgeber sie zu seinem Zwecke machen müsse.

DER ATHENER: So höre denn jetzt. Es gibt unter den Verfassungen zwei welche gleichsam die Mütter der übrigen sind, dergestalt daß man mit Recht behaupten darf daß diese aus ihnen entstanden seien. Die eine nennt man mit Recht Monarchie, die andere Demokratie, und jene, darf man behaupten, ist bei dem Perservolke, diese aber bei uns in ihrer Vollendung zu finden. Die übrigen Verfassungen aber sind, wie gesagt, wohl alle auf verschiedenartige Weise aus diesen beiden zusammengesetzt; und es muß denn auch notwendigerweise eine jede an ihnen Teil haben, wenn anders wirklich Freiheit und Eintracht auf der einen Seite und weise Leitung auf der andern mit einander bestehen sollen. Und dies ist es daher was unsere Erörterung damit meint und festsetzen will daß ein Staat ohne Anteil an jenen drei Dingen wohl niemals gut verwaltet werden dürfte.

KLEINIAS: Richtig.

DER ATHENER: Da nun der eine von jenen beiden Staaten lediglich mehr als billig die Alleinherrschaft, der andere aber die Freiheit hegte, so besitzt keiner von beiden das richtige Maß von ihnen, eure Staaten hingegen, der kretische und der lakedämonische, eher, indessen besaßen es vorzeiten auch die Athener und Perser in gewissem Grade und heutzutage weniger. [694 St.] Doch wir wollen die Ursache davon durchgehen. Nicht wahr?

KLEINIAS: Versteht sich. Können wir doch nur so die Aufgabe welche wir uns gesteckt haben zu Ende führen.

DER ATHENER: Laßt uns denn hören. Als die Perser unter Kyros noch mehr die Mittelstraße zwischen Freiheit und Knechtschaft hielten, wurden sie zunächst selber frei und sodann Herren über viele Andere. Denn da die Herrscher die Untertanen an der Freiheit Teil nehmen ließen und sie auf gleichen Fuß mit sich stellten, so waren die Krieger mit ihren Führern enger befreundet und zeigten sich willig in allen Gefahren, und wenn hinwiederum unter ihnen ein verständiger Mann war, der klugen Rat zu erteilen wußte, so machte derselbe seine geistige Kraft zum Gemeingut, indem der König ihn nicht darin beeinträchtigte, sondern ihm Redefreiheit zugestand und alle Diejenigen ehrte welche ihm in irgendeinem Stücke Rat zu erteilen im Stande waren. Und so gedieh denn damals Alles bei ihnen durch diese Freiheit und Freundschaft und diesen gegenseitigen Geistesaustausch.

KLEINIAS: Allerdings scheint es nach dem was man erzählt sich ungefähr so zugetragen zu haben.

DER ATHENER: Wie ging es denn zu daß dieses Gedeihen unter Kambyses schwand und unter Dareios so ziemlich wieder gewonnen ward? Wollt ihr daß wir es durch Nachdenken gleichsam erraten?

KLEINIAS: Es führt dies wenigstens unsere Untersuchung zu dem Punkte auf den wir ausgingen.

DER ATHENER: So vermute ich denn vom Kyros, so trefflich er als Feldherr und so vaterlandsliebend er auch gewesen, daß er doch mit der richtige Erziehung seiner Kinder sich nicht befaßt und überhaupt um die Verwaltung seines Hauswesens sich nicht bekümmert hat.

KLEINIAS: Woraus sollen wir das schließen?

DER ATHENER: Er scheint von Jugend auf sein ganzes Leben hindurch im Felde gelegen und in Folge dessen die Erziehung seiner Kinder den Weibern überlassen zu haben, diese aber erzogen sie so als wären sie gleich von Kindesbeinen an bereits glückliche und selige Menschen und bedürften keines Weiteren, und indem sie Jedermann daran hinderten, als wären sie bereits vollkommen, ihnen in irgend einem Stücke entgegenzutreten und ihn vielmehr nötigten Alles was sie sagten und täten zu loben, erzogen sie sie denn zu solchen Menschen wie sie geworden sind.

KLEINIAS: Du schilderst da, scheint es, eine schöne Erziehung.

DER ATHENER: Eine Weibererziehung, wie sie von königlichen Frauen zu erwarten war welche seit Kurzem reich geworden waren und denen bei der steten Abwesenheit ihres Mannes die Erziehung der Kinder überlassen blieb, zu welcher dieser wegen fortwährender Kriege und gefahrvoller Unternehmungen keine Muße hatte.

KLEINIAS: Sehr erklärlich.

DER ATHENER: Und so erwarb denn den Kindern ihr Vater zwar Herden und Vieh und die Herrschaft über Scharen von Männern so wie große Haufen sonstiger Besitztümer, aber er übersah dabei daß sie selber, [695 St.] denen er einst alle diese Reichtümer hinterlassen sollte, nicht in der Lebensweise ihrer Väter erzogen waren, jener persischen welche, da die Perser Hirten und Söhne eines rauhen Landes waren, rauh und wohlgeeignet dazu war starke Hirten zu bilden, die wohl vermochten Tag und Nacht wachsam im Freien auszuhalten und, wenn es nötig war, auch Kriegsdienste zu tun, und er ließ es zu daß sie vielmehr eine medische, durch jene vermeintliche Glückseligkeit verderbte Erziehung von Weibern und Verschnittenen erhielten, und in Folge dessen Männer wurden wie nach einer solchen aller strengen Zucht entbehrenden Erziehung nicht anders zu erwarten war. Als nun nach dem Tode des Kyros ihm seine von Üppigkeit und Zügellosigkeit erfüllten Söhne nachfolgten, da ermordete zunächst der eine von ihnen den andern, aus Zorn darüber daß diesem ein gleicher Machtanteil gegeben war, nachher aber verlor er selbst, da seine Trunkenheit und Rohheit bis zur Raserei stieg, durch die Meder und den damals so genannten Verschnittenen, welcher in Folge seiner Torheiten alle Scheu vor ihm verloren hatte, die Herrschaft.

KLEINIAS: So erzählt man allerdings, und wahrscheinlich hat es sich auch wohl so etwa zugetragen.

DER ATHENER: Und ebenso erzählt man doch auch daß die Herrschaft durch den Dareios und die Sieben wieder an die Perser gekommen sei?

KLEINIAS: Ja wohl.

DER ATHENER: Laßt uns denn nun den weiteren Verlauf gemäß dieser Erzählung betrachten. Dareios war kein Königssohn und hatte keine verweichlichende Erziehung genossen. Als er nun zur Herrschaft gelangte, so teilte er, da er sich derselben mit Hilfe von sechs Andern bemächtigt hatte, das Reich in sieben Teile, wovon auch jetzt noch schwache und traumähnliche Spuren übrig sind, gab Gesetze, nach denen er es zu verwalten versprach, führte bis zu einem gewissen Grade eine allgemeine Rechtsgleichheit ein, band ferner den Tribut welchen Kyros den Persern verheißen hatte an gesetzliche Bestimmungen, und indem er so durch Geldspenden und Geschenke sich das Volk der Perser verband, stiftete er Freundschaft und regen Verkehr unter ihnen insgesamt. Deshalb folgten ihm auch die Heere mit Ergebenheit und eroberten für ihn nicht weniger Länder als sie Kyros bereits hinterlassen hatte. Dem Dareios folgte Xerxes, welcher wiederum in der üppigen Erziehung eines königlichen Prinzen aufgewachsen war. O Dareios, kann man wohl mit vollem Recht sagen, daß du den Fehler des Kyros nicht erkanntest und vielmehr den Xerxes in derselben Lebensweise auferziehen ließest wie Kyros den Kambyses! Dieser nun, als Zögling der gleichen Erziehungsweise, hat auch ähnliche Schicksale wie Kambyses erlitten, und überhaupt ist unter den Persern seit dieser so langen Zeit wohl kein König mehr geboren worden der in der Tat und nicht bloß dem Titel nach ein großer Mann gewesen wäre.

Und die Schuld davon liegt nach meiner Ansicht gar nicht am blinden Glücke, [696 St.] sondern an dem verwerflichen Leben welches die Kinder von übermäßig reichen Leuten und von Gewaltherrschern meistens führen. Denn schwerlich wird nach einer solchen Erziehung je ein Jüngling, Mann oder Greis von besonderer Tüchtigkeit werden. Dies nun, behaupten wir, muß der Gesetzgeber und müssen auch wir im gegenwärtigen Zeitpunkte im Auge haben, und die Gerechtigkeit muß man eurem Staate, ihr Lakedämonier, widerfahren lassen daß ihr den Armen und den Reichen, den Privatmann und den König durch keine andere besondere Ehre und Erziehung auszeichnet, als welche euch im Anfange euer göttlicher Gesetzgeber auf Eingebung eines Gottes anbefahl. Denn nicht dürfen in einem Staate Jemandem deshalb besondere Ehren erwiesen werden weil er besondern Reichtum besitzt, ja nicht einmal deshalb weil er besonders schnell, schön oder stark ist, ohne irgend eine Tugend dabei an sich zu tragen, und selbst nicht einmal für eine Tugend welcher die Besonnenheit gebricht.

MEGILLOS: Wie meinst du das, Freund?

DER ATHENER: Tapferkeit ist doch ein Teil der Tugend?

MEGILLOS: Gewiß.

DER ATHENER: Höre mich also und urteile selbst, ob du wohl Jemanden zum Hausgenossen oder Nachbar nehmen möchtest welcher sehr tapfer, aber nicht gemäßigt und besonnen, sondern vielmehr zügellos ist?

MEGILLOS: Behüte Gott!

DER ATHENER: Und ferner Jemanden der zwar in allen Künsten, und was dahin gehört, erfahren, aber dabei ungerecht ist?

MEGILLOS: Gewiß nicht.

DER ATHENER: Gerechtigkeit kann aber doch nicht ohne Mäßigung und Besonnenheit bestehen?

MEGILLOS: Gewiß nicht.

DER ATHENER: Und eben so wenig vermag es Der den wir vorher als weise bezeichneten, also Der bei welchem Lust und Leid stets mit den richtigen Grundsätzen übereinstimmen und ihnen nachfolgen?

MEGILLOS: Eben so wenig.

DER ATHENER: Doch auch Folgendes wollen wir noch in Betracht ziehen, um bestimmen zu können, welcherlei Ehrenauszeichnungen mit Recht in den Staaten erteilt werden und welcherlei nicht.

MEGILLOS: Nun?

DER ATHENER: Ist die Mäßigung und Besonnenheit, wenn sie ohne die ganze übrige Tugend vereinzelt in der Seele wohnt, mit Fug und Recht für wertvoll oder für wertlos zu erachten?

MEGILLOS: Darauf weiß ich dir nicht zu antworten.

DER ATHENER: Und doch hast du mir eben hiermit ganz passend geantwortet, denn für was von Beidem du dich entschieden hättest, so würdest du mir wenigstens damit eine ungereimte Antwort erteilt zu haben scheinen.

MEGILLOS: Das traf sich also gut.

DER ATHENER: Freilich. Dieser Zusatz nämlich, dessen Hinzutritt oder Mangel alles Andere erst wertvoll oder wertlos macht, ist gar nicht in Anschlag zu bringen, sondern als etwas Unberechenbares mit Stillschweigen zu übergehen.

MEGILLOS: Du meinst doch die Mäßigung und Besonnenheit?

DER ATHENER: Ja. Was uns aber von den übrigen Gütern in Verbindung mit diesem Zusatz am meisten zum Heile gereicht wird mit allem Rechte für das Wertvollste angesehen werden, was dann in dieser Rücksicht am nächsten steht wird den zweiten Rang erhalten, und so wird überhaupt ein Jedes der Reihe nach nach dem Grade des Nutzens auch des der Ehre teilhaftig werden.

[697 St.] MEGILLOS: So ist es.

DER ATHENER: Wie nun? Sollen wir nicht hinwiederum sagen, es stehe dem Gesetzgeber zu auch diese Rangordnung zu bestimmen?

MEGILLOS: Ohne allen Zweifel.

DER ATHENER: Ist es dir nun recht daß wir Alles, und zwar je nach seinen verschiedenartigen Aufgaben und bis ins Kleinste, in dieselbe zu verteilen ihm überlassen, unsererseits jedoch, da auch wir selber uns des Studiums der Gesetzgebung befleißigen, die Einteilung in drei Klassen vornehmen und die obersten Güter von denen des zweiten und dritten Ranges zu sondern versuchen?

MEGILLOS: Allerdings.

DER ATHENER: So behaupten wir denn daß nach unserer Ansicht ein Staat der sich in gutem Stand erhalten und, so weit es in menschlicher Macht liegt, glückselig sein will, notwendig auch Ehre und Unehre richtig verteilen müsse. Dies Richtig heißt aber doch daß als die wertvollsten und höchsten Güter die der Seele gelten, in welcher Besonnenheit und Mäßigung wohnt, die zweite Stelle aber die Güter und Vorzüge des Körpers, und die dritte das was man Vermögen und Glücksgüter nennt einnimmt. Und wenn ein Gesetzgeber oder ein Staat diese Rangordnung überschreitet, indem er entweder den Reichtum in die oberste Stelle hinaufrückt oder überhaupt Dinge einer niederen Klasse in die Ehre einer höheren einsetzt, so dürfte er weder ein den Göttern gefälliges noch dem Staate ersprießliches Werk tun. Soll dies von uns behauptet sein oder etwas Anderes?

MEGILLOS: Sicherlich dies, und zwar mit aller Zuversicht.

DER ATHENER: Zu der ausführlichen Besprechung dieses Punktes hat die Betrachtung des persischen Staatswesens uns hingeführt. Wir finden nämlich daß dasselbe sich von Jahr zu Jahr verschlimmerte, und als die Ursache davon geben wir dies an daß dasselbe die Freiheit des Volkes allzu sehr beschränkte und den Despotismus über die Gebühr ausdehnte und dadurch Eintracht und Gemeinsinn im Staate untergrub. Sind nämlich diese dahin, dann ist die Sorge der Herrscher auch nicht mehr auf das Wohl ihrer Untertanen und des Volkes gerichtet, sondern auf ihre eigene Herrschaft bedacht, geben sie, wenn sie auch nur ein Geringes dabei zu gewinnen hoffen, Städte, geben sie befreundete Völker der Verwüstung und Vernichtung mit Feuer und Schwert Preis, und indem sie so feindseligen und unerbittlichen Haß ausüben, ziehen sie ihn sich selber in gleichem Maße zu, und umgekehrt finden sie dann auch seitens der Völker, so bald sie in den Fall kommen des Beistandes derselben zu bedürfen, bei dem mangelnden Gemeinsinne unter ihnen keine Bereitwilligkeit zu kämpfen und sich Gefahren auszusetzen, sondern die unzähligen Tausende von Truppen welche die Herrscher besitzen sind ihnen sämtlich unnütz zum Kriege, und gerade als ob sie Mangel an Leuten hätten, sehen sie sich genötigt Söldner in Dienst zu nehmen und so von fremden Mietlingen ihr Heil zu erwarten. [698 St.] Und dazu verfallen sie notwendig in Torheit, da ihre Werke bekunden, daß bei ihnen Alles was für wertvoll und trefflich im Staate gilt Tand ist verglichen mit Gold und Silber.

MEGILLOS: Sehr richtig.

DER ATHENER: Damit mag denn nun die Erörterung dessen daß die heutige Verwaltung des persischen Staates nicht die richtige ist, weil übermäßige Skaverei und übermäßiger Despotismus in ihr herrschen, ihr Ende haben.

MEGILLOS: Gut.

DER ATHENER: Was dagegen die Verfassung Attikas anlangt, so werden wir nunmehr nicht minder zu zeigen haben daß eine unbeschränkte und von allen Obrigkeiten unabhängige Freiheit um nicht Weniges schlechter sei als eine das rechte Maß haltende Beherrschung durch Andere. Wir hatten nämlich zu jener Zeit als der Angriff der Perser auf die Griechen und vielleicht auf beinahe alle Bewohner Europas stattfand noch die alte Staatsverfassung, in welcher die Staatsgewalten nach den vier Schatzungsklassen bestimmt waren, und eine gewisse sittliche Scheu herrschte in uns, vermöge deren wir willig den damaligen Gesetzen gehorchten; und dazu erhöhte auch noch die Größe des wider uns zu Lande und zur See ausgesandten Heereszuges durch die ratlose Furcht welche sie uns einflößte diese unsere Unterwürfigkeit unter die Obrigkeiten und Gesetze, und durch dies Alles gedieh die innere Eintracht bei uns in hohem Maße. Denn ungefähr zehn Jahre nach der Seeschlacht von Salamis kam Datis mit dem von ihm geführten persischen Heere, welchen Dareios ausdrücklich gegen die Athener und Eretrier abgesandt hatte, um sie als Sklaven wegzuführen, mit Androhung des Todes im Falle des Mißlingens, und so überwältigte er denn auch die Eretrier mit aller Macht durch seine zahllosen Scharen in kurzer Zeit und ließ die furchtbare Nachricht in unsere Stadt gelangen daß keiner von den Eretriern ihm entronnen sei, denn die Soldaten des Datis hätten eben einander die Hände reichend gleichwie mit einem Fangnetz das ganze eretrische Gebiet umgarnt. Diese Nachricht nun, mochte sie wahr oder wie auch immer entstanden sein, setzte alle Griechen und vor Allem die Athener in Schrecken, und als diese nun nach allen Seiten hin Gesandte ausschickten, da wollte ihnen Niemand zu Hilfe kommen außer den Lakedämoniern, und diese kamen, sei es daß der damals gegen Messene geführte Krieg oder noch irgend ein sonstiger Umstand sie hinderte, denn darüber schweigt die Geschichte, zu spät, nämlich erst einen Tag nach der Schlacht bei Marathon an. Hierauf erscholl das Gerücht von neuen großen Rüstungen und vielfältigen Drohungen des Königs. Im Verlaufe der Zeit aber hieß es daß Dareios gestorben sei, jedoch sein Sohn, jung und hitzig, die Herrschaft wieder übernommen habe und keineswegs von dem Kriegszuge abzustehen gedenke. [699 St.] Die Athener nun hielten sich für das Ziel aller dieser Rüstungen wegen des Vorfalls bei Marathon, und da sie hörten daß der Athos durchstochen und der Hellespontos überbrückt wurde und von der Menge der feindlichen Schiffe erfuhren, so sahen sie keine Möglichkeit mehr weder zu Lande noch zur See sich zu retten, denn keiner werde ihnen zu Hilfe kommen. Eingedenk dessen nämlich daß auch nicht einmal als die Feinde jenen ersten Einfall machten und jene Untaten in Eretria verübten, irgend Jemand sie unterstützt und die Gefahr mit ihnen geteilt hätte, glaubten sie, ebenso werde es auch diesmal wenigstens zu Lande geschehen. Aber auch zu Wasser fanden sie keine Aussicht auf Rettung, da tausend Schiffe und noch mehr gegen sie heranfuhren. Nur Einen Ausweg erblickten sie noch, einen schwachen und unsichern, aber doch den einzigen, indem sie nämlich auf das früher Geschehene zurückschauten, wie sie aus verzweifelter Lage auch damals durch Kampf zum Siege hindurchgedrungen waren, und von dieser Hoffnung getragen fanden sie daß ihre einzige Zuflucht sie selbst und die Götter seien. Dies Alles trieb sie nun zu einem engen Zusammenhalten, nämlich die Furcht vor der damals bevorstehenden Gefahr und die welche durch die einstigen Gesetze hervorgerufen und durch die Unterwürfigkeit unter dieselben ihnen eingeflößt war, jene Art von Furcht die wir in unserem bisherigen Gespräche früher mehrmals Scham genannt haben und von welcher wir auch behaupten daß Alle welche tugendhaft werden wollen sich ihr unterwerfen müssen, deren aber die Menge des Volkes sonst bar und ledig zu sein pflegt. Hätte daher dermalen nicht Angst dasselbe ergriffen, so würde es sich damals schwerlich zur Gegenwehr vereinigt und Tempel und Grabmäler und das Vaterland mit Allem was sonst dem Menschen lieb und teuer ist, wie es damals geschah, verteidigt haben, sondern einzeln wären unsere Leute damals bei Kleinem auseinandergelaufen und hätten sich hierhin und dorthin zerstreut.

MEGILLOS: Sehr richtig, Freund, hast du gesprochen und auf eine deiner und deines Vaterlandes würdige Weise.

DER ATHENER: So ist es, Megillos, denn an dich, der du die Gesinnungen deines Hauses teilst, habe ich billigerweise meine Erzählung der damaligen Begebenheiten zu richten. Sehet daher zu, du und Kleinias, ob dieselbe irgendwie geeignet ist uns zur Einsicht in das Wesen der Gesetzgebung zu verhelfen, denn nicht um ihrer selbst willen trage ich sie vor, sondern um des angegebenen Zweckes willen. Denn seht nur, da uns gewissermaßen dasselbe Unglück widerfuhr wie den Persern, und zwar diesen dadurch daß sie das Volk in die tiefste Sklaverei erniedrigten, uns dagegen, indem wir gerade im Gegenteil die Menge zu schrankenloser Freiheit erhoben, wie und was sollen wir da nun ferner sagen, wenn anders unsere bisherigen Erörterungen wenigstens bis zu einem gewissen Grade richtig sind?

[700 St.] MEGILLOS: Wohl gesprochen. Versuche aber doch uns noch deutlicher zu erklären worauf du hiermit hinaus willst.

DER ATHENER: Das soll geschehen. Es war, Freunde, bei uns unter der alten Verfassung das Volk nicht Herr über irgend Etwas, sondern stand, so zu sagen, in freiwilliger Dienstbarkeit unter den Gesetzen.

MEGILLOS: Unter welchen Gesetzen meinst du?

DER ATHENER: Zunächst unter denen über die musische Kunst in ihrer damaligen Beschaffenheit, um von seinem ersten Ursprung an das Wachstum des allzu freien Lebens zu verfolgen. Sie war nämlich damals bei uns in ihre besonderen Gattungen und Arten geteilt, und eine Gattung des Gesanges waren Gebete an die Götter, welche mit dem Namen von Hymnen bezeichnet wurden, diesen gegenüber stand sodann eine andere, die man gewöhnlich Threnen, Klagelieder nannte, wieder eine andere waren die Päane, und noch eine andere der sogenannte Dithyrambos, eine Ausgeburt, glaube ich, des Dionysos, noch eine andere endlich nannten sie geradezu musikalische Gesetzweisen, und zwar genauer kitharodische.

Alle diese und noch einige andere Arten hatten nun ihre fest bestimmte Ordnung, und es war nicht gestattet die eine Sangesgattung an Stelle einer andern zu gebrauchen. Auch traute man die richtige Einsicht hievon nicht der Menge zu und gab die Macht nach dieser richtigen Einsicht zu urteilen und den Ungehorsamen zu bestrafen nicht ihrem Zischen und rohen Geschrei, wie heutzutage, noch auch die Belobigung ihrem Beifallsklatschen anheim, sondern für die Gebildeten galt es als geziemend ihrerseits schweigend bis zu Ende zuzuhören, die Knaben nebst ihren Aufsehern und die große Masse des Volkes aber wurden mittelst des Polizeistabes in Ordnung und Ruhe gehalten, und die ganze Bürgerschaft unterwarf sich in diesen Stücken willig solchen Anordnungen und begehrte nicht ihr Urteil durch Lärmen abzugeben. Später aber im Verlaufe der Zeit wurden Dichter die ersten Urheber der Gesetz- und Geschmacklosigkeit, nämlich solche die zwar von Natur mit dichterischen Gaben ausgestattet, aber ohne Kenntnis des Rechten und Gesetzmäßigen in den Musenkünsten waren, indem sie in Folge dessen sich ganz vom Taumel der Begeisterung hinreißen ließen und über Gebühr daran hingen ihren Zuhörern Genuß zu bereiten. Demgemäß vermischten sie nämlich Threnen mit Hymnen und Päane mit Dithyramben, ahmten Flötenweisen im Zitherspiel nach und verbanden alles Mögliche mit einander, und legten so aus Unverstand wider ihren eigenen Willen die falsche Ansicht an den Tag daß dieselbe keine feste Regel in sich selber trage, sondern daß der Genuß dessen welcher sich an ihr erfreue, und zwar des Untüchtigeren so gut wie des Tüchtigeren, am Besten das Urteil über sie regle. Da sie nun solche Werke schufen und dazu entsprechende Ansichten äußerten, so raubten sie dadurch der Menge allen Sinn für die Gesetze der Musik und flößten ihr Keckheit im Urteil über dieselbe ein, gerade als ob sie ein solches abzugeben fähig wäre, und in Folge dessen ward denn das Publikum aus einem stillen ein lärmendes, [701 St.] gerade als verstände es sich darauf was in den musischen Künsten schön ist und was nicht, und es entstand in denselben aus einer Herrschaft der Besten ein schlimme Massenherrschaft des Publikums. Hätte sich nämlich in ihnen auch eine Volksherrschaft gebildet, so wäre es, falls dieselbe nur aus wahrhaft freien und eines freien Mannes würdig denkenden Männern bestanden hätte, noch gar so schlimm nicht gewesen, so aber hat bei uns die allgemeine Einbildung, ein Jeder verstehe sich auf Alles, und die allgemeine Verachtung der Gesetze von der musischen Kunst her ihren Ursprung genommen, und an sie schloß sich die allgemeine und zügellose Freiheit. Denn im Vertrauen auf jene seine vermeintliche Einsicht verlor das Volk alle Furcht, und diese Furchtlosigkeit erzeugte Unverschämtheit, denn aus dreister Zuversicht vor dem Urteil der Besseren keine Scheu und Ehrfurcht zu haben, das ist bereits die schmähliche Unverschämtheit welche die gewöhnliche Folge einer sich allzuviel herausnehmenden Freiheit ist.

MEGILLOS: Das ist sehr wahr.

DER ATHENER: Auf diese Freiheit wird dann gar bald die folgen daß man der Obrigkeit sich nicht mehr unterwerfen will, und darauf wieder die daß man sich der Unterwürfigkeit unter Vater, Mutter und ältere Leute und den Vorschriften derselben zu entziehen sucht, dann, wenn man bereits beinahe bis zum Äußersten gekommen ist, die daß man dem Gehorsam gegen die Gesetze zu entgehen trachtet, und endlich als dieses Äußerste selbst die daß man um Schwüre und Treu und Glauben und überhaupt um die Götter sich nicht mehr kümmert, sondern die alte Titanenart, von der man erzählt, wieder nachahmt und kundgibt, aber dann auch wieder dem gleichen Schicksale verfällt ein unseliges Leben zu führen und nie ein Ende seiner Plagen zu finden. Zu welchem Zwecke aber haben wir, so fragen wir von Neuem, dies wiederum bemerkt? Denn es scheint mir notwendig zu sein daß man fortwährend seinem Munde gleichsam Zügel anlegt und seine Rede anhält, auf daß sie nicht mit uns durchgehe und wir nicht, wie man wohl zu sagen pflegt, vom Pferde fallen, und so wollen denn auch wir in Bezug auf das jetzt eben Bemerkte wiederholt fragen, weswegen es bemerkt ward.

MEGILLOS: Schön.

DER ATHENER: Nun, es geschah wegen folgendem.

MEGILLOS: Nun?

DER ATHENER: Wir behaupteten daß der Gesetzgeber bei seiner Gesetzgebung dreierlei im Auge haben müsse, nämlich daß der Staat welcher sie empfängt frei, daß er innerlich einträchtig und daß ihm eine verständige Leitung zu Teil werde. So war es, nicht wahr?

MEGILLOS: Ja wohl.

DER ATHENER: Zur Bestätigung dieser Sätze nun haben wir jetzt eben von Staatsverfassungen die despotischste und die freieste vorgenommen, um zu sehen ob eine von beiden eine gute Verfassung heißen könne, und da nahmen wir denn dabei in jeder von beiden ein gewisses Mittelmaß, dort von despotischer Gewalt und hier von Freiheit, und bemerkten daß bei einem solchen ein ganz vorzügliches Gedeihen eintrat, und daß dagegen, wenn beiderlei Staaten es bis aufs Äußerste, der eine in der Sklaverei, der andere im Entgegengesetzten, getrieben hatten, es weder diesem noch jenem glücklich erging.

[702 St.] MEGILLOS: Sehr richtig.

DER ATHENER: Und in gleicher Absicht fürwahr betrachteten wir auch die Niederlassung des dorischen Heeres und die Ansiedlung des Dardanos am Fuße des Gebirges und die Staatengründungen an der Meeresküste und schilderten jene Ersten, von der allgemeinen Vernichtung Übriggebliebenen, und unsere noch vor Allem diesem gehabten Gespräche über die musische Kunst und über die Trunkenheit und was dem noch wieder voraufging. Denn dies Alles zielte auf die Erkenntnis ab, wie wohl ein Staat am besten eingerichtet sein und eben so jeder Einzelne für sich selbst am besten sein Leben führen möge. Ob wir nun aber wirklich damit etwas zu diesem unserem Zwecke gefördert haben, welcher Beweis könnte uns dafür wohl hier unter uns selbst vorgebracht werden, lieber Megillos und Kleinias?

KLEINIAS: Ich glaube, Freund, einen solchen zu entdecken. Durch einen glücklichen Zufall scheinen wir gerade auf alle diese von uns durchgegangenen Erörterungen verfallen zu sein. Denn ich wenigstens dürfte gerade in dem Falle sein jetzt davon Gebrauch zu machen, und so seid denn auch ihr eurerseits, du und Megillos da, recht zur gelegenen Zeit hierher gekommen, denn ich will euch nicht verhehlen welcher Art dieser mein Fall ist, sondern nehme dies vielmehr noch obendrein zum günstigen Zeichen. Der größere Teil der Kreter steht im Begriffe eine Kolonie zu gründen und hat die Leitung dieser Angelegenheit den Knosiern, der knosische Staat aber mir mit neun Anderen aufgetragen. Zugleich hat er uns aufgegeben Gesetze vorzuschreiben und uns dabei nicht bloß unter den hiesigen diejenigen welche uns gefallen auszuwählen, sondern auch anderwärts bestehende, falls diese uns besser zusagen sollten, ohne Rücksicht auf den fremdländischen Ursprung derselben zu diesem Zwecke zu benutzen erlaubt. Tut also mir und euch selbst den Gefallen und laßt uns aus dem Besprochenen auswählen und darnach in unserm Gespräche einen Staat entwerfen, indem wir ihn gleichsam vom Anfang her einrichten. Es wird sich damit teils die Probe für unsere bisherigen Untersuchungen ergeben, teils werde ich vielleicht für die zu gründende Kolonie von diesem unserem Entwurfe Gebrauch machen können.

DER ATHENER: Damit kündigst du mir keinen Krieg an, lieber Kleinias, und wenn es nicht dem Megillos entgegen ist, so sei versichert daß ich meinerseits deinem Wunsche mit allen meinen Kräften zu Gebote stehe.

KLEINIAS: Wohlgesprochen.

MEGILLOS: Und ich meinerseits nicht minder.

KLEINIAS: Das ist Recht von euch, und so laßt uns denn in unserer Schilderung zuerst unsere Stadt anzulegen versuchen.

VIERTES BUCH


[704 St.] DER ATHENER: Wohlan denn, welche Bezeichnung darf man dieser eurer künftigen Anlage geben? Ich meine dies aber nicht so als ob ich darnach fragen wollte welchen Namen sie denn zur Zeit hat und welchen man in Zukunft ihr beilegen soll, denn diesen wird im neuentstandenen Staate die Gründung oder irgend eine Örtlichkeit geben oder man wird ihm den geheiligten Namen eines Flusses oder einer Quelle oder eines der in jener Gegend einheimischen Gottheiten beiliegen. Was ich von diesem Staate durch jene Frage erfahren will ist vielmehr dies: ob es ein See- oder Landstaat werden wird.

KLEINIAS: Die Stadt auf welche sich unser jetziges Gespräch bezieht, lieber Freund, ist vom Meere wohl gegen achtzig Stadien entfernt.

DER ATHENER: Wie aber? Sind Hafenplätze auf dieser Seite derselben oder ist sie ganz und gar ohne solche?

KLEINIAS: Sie hat dort so treffliche Hafenplätze, Freund, als man es nur verlangen kann.

DER ATHENER: O weh, was sagst du da! Doch wie steht's mit der umliegenden Gegend? Ist sie an Allem fruchtbar oder fehlen ihr einige Erzeugnisse?

KLEINIAS: Kaum.

DER ATHENER: Und wird eine Nachbarstadt nicht weit entfernt liegen?

KLEINIAS: Keineswegs, sondern eben deshalb weil dies nicht der Fall ist wird diese Kolonie gegründet. Eine alte Auswanderung nämlich, welche dort stattgefunden, hat das Land seit unbedenklicher Zeit wüst gelassen.

DER ATHENER: Und weiter: wie sind dort Ebenen, Berg und Wald verteilt?

KLEINIAS: Es kommt die natürliche Beschaffenheit dieser Gegend ganz der des übrigen Kreta gleich.

DER ATHENER: Du würdest sie also eher eine bergige als eine ebene nennen.

KLEINIAS: Allerdings.

DER ATHENER: Dann ist der Schade noch heilbar und noch nicht alle Aussicht dahin diesem neuen Staat tüchtige Bürger zu geben. Denn wenn diese Stadt nicht bloß an der See zu liegen käme und gute Hafenplätze hätte, sondern dabei auch nicht alle ihre Bedürfnisse selber erzeugte und vieles derselben nicht hervorbrächte, so wäre ihr ein großer Retter und gottgeleitete Gesetzgeber vonnöten, wenn sei nicht bei einer solchen Natur des Landes vielerlei eben so buntscheckige als nichtswürdige Sitten in sich aufnehmen sollte, so aber liegt eine Beruhigung in den achtzig Stadien. Freilich liegt sie auch so noch der See näher als gut ist, und zwar wohl um so mehr, [705 St.] da die ganze Küste nach deiner Aussage mit guten Hafenplätzen versehen ist, gleichwohl muß aber auch dies schon zu unserer Befriedigung dienen. Denn die Nähe des Meeres bietet zwar Tag für Tag ihre süßen Reize dar, in Wahrheit aber ist es eine salzige und bittere Nachbarschaft. Indem sie nämlich die Bürger mit Handelsgeist und krämerischer Gewinnsucht erfüllt und ihren Seelen einen trügerischen und unzuverlässigen Charakter einflößt, so entfremdet sie sie der Treue und dem Wohlwollen gegen einander so wie gegen andere Menschen. Eine fernere Beruhigung in Bezug auf diese Gefahren nun liegt darin daß das Gebiet der neuen Kolonie alle Erzeugnisse selber hervorbringt, und da es bergig ist, so ist es offenbar daß es mit dieser Allergiebigkeit dennoch nicht zugleich eine Vielergiebigkeit verbinden wird, denn wäre dies der Fall, so würde es ja eine reiche Ausfuhr ermöglichen und so wiederum der Staat mit Gold- und Silbergeld überschwemmt werden, ein Übel wie es, geradezu gesagt, wenn man Eins gegen das Andere hält, einem Staate nicht größer begegnen kann, indem Nichts die Bildung edler und rechtlicher Charaktere so sehr erschwert, wie wir, wenn ihr euch dessen erinnert, schon im Verlaufe unseres Gesprächs bemerkt haben.

KLEINIAS: Wir erinnern uns dessen wohl und finden daß wir damals Recht hatten und jetzt Recht haben.

DER ATHENER: Und nun weiter! Wie ist das Land mit Holz zum Schiffbau versehen?

KLEINIAS: Es wächst dort keine Tanne, die der Rede wert wäre, und auch keine Föhre und nicht viele Zypressen, und auch Fichten und Platanen, welche die Schiffbauer stets zu den inneren Teilen der Schiffe gebrauchen müssen, findet man nur wenig.

DER ATHENER: Auch in dieser Hinsicht ist die Natur des Landes ein wahres Glück für dasselbe.

KLEINIAS: In wie fern denn?

DER ATHENER: Es ist ein Glück wenn ein Staat seine Feinde in ihren schlechten Eigenschaften nicht leicht nachahmen kann.

KLEINIAS: Was von dem bisher Versprochenen hast du bei dieser Bemerkung im Sinne?

DER ATHENER: Guter Freund, nimm mich in Obacht, indem du dabei stets das im Auge behältst was im Anfange über die kretischen Gesetze bemerkt worden ist, daß sie nämlich nur auf Einen Zweck ihr Absehen gerichtet hätten. Ihr nämlich sagtet daß dies der Krieg sei, ich dagegen erinnerte daß es allerdings das Richtige sei wenn solche gesetzliche Einrichtungen die Tugend zum Zwecke hätten, daß ich es aber nicht eben billigen könne wenn sie bloß auf einen Teil und nicht nach Kräften auf die Gesamtheit derselben ihr Absehen gerichtet hätten. Jetzt also nehmt ihr eurerseits wiederum mich in Obacht, indem ihr mir bei der vorliegenden Gesetzgebung folgt, ob ich nämlich irgend Etwas was nicht zur Tugend oder was nur zu einem Teile der Tugend hinführt als Gesetz hinstellen werde. Denn ich bin der Meinung daß nur dasjenige Gesetz richtig gegeben ist welches wie ein Bogenschütze stets sein Ziel im Auge behält, [706 St.] dasjenige welchem allein beständig eins jener bleibenden Güter nachfolgt, alles Andere aber, mag es nun in Reichtümern oder irgend etwas Anderem der Art bestehen, wenn es ohne das Vorerwähnte ist, außer Acht läßt. Bei der Nachahmung der Feinde in ihren schlechten Eigenschaften nun dachte ich an solche Fälle wo ein am Meere wohnendes Volk den Plackereien seiner Feinde ausgesetzt ist, wie etwa den folgenden, die ich aber keineswegs in der Absicht erwähne um euch durch die Erinnerung an dieselben zu verletzen. Minos nämlich zwang vor Zeiten die Bewohner von Attika zu einer harten Tributzahlung, indem er im Besitze einer Seemacht war, sie aber noch weder Kriegsschiffe, wie jetzt, besaßen, noch auch ein Land voll von Schiffsbauholz, so daß sie sich leicht eine Seemacht hätten schaffen können. Sie waren daher nicht im Stande durch Nachahmung des Schiffswesens schon damals gleich selber Seeleute zu werden und die Feinde von sich abzuwehren. Ja, es wäre ihnen auch ersprießlicher gewesen noch öfter sieben Knaben zu verlieren als aus schwer bewaffneten, Stand haltenden Landtruppen Seekämpfer zu werden und sich so daran zu gewöhnen häufige Landungen zum Zwecke eilfertiger Streifzüge zu machen und sich dann geschwinde wieder auf ihre Schiffe zurückzuziehen und es so für keine Schande zu erachten wenn man dem Andrange der Feinde nicht Stand hält und nicht daran sein Leben wagt, sondern vielmehr gleich allerlei scheinbare Vorwände bereit hat um die Waffen wegzuwerfen und eine angeblich gar nicht schimpfliche Flucht zu ergreifen. Denn solche Redensarten pflegen sich im Seedienst zu bilden, die das oft unermeßliche Lob welches man ihnen zollt keineswegs, sondern das Gegenteil verdienen, weil man nie an schlechte Sitten gewöhnen soll und am Wenigsten den besten Teil der Bürger, und man hätte auch schon aus Homer entnehmen können daß ein solcher Brauch nicht lobenswert sei. Denn Odysseus schmäht bei ihm den Agamemnon daß er die Achäer zu der Zeit da die Troer sie im Kampfe bedrängen die Schiffe ins Meer ziehen heißt, und ruft ihm die zürnenden Worte zu:

„Der du verlangst wir sollen die wohlumruderten Schiffe

Mitten im Kampfesgewühl in das Meer ziehn, daß um so mehr noch

Alles erwünscht ausginge den so schon siegenden Troern,

Aber auf uns einbräche das Schrecklichste! Denn die Achäer

Stehn nicht mehr im Gefechte, sobald wir die Schiff' in das Meer ziehn,

Sondern sie werden zurück gleich schaun und des Kampfes vergessen.

[707 St.] Alsdann wird dein Rat ein verderblicher, Herrscher der Völker!"

Das also erkannte auch Jener, daß es vom Übel sei wenn Dreiruderer auf der See halten, während die Schwerbewaffneten im Kampfe begriffen sind. Auch Löwen würden sich vor Hirschen zu fliehen gewöhnen, wenn sie solcherlei Bräuche annähmen. Zudem legen die Staaten deren Stärke in ihrer Seemacht besteht auch ihre Erhaltung nicht dem vorzüglichsten Teile ihrer Krieger in die Hände und erteilen daher auch nicht diesem die Auszeichnungen. Denn mit Rücksicht auf Geschicklichkeit im Steuern, in der Leitung von Fünfzigruderern und im Rudern, was Alles eben von allerlei und nicht sonderlich trefflicher Art von Leuten betrieben zu werden pflegt, kann man die Auszeichnungen nicht wohl richtig so wie sie einem Jeden zukommen verteilen. Und wie kann es wohl eine gute Staatsverfassung geben, in welcher dies nicht der Fall ist?

KLEINIAS: Freilich ist das wohl unmöglich. Indessen heißt es doch hier bei uns in Kreta allgemein daß der Seesieg der Griechen bei Salamis über die Barbaren Griechenland gerettet habe.

DER ATHENER: Urteilen doch die meisten Griechen und Nichtgriechen eben so. Wir aber, Freund, ich und da unser Megillos, sind der Meinung daß von den Landschlachten bei Marathon und Platää die erstere die Rettung von Griechenland begonnen und die letztere sie zur Vollendung gebracht habe und daß diese die Griechen sittlich gehoben haben, jene andern aber nicht, um so mein Urteil über alle Schlachten auszudehnen welche uns damals gerettet haben, denn ich will zu dem Seesiege bei Salamis noch den bei Artemision hinzufügen. Indessen betrachten wir auch jetzt vielmehr was eine Verfassung vortrefflich macht, und fassen zu dem Ende die Natur des Landes und die Anordnung der Gesetze ins Auge, indem wir keineswegs, wie die Mehrzahl der Menschen, der Meinung sind daß das bloße Erhaltenwerden und Fortbestehen das Wertvollste für uns ist, sondern vielmehr daß wir so tugendhaft als möglich werden und es bleiben so lange wir sind. Auch das ist, glaube ich, im Vorigen von uns bemerkt worden.

KLEINIAS: Allerdings.

DER ATHENER: So wollen wir also das allein in Betracht ziehen, ob wir denselben Weg welcher für die Staaten der beste ist auch schon bei ihrer Gründung und gesetzlichen Anordnung einschlagen sollen.

KLEINIAS: Gewiß ist das auch hierbei schon der beste Weg.

DER ATHENER: So sage mir denn nun das hieran sich Anschließende: aus was für Volk soll eure Niederlassung bestehen? Kann aus ganz Kreta Jeder welcher Lust hat an ihr Teil nehmen, wo etwa die Volksmasse in dieser oder jener Stadt für den Ertrag des Bodens zu groß geworden ist? Oder wollt ihr gar Jeden aus Griechenland welcher geneigt dazu ist mitnehmen? Wenigstens sehe ich Leute aus Argos, Ägina und aus anderen griechischen Staaten in eurem Lande angesiedelt. [708 St.] Sage mir also jetzt zunächst, woher soll die Schar dieser Bürger kommen?

KLEINIAS: Aus ganz Kreta, glaube ich. Von den übrigen Griechen aber wird man, wie ich denke, vorzugsweise Peloponnesier als Genossen aufnehmen. Denn du hast ganz recht mit deiner so eben gemachten Bemerkung, daß Leute die aus Argos stammen hier wohnen, wie gerade das jetzt am meisten hier in Ansehen stehende Geschlecht, das gortynische, denn dieses hat sich von der Stadt Gortyn im Peloponnes her übergesiedelt.

DER ATHENER: Die Anlegung einer Kolonie nun wird den Staaten nicht so leicht, so bald sie nicht nach Art eines Bienenschwarmes auszieht, indem der gleiche Stamm aus der gleichen Gegend, Freunde von Freunden, durch Mangel an Raum oder andere derartige Übelstände gedrängt, auswandert, um sich anderswo anzusiedeln. Es begegnet nämlich ja auch daß ein Teil der Bürgerschaft durch Unruhen mit Gewalt dazu gezwungen wird, sich eine neue Heimat zu suchen, ja es ist auch wohl schon vorgekommen daß eine ganze Gemeinde, weil sie einer mächtigeren gänzlich im Kriege unterlag, das Land verließ. In allen diesen Fällen nun wird es einerseits leichter, andererseits aber auch schwerer sein eine Kolonie zu gründen und ihr ihre gesetzlichen Einrichtungen zu geben. Denn zu einem und demselben Stamme zu gehören, welcher dieselbe Sprache redet und unter denselben Gesetzen gelebt, auch an den gleichen Heiligtümern, Opfern und allen dahin gehörenden Gebräuchen Teil hat, setzt eine gewisse Freundschaft, andere Gesetze und Verfassungen aber als die einheimischen läßt sich eine solche Schar nicht leicht gefallen, und ist es ein Volk welches zuweilen wegen der Schlechtigkeit seiner Gesetze in Aufruhr gelebt hat und nun doch aus Gewohnheit die alten Bräuche fortzuführen sucht, durch welche es eben zuvor ins Verderben geriet, so wird es gegen den Führer und Gesetzgeber der Kolonie halsstarrig und widerspenstig sein. Dagegen wird ein aus verschiedenartigen Bestandteilen zu einem Ganzen zusammengeflossenes Volk zwar wohl eher geneigt sein sich neuen Gesetzen zu unterwerfen, allein dasselbe zu völligem Einklang und es dahin zu bringen daß es, wie ein Gespann Pferde, völlig vereint, wie man wohl sagt, gleichen Schritt laufe, das ist eine langwierige und schwierige Aufgabe. Indessen ist und bleibt Gesetzgebung und Staatseinrichtung das allervollkommenste Mittel um die Menschen zur Tugend zu erziehen.

KLEINIAS: Wohl richtig. Doch in welcher Absicht du wieder diese Bemerkung machtest, darüber erkläre dich noch deutlicher.

DER ATHENER: Mein Guter, es scheint als ob ich bei diesem neuen Anlauf meiner Erörterung über die Gesetzgeber auch etwas Unvorteilhaftes von ihr werde sagen müssen, allein wenn es einmal zu Sache gehört, so wird es nichts weiter damit auf sich haben. Und warum sollte ich mir auch ein Bedenken daraus machen? Geht es doch allem Anscheine nach mit allen menschlichen Verhältnissen eben so.

KLEINIAS: Was meinst du denn eigentlich?

[709 St.] DER ATHENER: Ich wollte sagen daß kein Mensch irgend ein Gesetz machen kann, sondern daß allerlei Zufälle und Umstände durch ihr Eintreten auf allerlei Art alle unsere gesetzlichen Einrichtungen bestimmen. Denn bald ist es ein Krieg welcher gewaltsam Verfassungen umstürzt und Gesetze umgestaltet, bald die drückende Armut und Not, und vielfach rufen auch Seuchen und lange Zeit, oft viele Jahre hindurch, andauernder Mißwachs gewaltsame Neuerungen hervor. Wenn man nun dies Alles im Voraus berechnet, so wird man sich wohl dazu hingetrieben fühlen auszusprechen was ich so eben aussprach, daß kein Sterblicher irgend ein Gesetz macht, sondern daß alle menschlichen Verfügungen ganz von den Verhältnissen abhängen, und das Gleiche läßt sich mit gutem Anschein auch von der Tätigkeit des Schiffers und des Steuermanns, des Arztes und des Feldherrn sagen. Gleichwohl indessen läßt sich auch wiederum Folgendes von eben denselben Dingen mit Grund behaupten.

KLEINIAS: Nun?

DER ATHENER: Daß zwar die Götter über Alles und neben den Göttern Glück und Gelegenheit über alle menschlichen Verhältnisse walten, daß jedoch, um weniger strenge zu sein, noch zugegeben werden mag daß als Drittes auch noch menschliche Geschicklichkeit hinzukommen müsse. Denn wenn der Sturm uns auf sie anweist, die Kunst des Steuermanns zu Hülfe zu haben oder nicht, das erachte ich wenigstens für einen großen Unterschied. Nicht wahr, so ist es?

KLEINIAS: Ja.

DER ATHENER: Wird es sich nun nicht mit allen andern Künsten und Fertigkeiten entsprechend verhalten, und mithin auch der Gesetzgebung ein Gleiches einzuräumen sein, daß nämlich, wenn alles Andere zusammentrifft was da zusammentreffen muß wenn ein Land sich wohl befinden soll, auch noch das mit hiezu erforderlich ist daß einem solchen Staate jedesmal ein seines Namens in Wahrheit würdiger Gesetzgeber zu Teil werde?

KLEINIAS: Du hast ganz Recht.

DER ATHENER: Wer also eine von den genannten Kunstfertigkeiten besäße, der könnte mit Recht darum beten, es möge ihm von Glücke Dasjenige zu Teil werden bei dessen Besitz er nur noch seiner Kunst bedürfte?

KLEINIAS: Allerdings.

DER ATHENER: Und wenn nun die Meister in allen andern von diesen vorerwähnten Künsten aufgefordert würden den Gegenstand dieses ihres Gebetes zu nennen, so würden sie sich dessen nicht weigern? Nicht wahr?

KLEINIAS: Warum sollten sie?

DER ATHENER: Und ein Gleiches, denke ich, wird auch der Gesetzgeber tun?

KLEINIAS: Nach meinem Dafürhalten wenigstens.

DER ATHENER: Wohlan denn, Gesetzgeber, so laßt uns daher zu ihm sprechen, was für einen Staat und in welchem Zustande sollen wir ihn dir übergeben, damit du nach Übernahme desselben weiterhin selber ihn genügend einrichten kannst? Was kann man nun mit Recht hierauf erwidern?

KLEINIAS: Die Antwort des Gesetzgebers sollen wir angeben? Nicht wahr?

DER ATHENER: Freilich, und zwar ist es folgende. Gebt mir einen Staat, wird er sagen, der von einem Tyrannen beherrscht wird. Es sei derselbe aber ein junger Mann, mit gutem Gedächtnis und guter Fassungsgabe ausgerüstet, tapfer und von Natur edelgesinnt, und was wir vorher als die notwendig erforderliche Begleiterin von irgend welchem Teile der Tugend bezeichnet haben, [710 St.] das muß jetzt auch der Seele dieses Herrschers mitgegeben werden, wenn aus jenen anderen Eigenschaften irgend ein Nutzen hervorgehen soll.

KLEINIAS: Unser Gastfreund, lieber Megillos, scheint mir die Besonnenheit zu meinen. Nicht wahr?

DER ATHENER: Ja wohl, aber nicht jene höhere Mäßigung und Besonnenheit welcher man den Preis zusprechen könnte wirklich die Besinnung des Geistes und also mit der Weisheit einerlei zu sein, sondern jene niedere, die bereits gleich an den Kindern und auch an Tieren emporblüht, indem es den einen angeboren ist daß sie unmäßig in den Genüssen, den andern aber daß sie mäßig in denselben sind, mit andern Worten, diejenige Mäßigung von der wir auch im Vorigen bemerkten daß sie, abgesondert von der Menge alles dessen was Güter heißt, keinen Wert habe. Ihr versteht ohne Zweifel was ich meine.

KLEINIAS: Ja wohl.

DER ATHENER: Diese Naturgabe also muß der Tyrann zu jenen andern haben, wenn der Staat so schnell und so vollständig als möglich die Verfassung bekommen soll durch deren Erreichung er in den glückseligsten Zustand versetzt werden wird. Denn eine schnellere und bessere Art dieser Verfassung einzuführen gibt es nicht und wird es auch wohl niemals geben.

KLEINIAS: Wie und durch welche Gründe, Freund, kann man denn die Überzeugung erwecken daß man diese Behauptung mit Recht aufgestellt habe?

DER ATHENER: Es ist ja leicht einzusehen, Kleinias, daß es nach der Natur der Sache nicht anders sein kann.

KLEINIAS: Wie so? Du sagst doch: wenn ein Tyrann da wäre, jung, besonnen, von leichter Fassungsgabe und starkem Gedächtnis, tapfer und edelgesinnt?

DER ATHENER: Füge noch hinzu: und vom Glücke begünstigt, und zwar, wenn nicht in anderen Stücken, so doch darin daß es zu seiner Zeit einen ausgezeichneten Gesetzgeber gibt und daß ein glücklicher Zufall denselben an einen Ort mit ihm zusammenführt. Denn wenn das geschehen ist, dann hat der Gott so ziemlich Alles getan was von ihm herrühren muß, wenn er will daß es irgend einem Staate ausgezeichnet wohl ergehe. Minder günstig ist es wenn in einem solchen zwei derartige Fürsten zusammen regieren, und so gestaltet sich die Sache immer in demselben Verhältnisse um so ungünstiger und schwieriger je größer, und um so günstiger und leichter je kleiner die Zahl der Regierenden ist.

KLEINIAS: Du meinst also, wie es scheint, daß aus der Tyrannis der beste Staat vermöge eines ausgezeichneten Gesetzgebers und eines wohlgearteten Tyrannen hervorgehen könne, und daß unter diesen Voraussetzungen aus ihr der Übergang in denselben im leichtesten und am schnellsten geschehen werde, in zweiter Linie aber der aus der Oligarchie. Nicht wahr? Und an dritter Stelle endlich steht der aus der Demokratie?

DER ATHENER: Keineswegs, sondern an erster Stelle steht der aus der Tyrannis, an zweiter aus einem Königtume, an dritter aus einer Demokratie. Die Oligarchie endlich viertens wird die Entstehung eines solchen Staates am schwierigsten zulassen, weil in ihr die meisten Machthaber sind. Ich behaupte nämlich, daß eine solche dann eintreten wird wenn ein echter Gesetzgeber, den die Natur selber dazu gestempelt hat, vorhanden ist und die obersten Machthaber des Staates eine Gemeinschaft mit ihm eingehen welche ihm ihre eigene Gewalt leiht. [711 St.] Wo nun diese Gewalt in den wenigsten Händen, und deshalb am stärksten ist, und dies ist eben in der Tyrannis der Fall, da und unter solchen Umständen wird die Staatsumwandlung leicht und schnell von Statten gehen.

KLEINIAS: Wie so? Wir verstehen dich nicht.

DER ATHENER: Und doch meine ich hierüber schon mehr als einmal mich ausgesprochen zu haben. Ihr habt aber vielleicht überhaupt noch nicht einen von einem Tyrannen beherrschten Staat gesehen?

KLEINIAS: Auch trage ich für meine Person gar kein Verlangen nach diesem Anblick.

DER ATHENER: Und doch würde dir aus ihm gerade das einleuchten was ich jetzt eben behaupte.

KLEINIAS: Nun was denn?

DER ATHENER: Daß ein Tyrann welcher die Bräuche seines Staates umzuwandeln beabsichtigt dazu durchaus keiner Anstrengung noch auch gar langer Zeit bedarf, sondern daß er nur selber zuerst den Weg zu betreten braucht auf welchem er die Bürger sei es zum Streben nach der Tugend sei es zum Gegenteile hinführen will, und durch seinen eigenen Vorgang im Handeln in allen Stücken das Muster aufstellt und das Eine zu Lob und Ehre, das Andere aber zu Tadel und Schande bringt, so daß von der letzteren bei jeder ihrer Handlungen Diejenigen betroffen werden welche ihm nicht nachfolgen.

KLEINIAS: Ich glaube selber beinahe daß die andern Bürger bald Demjenigen nachfolgen werden welcher neben einer solchen Art von Überredung auch noch Gewalt in den Händen hat.

DER ATHENER: Niemand soll uns glauben machen, Freunde, daß auf eine andere Weise als durch den Voraufgang und die Führung seiner Machthaber je ein Staat leichter und schneller eine Umgestaltung seiner Gesetze zu Stande bringen kann weder heutzutage noch auch in Zukunft; und es kann dies uns weder für unmöglich noch auch nur für schwierig gelten. Aber das hält schwer und ist demzufolge während langer Zeit auch nur selten begegnet, wenn es aber eintritt, dann verschafft es dem Staate, in welchem immer es Platz greift, unzählig viel, ja alles mögliche Gute.

KLEINIAS: Nun, was meinst du?

DER ATHENER: Daß einmal eine gottgesandte Liebe zu einer besonnenen und gerechten Lebensweise in großen Machthabern, mögen sie nun als Monarchen oder kraft der Größe ihres Reichtums oder des Adels ihres Geschlechtes herrschen, lebendig wird, oder daß einmal Jemand wieder den Charakter des Nestor in sich ins Dasein riefe, von dem es heißt daß er nicht bloß durch die Stärke seiner Beredsamkeit, sondern noch viel mehr durch Besonnenheit und Mäßigung sich vor allen Menschen ausgezeichnet habe. Das hat sich, sagt man, zu Trojas Zeit zugetragen, heutzutage aber gibt es keinen Nestor mehr. Hat aber jemals ein solcher gelebt oder sollte er später wiederum leben oder doch jetzt unter uns leben, so führt nicht bloß er selber ein glückliches Dasein, sondern auch Die welche die Lehren der Besonnenheit aus seinem Munde vernehmen. Überhaupt gilt aber auch von jeder Regierung die gleiche Behauptung, [712 St.] daß die Entstehung der besten Verfassung und der besten Gesetze nur dann eintritt wenn die größte Macht mit Weisheit und Besonnenheit in derselben Person sich vereinigt, sonst aber niemals. Das mag uns denn also wie ein Orakel aus alter heiliger Sage und als eine bewiesene Sache gelten, daß es einerseits schwierig sei einen Staat mit einer guten Gesetzgebung auszurüsten, andererseits aber auch, wenn das von uns Geforderte wirklich eintritt, dies bei Weitem gerade das am allerleichtesten und allerschnellsten Auszuführende ist.

KLEINIAS: Gut.

DER ATHENER: Versuchen wir also gleich wie Knaben es in Wachs oder dergleichen tun, so als Greise in Worten zu bilden und die Gesetze auszuprägen welche wir deinem neuen Staate anpassen wollen.

KLEINIAS: Gehen wir daran und zaudern nicht länger.

DER ATHENER: So laßt uns denn Gott um seinen Beistand bei der Errichtung dieses Staatsgebäudes anflehen. Möge er uns erhören und uns gnädig und huldvoll nahe sein, um uns den Staat und die Gesetze in Ordnung bringen zu helfen!

KLEINIAS: Möge er uns nahen!

DER ATHENER: Nun, welche Verfassung haben wir denn im Sinne dem Staate vorzuschreiben?

KLEINIAS: Was willst du denn damit sagen? Erkläre dich darüber noch deutlicher. Soll das heißen: Demokratie, Oligarchie, Aristokratie oder Königtum? Denn an eine Tyrannis, möchten wir glauben, denkst du doch wohl nicht?

DER ATHENER: Wohlan denn, wer von euch beiden will zuerst antworten und mir von der Verfassung seiner Heimat sagen zu welcher von diesen Regierungsformen sie gehört?

MEGILLOS: Da ist es denn wohl billig daß ich als der Ältere zuerst spreche.

KLEINIAS: Ich denke.

MEGILLOS: Wenn ich denn die in Lakedämon bestehende Verfassung überdenke, so bin ich außer Stande dir so ohne Weiteres anzugeben zu welcher von ihnen man sie zu rechnen hat. Scheint sie mir doch sogar von einer Tyrannis Etwas an sich zu haben, denn die Gewalt der Ephoren ist ein Bestandteil von ihr, der erstaunlich viel Tyrannisches in sich trägt; und dann scheint es mir zuweilen wieder als ob keiner unter allen Staaten so sehr einer Demokratie gleichsehe, und wiederum wäre es nicht ungereimt sie durch und durch eine Aristokratie zu nennen; endlich besteht auch die lebenslängliche königliche Gewalt in ihr, und zwar seit längerer Zeit her als irgend ein anderes Königtum, wie dies nicht bloß von uns selber behauptet, sondern auch von aller Welt zugegeben wird. Ich kann daher, wie gesagt, auf eine so plötzliche Frage wirklich nicht mit Bestimmtheit angeben was für eine von jenen Verfassungen die unsrige ist.

KLEINIAS: Auch ich befinde mich, wie es scheint, mit dir im gleichen Falle, Megillos. Denn auch ich bin ganz in Verlegenheit, zu welcher von jenen Verfassungen ich unsere knosische mit Bestimmtheit zählen soll.

DER ATHENER: Das kommt daher, Beste, weil ihr im Besitze wirklicher Staatsverfassungen seid, während die eben angeführten keine Staatsverfassungen sind, sondern nur das Zusammenwohnen von Leuten in einem Staate bezeichnen, [713 St.] von denen der eine Teil Herren, der andere Sklaven des anderen sind, wo denn das Ganze nach der Macht des ersteren seinen Namen erhält, da doch, wenn ein Staat nach so Etwas benannt werden sollte, man ihn vielmehr nach dem Namen des Gottes benennen müßte welcher der wahre Beherrscher Derer ist die in diesen Dingen die Vernunft besitzen.

KLEINIAS: Welches ist dieser Gott?

DER ATHENER: Sollen wir noch ein wenig den Mythos und die Sage zu Hülfe nehmen, um auf diese Frage die richtige Antwort zu finden?

KLEINIAS: Muß es denn auf diese Weise geschehen?

DER ATHENER: Ja freilich. Denn bedeutend früher noch als die Staaten deren Bildung wir zuvor durchgingen entstanden sollen unter Kronos Regierung wie Bürgerschaft in einem überaus glücklichen Zustande gelebt haben, von welchem auch der bestverwaltete unter den heutigen Staaten nur ein schwaches Abbild darbietet.

KLEINIAS: Gar sehr dürfte es also allem Anschein nach nötig sein hierüber zu hören.

DER ATHENER: Mir wenigstens scheint es so, deshalb habe ich es auch eben zur Sprache gebracht.

KLEINIAS: Und du hast ganz recht daran getan, und wirst es auch daran tun wenn du uns den weitern Verlauf der Sage, so weit er unsern Zwecken dient, vollständig erzählen willst.

DER ATHENER: Es soll geschehen wie ihr wünscht. Die Sage erzählt uns von dem seligen Leben der damaligen Menschen und berichtet uns daß ihnen Alles in reicher Fülle und ganz von selber gedieh, und daß Folgendes der Grund davon gewesen sei. Kronos nämlich wußte wohl, was auch wir bereits ausgeführt haben, daß auch nicht Eine sterbliche Art stark genug dazu sei alle menschlichen Angelegenheiten aus eigener Machtvollkommenheit zu verwalten, ohne sich dabei mit Frevel und Ungerechtigkeit zu beflecken. Indem er daher dies in Erwägung zog, setzte er damals zu Königen und Herrschern über die Staaten nicht Menschen, sondern Wesen von besserer und göttlicherer Abkunft, nämlich Dämonen, gerade wie wir jetzt es bei den Schafen und allen anderen Herden zahmer Tiere machen, indem wir bei ihnen nicht etliche Rinder über die Rinder und etwelche Ziegen über die Ziegen zu Hütern bestellen, sondern wir selbst ihre Leitung übernehmen, als Wesen von besserem Geschlechte denn sie. Eben so machte es also auch der Gott und setzte in seiner Menschenfreundlichkeit damals ein edleres Geschlecht über uns, das der Dämonen, welches uns die Mühe dafür abnahm und doch selbst sich keiner großen Mühe damit unterzog, und so durch seine Fürsorge für uns Frieden, sittliche Scheu, Gesetzlichkeit und die Fülle der Gerechtigkeit bei uns heimisch und die Geschlechter der Menschen von innerem Zwiste frei und glücklich machte. Und so verkündet uns denn diese Sage noch heutzutage die Wahrheit daß es für alle Staaten deren Herrscher nicht ein Gott, sondern ein Sterblicher ist, keine Möglichkeit gibt Leiden und Mühen zu entfliehen, und sie lehrt uns daß wir auf jede Weise vielmehr das Leben welches unter Kronos geherrscht haben soll nachahmen und dem Unsterblichen, so viel dessen in uns ist, [714 St.] in der Verwaltung von Privat- und öffentlichen Angelegenheiten, Häusern und Staaten Folge leisten und die Satzungen der Vernunft zu Gesetzen erheben müssen. Wo hingegen ein einzelner Mensch oder eine Oligarchie oder auch Demokratie, von allen möglichen Lüsten und Begierden getrieben und nach steter Erfüllung derselben begierig und doch immer leer und mit einem unheilbaren und unersättlichen Übel behaftet, über einen Staat oder einen Einzelnen die Herrschaft ausübt, da treten sie dann alle Gesetze mit Füßen, und es bleibt, wie gesagt, kein Mittel zur Rettung. Es ziemt sich also für uns, Kleinias, in Betracht zu ziehen ob wir dieser Sage glauben und folgen oder anders handeln wollen.

KLEINIAS: Gewiß muß man ihr glauben und folgen.

DER ATHENER: Du weißt nun daß Manche behaupten, es gebe so viele Arten von Gesetzen als von Verfassungen und Regierungsformen, und die gewöhnlich angenommenen Arten der letzteren habe ich so eben berührt. Glaube nun nicht daß meine Abweichung von dieser Meinung etwas Geringes betreffe, sondern es handelt sich bei ihr gerade um den Hauptpunkt, denn die Frage nach welchen Gesichtspunkten man Recht und Unrecht zu bestimmen hat kommt hiermit jetzt wiederum in Betracht. Nämlich nach dieser Meinung würden die Gesetze weder aus dem Gesichtspunkte des Krieges noch auch der gesamten Tugend zu entwerfen sein, sondern lediglich den Vorteil der einmal bestehenden Verfassung, wie dieselbe auch immer beschaffen sei, im Auge haben müssen, damit sie stets herrschen bleibe und nie umgestoßen werde, und es würde hiernach die naturgemäße Bestimmung des Rechts am richtigsten die folgende sein.

KLEINIAS: Nun?

DER ATHENER: Daß es der Vorteil des Stärkeren sei.

KLEINIAS: Erkläre dich noch etwas deutlicher.

DER ATHENER: So höre denn. In jedem Staate, sagen die Vertreter dieser Ansicht, gibt doch wohl der herrschende Teil die Gesetze? Ist's nicht so?

KLEINIAS: Du hast Recht.

DER ATHENER: Glaubst du also, sagen sie weiter, daß wer auch die höchste Gewalt in die Hände bekommen hat, sei es das Volk oder sonst eine Zahl von Herrschern oder auch ein Tyrann, aus freiem Antriebe nach einer andern vorwiegenden Rücksicht Gesetze geben werden als nach der was ihnen zur Erhaltung ihrer Herrschaft frommt?

KLEINIAS: Wie sollte es anders zugehen?

DER ATHENER: Und wird nicht Der welcher diese Verordnungen gab Den welcher sie übertritt als einen Verletzer des Rechts bestrafen und eben dies als eine Forderung des Rechts bezeichnen?

KLEINIAS: Wahrscheinlich.

DER ATHENER: Deswegen also wird es stets so und in dieser Weise mit dem Rechte stehen.

KLEINIAS: So behauptet wenigstens diese Lehre.

DER ATHENER: Es ist dies nämlich einer von jenen Ansprüchen auf Herrschaft.

KLEINIAS: Von welchen?

DER ATHENER: Von denen welche wir damals anführten, als wir untersuchten wer da und über wen er herrschen solle. Da stellte es sich nämlich ja heraus daß Eltern über Kinder, Ältere über Jüngere, Edle über Gemeine zu herrschen haben. Und so gab es noch mehrere Ansprüche, wenn ihr euch dessen erinnert, und sie traten einander in den Weg. Und einer von ihnen war eben dieser, [715 St.] und wir sagten von ihm daß Pindar nach seinem Ausspruche die größte Gewalt der Natur gemäß zum Recht erhoben und als solches eingeführt sehen wolle.

KLEINIAS: Ja, so wurde damals gesagt.

DER ATHENER: Siehe nun zu, welchem von Beiden, der Gewalt oder dem Rechte, wir unseren Staat in die Hände geben sollen. Denn schon tausendfach ist es in manchen Staaten folgendes begegnet.

KLEINIAS: Nun?

DER ATHENER: Daß, nachdem um die Herrschaft Streit entstanden war, die siegende Partei die Verwaltung des Staates so ausschließlich in ihre Hände brachte daß sie der unterliegenden zusamt ihren Nachkommen auch nicht den geringsten Anteil an der Herrschaft übrig ließ, und daß sie sodann einander fort und fort beobachten, auf daß nicht einmal irgend Einer sich erhebe und zur Herrschaft gelange, um dann die früher erlittene Unbill zu rächen. Von solchen Verfassungen behaupten wir jetzt daß es gar keine sind, eben so wenig wie Das wahrhafte Gesetze sind die nicht für das gemeinsame Beste des ganzen Staates gegeben wurden. Solche bloß zu Gunsten Einzelner entworfene Gesetze nennen wir vielmehr Parteisatzungen, und nicht Staatsgesetze, und alles nur auf sie gegründete angebliche Recht ein leeres Gerede. Das Alles sage ich in der Absicht, damit wir in deinem Staate Niemandem darum die Herrschaft geben weil er reich ist oder irgend ein anderes von dieser Art Gütern besitzt, Stärke oder Größe oder Adel des Geschlechts, sondern wer den gegebenen Gesetzen am gehorsamsten bleibt und diesen Sieg im Staate erficht, dem, behaupten wir, müsse man auch die oberste Bedienung der Gesetze übertragen, und in zweiter Stelle Dem welcher der zweite Sieger hierin ist, und so weiter nach diesem Verhältnis auch alle folgenden Stellen verteilen. Diener der Gesetze habe ich jetzt Die genannt welche sonst Herrscher und Obrigkeiten heißen, nicht um einer Neuerung im Namen willen, sondern weil ich die Ansicht hege daß vor Allem darin daß sie dies sind das Heil oder Verderben des Staates beruhe. Denn einem Staate in welchem das Gesetz unter der Willkür der Herrscher steht und ohne Gewalt ist sehe ich den Untergang bevorstehen, wo es dagegen Herr ist über die Herrscher und sie Sklaven des Gesetzes sind, da sehe ich Wohlstand und alle die Güter erblühen welche die Götter Staaten verleihen.

KLEINIAS: Ja, beim Zeus, Freund, bei deinem Alter hast du noch ein scharfes Auge.

DER ATHENER: Für dergleichen Dinge hat Jedermann in seiner Jugend den schwächsten, im Alter aber den schärfsten Blick.

KLEINIAS: Sehr wahr.

DER ATHENER: Was machen wir jetzt weiter? Wollen wir nicht annehmen, die Ansiedler seien schon da und vor uns gegenwärtig, so daß wir die folgende Anrede an sie halten können?

KLEINIAS: Warum nicht?

DER ATHENER: Männer, wollen wir also zu ihnen sagen, der Gott welcher, wie auch ein alter Spruch besagt, Anfang, Mitte und Ende aller Dinge umfaßt, [716 St.] geht immer den geraden Weg, weil er stets der Natur gemäß unwandelbar seine ewige Bahn verfolgt, und ihn geleitet stets die Gerechtigkeit, welche Alle bestraft die das göttliche Gesetz überschreiten. An sie schließt sich an wer glückselig werden will und folgt ihr in Demut und Sittsamkeit. Wenn aber Einer sich aus Hoffart überhebt, auf Reichtum, Ehre oder Körperschönheit stolz, und aus Jugend und Unverstand zugleich in Übermut entbrennt, als wenn er keines Beherrschers noch Führers bedürfte, sondern sogar selber Andere zu leiten befähigt wäre, so wird er von dem Gott sich allein überlassen, und so führt er denn von ihm geschieden und mit Anderen seinesgleichen, die er an sich gezogen, vereint ein zügelloses Leben und richtet alle möglichen Verwirrungen an. Vielen scheint er dann ein rechter Held zu sein, nach nicht gar langer Zeit aber fällt er der Gerechtigkeit zur gebührenden Strafe anheim und richtet so ich selbst und Haus und Staat völlig zu Grunde. Was soll denn nun nach solcherlei Ordnungen ein Verständiger tun und denken und was nicht?

KLEINIAS: Nun, offenbar muß Jedermann darauf denken Einer von Denen zu werden der Gottheit nachfolgen wollen.

DER ATHENER: Welche Handlungsweise ist nun dem Gotte wohlgefällig und ihm folgsam? Nur eine und in Einem alten Sprichwort ausgedrückte, daß Gleich und Gleich sich gerne gesellt und mithin einander wohlgefällt, wenn anders es nämlich das richtige Maß in sich hat, wogegen das Maßwidrige weder mit einander noch mit dem Maßvollen sich verträgt. Die Gottheit nun dürfte wohl vornehmlich das Maß aller Dinge für uns sein, und weit mehr als so ein Mensch, wie dies Einige wollen. Wer also gottgefällig werden will muß sich nach allen Kräften ihm möglichst gleich zu werden bemühen, und wer von uns mäßig und besonnen ist, der ist eben hiernach dem Gotte wohlgefällig, denn er gleicht ihm, wer aber das Gegenteil, der ist ihm unähnlich und lebt im Widerstreit mit ihm und ist ihm verfeindet; und entsprechend verhält es sich auch mit allen anderen Tugenden und Lastern.

Und nun laßt uns beachten daß hieran ein anderes Wort, und ich glaube das schönste und wahrste aller Worte, sich anreiht, nämlich daß es für einen guten Menschen die edelste und herrlichste Pflicht und das höchste Förderungsmittel zum glückseligen Leben und demnach auch ganz vorzugsweise angemessen ist zu opfern und durch Gebete und Weihgeschenke und überhaupt durch den ganzen Gottesdienst des Umgangs mit den Göttern zu pflegen, für einen schlechten Menschen aber gerade das Gegenteil. Denn unrein ist die Seele des Lasterhaften und rein die des Tugendhaften, und von einem Unreinen Geschenke anzunehmen ist weder für einen guten Menschen noch auch für einen Gott jemals geziemend. [717 St.] Vergeblich ist also die viele Mühe welche die Gottlosen sich um die Götter machen, die der Frommen aber findet stets bei ihnen eine gute Statt. Dies also ist das Ziel welches wir treffen sollen. Was aber werden wir, um in diesem Bilde zu bleiben, am richtigsten als die auf dasselbe entsendeten Geschosse und als die Art ihrer Entsendung zu bezeichnen haben? Wenn man, antworten wir, zuvörderst den olympischen Göttern und den Schutzgöttern des Staates und nächst ihnen den unterirdischen die gebührenden Ehren erweist und diesen Opfertiere in gerader Zahl und von geringerem Range, und zwar die linken Teile derselben, jenen vorerwähnten höheren Gottheiten aber Opfer in ungerader Zahl und von entgegengesetzter Beschaffenheit darbringt, so dürfte man am sichersten das richtige Ziel der Gottesverehrung treffen. Nächst diesen Göttern aber wird ein Verständiger auch den Dämonen und nach ihnen den Heroen ihre Ehren erweisen, und darauf folge denn die Privatverehrung bei den Bildern der ererbten Geschlechtsgottheiten nach den Vorschriften des Gesetzes, sodann aber die Verehrung der Eltern, wenn sie noch am Leben sind, denen es heilige Pflicht ist die ersten und größten und die ältesten aller Schulden abzutragen und dafür zu halten daß Alles was man hat und besitzt Denen angehöre die uns erzeugt und aufgezogen haben, und man es nach allen Kräften zu ihrem Dienste bereit halten müsse, zuerst das Vermögen, dann die Kräfte des Körpers und zum Dritten die der Seele, und daß man so das alte Darlehen von Sorge und Schmerz, welche sie einst im Übermaße in unserer Jugend für uns aufgewandt, ihnen wiedererstatte und in ihrem hohen Alter, wo sie dessen so sehr bedürfen, hiezu verpflichtet sei. Während seines ganzen Lebens ferner muß man sich einer steten besonderen Ehrerbietung im Reden gegen seine Eltern befleißigen, denn so leicht und rasch ein unehrerbietiges Wort auch ausgestoßen ist, so trifft dasselbe dennoch die schwerste Strafe, indem Nemesis, die Ahndung, die Botin der Dike, der Gerechtigkeit, als Aufseherin über alle solche Vergehungen bestellt ist. Wenn also Eltern zornig werden und ihren Zorn sei es in Worten oder Werken auslassen, so muß man es ihnen zu Gute halten und bedenken daß naturgemäß vor Allen ein Vater der von seinem Sohne beleidigt zu sein glaubt auf das Äußerste erbittert werden muß. Sind aber die Eltern gestorben, so ist ein bescheidenes Grabdenkmal das beste, indem man dabei das Maß derer nicht überschreitet, aber auch nicht hinter demselben zurückbleibt, wie sie unsere Vorväter ihren Erzeugern zu errichten pflegten;, und ebenso darf man auch die jährlichen Gedächtnisfeste zu Ehren derer die schon vollendet haben nicht verabsäumen und muß vielmehr dadurch vorzugsweise daß man überhaupt Nichts unterläßt ihr Andenken immerfort zu erneuern, [718 St.] ihnen seine Ehrfurcht bezeugen, indem man zu diesem Zwecke einen mäßigen Aufwand aus den uns verliehenen Glücksgütern für die dahingegangenen nicht scheut. Wenn wir dies tun und diesen Grundsätzen nachleben, so wir ein Jeder von uns stets von den Göttern und allen jenen über unsere Natur erhabenen Wesen würdigen Lohn davontragen und die größte Zeit seines Lebens in schönen Hoffnungen zubringen.

Was man aber gegen Kinder, Verwandte, Freunde, Mitbürger und in der Bewirtung und Pflege von Fremden zu leisten und wie man mit ihnen allen zu verkehren hat, um dadurch nach der Anleitung des Gesetzes sein Leben zu erheitern und zu verschönern, das Alles haben die Gesetze ausführlich darzulegen und müssen dazu zu überreden suchen, für diejenigen Charaktere aber welche dieser Überredung nicht nachgeben Zwang und Strafe auf dem Wege Rechtens bereit halten; und so werden sie unter dem Beirate der Götter unserem Staate Glück und Heil verschaffen.

Nachdem ich nun so von Dem was ein Gesetzgeber welcher wie ich denkt notwendigerweise vortragen muß, aber in der Form eines Gesetzes nicht füglich vortragen kann, für ihn selbst sowie für Die welche seine Gesetze empfangen sollen eine Probe gegeben habe, scheint es mir daß ich erst nachdem ich auch alles Übrige nach Kräften zum Ausdruck gebracht wirklich die Gesetzgebung zu beginnen habe. In welcher Form wird sich nun aber dies Alles zum Ausdruck bringen lassen? Gewiß ist es nicht leicht es in einen raschen Umriß zusammenzudrängen, indessen wollen wir auf folgende Weise einen festen Punkt zu erfassen suchen.

KLEINIAS: Nun? Sprich.

DER ATHENER: Ich wünschte, daß die Bürger so willig als möglich zur Tugend werden, und es ist klar daß jeder Gesetzgeber durch seine ganze Gesetzgebung eben dies zu bewirken versuchen wird.

KLEINIAS: Allerdings.

DER ATHENER: Gerade das so eben Vorgetragene nun, dachte ich, würde, wenn es nicht auf ganz rohe Herzen stieße, etwas zur Durchführung seiner Vorschriften oder doch wenigstens dazu beitragen daß man ihn milder und wohlwollender anhöre, und wenn dann Das was er sagt auch nicht um Vieles, sondern nur um Weniges den Zuhörer eben in Folge dieser ihm eingeflößten wohlwollenderen Gesinnung auch wohlgelehriger macht, so muß man schon zufrieden sein. Denn es finden sich nicht sehr leicht und nicht in Fülle Leute welche darauf aus sind es so weit als möglich in der Tugend zu bringen und dies so schnell als möglich zu erreichen, vielmehr beweist die große Mehrzahl daß Hesiod weise war, wenn er meinte daß der Weg zum Laster eben sei und sich ohne Schweiß wandern lasse, weil er gar kurz sei,

„Doch vor die Trefflichkeit setzten den Schweiß die unsterblichen Götter.

Lang auch windet und steil die Bahn zur Tugend sich aufwärts, [719 St.]

Und sehr rauh im Beginn, doch wenn du zur Höhe gelangt bist,

Leicht dann wird sie hinfort und bequem, wie schwer sie zuvor war."

KLEINIAS: Ja, er mag wohl Recht haben.

DER ATHENER: Gewiß. Doch wozu die voraufgehende Anrede mir gedient hat möchte ich euch vor Augen legen.

KLEINIAS: So tue es denn.

DER ATHENER: Wir wollen diese Darlegung in ein Gespräch mit dem Gesetzgeber einkleiden. Reden wir ihn also folgendermaßen an: Sage uns, Gesetzgeber, wenn du wüßtest was wir tun und reden sollen, so würdest du es sicher uns kund tun.

KLEINIAS: Notwendigerweise.

DER ATHENER: Haben wir nun nicht erst vor einer kleinen Weile von dir gehört, der Gesetzgeber dürfe die Dichter nicht tun lassen was ihnen beliebe? Denn sie hätten kein Urteil darüber, in wie weit sie mit ihren Schöpfungen etwa gegen die Gesetze verstießen und dem Staate Schaden brächten.

KLEINIAS: Du hast ganz Recht.

DER ATHENER: Wenn wir nun rücksichtlich der Dichter ihm Folgendes bemerkten, würde es angemessen sein?

KLEINIAS: Nun was?

DER ATHENER: Dies. Es ist ein altes Wort, lieber Gesetzgeber, welches wir selber bei jeder Gelegenheit geltend machen und das uns auch alle Anderen gelten lassen, daß ein Dichter dann wenn er auf dem Dreifuß der Muse sitzt seines Bewußtseins nicht mächtig ist, sondern wie ein Quell ungehemmt hervorsprudeln läßt was da hervorsprudeln will. Und weil seine Kunst eine nachahmende ist, so sei er gezwungen, wenn er Leute von ganz entgegengesetzten Charakteren darstellt, sie oft Dinge sagen zu lassen durch welche er in Widerspruch mit sich selber gerät, und zwar ohne zu wissen ob Dies oder Jenes hievon die Wahrheit ist. Dem Gesetzgeber dagegen ist es nicht gestattet eben dies in einem Gesetze zu tun, nämlich sich zwiefältig über einen und denselben Gegenstand auszusprechen, sondern er muß sich über einen und denselben Gegenstand auch in einer und derselben Weise erklären. Beurteile nun hiernach das so eben von dir selbst Gesagte. Da es nämlich eine dreifache Bestattungsweise gibt, eine übermäßig prächtige, eine karge und eine mäßige, so hast du einfach die eine von ihnen, nämlich die mittlere, auserlesen und sie vorgeschrieben und anempfohlen, ich, der Dichter, hingegen würde, wenn in einem meiner Gedichte eine Frau von bedeutendem Reichtum vorkäme und ihre Bestattung anordnete, ein prächtiges Begräbnis rühmen, ein sparsamer oder armer Mann wird dagegen die dürftige, und wer endlich ein mäßiges Vermögen besitzt und selber mäßig ist sich auch eben solche Beerdigungsweise loben. Du aber darfst auch nicht einmal so dich ausdrücken wie du so eben tatest, indem du die mäßige vorschriebst, sondern du mußt genauer bestimmen was und wie viel das Mäßige ist, und dir ja nicht einbilden daß eine solche Redeweise wie du sie führtest schon ein Gesetz werden könne.

KLEINIAS: Du sprichst sehr wahr.

DER ATHENER: Soll also der von uns mit der Gesetzgebung Beauftragte nicht den Gesetzen so Etwas vorausschicken? Oder soll er gleich von vorne herein anbefehlen was man tun und unterlassen soll, und die Strafe androhen, [720 St.] und dann zu einem anderen Gesetze übergehen, und von Aufmunterung und Überredungsgründen seinen gesetzlichen Vorschriften auch nicht das Geringste beifügen? Nämlich wie ein Arzt uns allemal auf die eine, der andere auf die andere Weise zu behandeln pflegt, so stehen auch dem Gesetzgeber zwei verschiedene Möglichkeiten offen. Doch wir wollen uns diese beiden Arten vergegenwärtigen, um den Gesetzgeber bitten zu können, gleichwie Kinder den Arzt wohl zu bitten pflegen daß er uns auf die mildeste Weise behandeln möge. Was meinen wir nämlich? Nun, es gibt doch Ärzte, meinen wir, und Diener der Ärzte, die man aber auch wohl Ärzte nennt.

KLEINIAS: Ja wohl.

DER ATHENER: Und solche Diener sind Alle, mögen sie nun Freie oder Sklaven sein, die nach der Vorschrift ihrer Herren und nach Dem was sie ihnen abgesehen haben, kurz nach bloßer Empirie ihre Kunst ausüben, nicht aber vermöge eines Eindringens in die Natur der Sache, kraft dessen die freien Ärzte sie selber erlernt haben und eben so ihre Kinder wieder in derselben unterrichten. Nimmst du diese Aufteilung Derer welche man Ärzte heißt an?

KLEINIAS: Wie anders?

DER ATHENER: Eben so wirst du auch bemerkt haben daß, da die Kranken in allen Staaten teils Freie, teils Sklaven sind, die letzteren auch meistenteils von den Sklaven der Ärzte behandelt werden, indem diese teils in die Häuser laufen, teils in den Wohnungen der Ärzte selbst abwarten, und daß kein einziger von dieser Art Ärzten je den Grund von der Krankheit irgend eines Sklaven angibt oder sich über denselben belehren läßt, sondern jeder verordnet was er nach seiner Erfahrung für gut findet, als ob er von Allem bereits genau unterrichtet wäre, gleich einem eigenmächtigen Tyrannen, und dann rasch wieder zu einem anderen kranken Dienstboten eilt und so seinem Herrn die Besorgung der Kranken leicht macht? Der freie Arzt dagegen behandelt und wartet gewöhnlich nur die Krankheiten von Freien ab, erkundigt sich über Ursprung und Natur derselben, indem er sich mit dem Kranken selbst und dessen Umgebung näher einläßt, und so lernt er zugleich selbst von dem Leidenden und belehrt sie so gut er es vermag. Auch verordnet er ihm nicht eher Arzneimittel bevor er ihn einigermaßen überredet hat dieselben zu nehmen, und so erst, nachdem er ihn mit Überredung willig gemacht hat, versucht er unter seiner beständigen Leitung ihn zur Gesundheit zu führen und vollständig wieder herzustellen. Verdient nun ein auf diese oder ein auf jene Weise heilender Arzt oder seine Gesundheitsübungen anstellender Turnmeister den Vorzug? Einer der durch beiderlei Mittel die Wirkung hervorbringt, oder Einer welcher nur durch das eine derselben, und noch dazu das schlechtere und rauhere, auf seinen Erfolg hinarbeitet?

KLEINIAS: Gewiß, Freund, ist die Anwendung von beiderlei Mitteln bei Weitem vorzuziehen.

DER ATHENER: Willst du nun, so wollen wir die Anwendungen dieses doppelten und einfachen Mittels auch, wie sie in der Gesetzgebung selber vorkommt, in Betracht ziehen.

KLEINIAS: Warum sollte ich das nicht wollen?

DER ATHENER: So sage mir denn bei den Göttern, welches wird das erste Gesetz sein das unser Gesetzgeber aufstellt? [721 St.] Wird er nicht naturgemäß zuvörderst das worin der erste Keim zur Entstehung von Staaten liegt durch feste Ordnungen regeln?

KLEINIAS: Ohne Frage.

DER ATHENER: Ist dies nun nicht für alle Staaten die eheliche Verbindung und Gemeinschaft?

KLEINIAS: Wie anders?

DER ATHENER: Um einem jeden Staate zu seiner richtigen Beschaffenheit zu verhelfen scheint es also zuerst erforderlich daß Ehegesetze entworfen werden.

KLEINIAS: Schlechterdings.

DER ATHENER: Wir wollen also zuerst das Heiratsgesetz nach Anwendung des einfachen Mittels vortragen, wonach es etwa also lauten würde: Heiraten soll Einer sobald er dreißig bis fünfunddreißig Jahre zählt, und wer es während dieser Frist nicht getan hat soll an Geld und mit Verlust bürgerlicher Ehren bestraft werden, und zwar um so und so viel Geld und mit Verlust von den und den bürgerlichen Ehrenrechten. So etwa mag es in dieser einfachen Gestalt, mit Anwendung des zwiefachen Mittels aber folgendermaßen lauten: man muß heiraten sobald man sein dreißigstes bis fünfunddreißigstes Jahr erreicht hat, in Erwägung dessen daß das Menschengeschlecht in gewisser Art einen natürlichen Anteil an der Unsterblichkeit und eben deshalb auch jeder Mensch so stark als möglich eine natürliche Sehnsucht nach derselben empfindet, denn die berühmt zu werden und nicht namenlos nach seinem Tode unter der Erde zu liegen ist eine solche Sehnsucht. Das Menschengeschlecht nämlich ist etwas mit der Gesamtheit der Zeit der Art Verwachsenes daß es unaufhörlich mit ihr fortläuft und fortlaufen wird, und es ist, indem es immer neue Ankömmlinge von sich hinterläßt und so stets das Eine und selbige bleibt, in soweit unsterblich als das ewige Werden dessen teilhaftig genannt werden kann. Dessen nun freiwillig sich zu berauben kann nimmer für recht gelten, und mit Vorsatz beraubt sich dessen wer nicht nach Weib und Kindern Verlangen trägt. Wer also dem Gesetze folgt wird frei von Strafe bleiben, wer ihm aber nicht folgt und nach seinem fünfunddreißigsten Jahre noch nicht verheiratet ist soll jährlich um so und so viel gestraft werden, damit er nicht glaube, das ledige Leben bringe ihm Ersparnis und Bequemlichkeit, und soll keine von den Ehrenbezeugungen empfangen die im Staate Jeder, welcher jünger Jedem welcher älter als er ist, zu erweisen hat. Nachdem ihr nun so das Gesetz in beiden Gestalten nebeneinander vernommen habt, mögt ihr selbst urteilen, ob überhaupt die Gesetze jenes doppelte Mittel des Überredens und Drohens zugleich sich aneignen sollen, wobei sie dann freilich nicht sonderlich kurz geraten würden, oder ob sie bloß der Drohungen sich bedienen und einfach an Länge werden sollen.

MEGILLOS: Lakonische Weise, Freund, ist es freilich überall das Kürzere vorzuziehen. Indessen wenn man mich zum Richter darüber verordnete welche von diesen beiden Formeln ich zum endgültig abgefaßten Staatsgesetz erhoben zu sehen wünschte, so würde ich der längeren den Vorzug geben, [722 St.] und eben so würde ich auch bei jedem andern Gesetz, wenn mir nach derselben Analogie beiderlei Entwürfe vorgelegt würden, gerade dieselbe Wahl treffen. Indessen ist es nötig, daß auch bei unserm Kleinias hier die jetzt anzufassenden Gesetze Beifall finden, denn vorerst ist es ja der von ihm neu zu gründende Staat welcher sich ihrer zu bedienen gedenkt.

KLEINIAS: Du hast ganz richtig entschieden, Megillos.

DER ATHENER: Nun, über Länge oder Kürze der Formulierungen uns zu streiten wäre auch gar zu einfältig. Denn ich denke, die besten und nicht die kürzesten oder die Länge verdient den Vorzug, und von den beiden eben besprochenen Gesetzesformeln ist die eine nicht bloß um das Doppelte förderlicher zur Tugend als die andere, sondern, wie schon bemerkt, jene doppelte Art von Ärzten gleicht ihnen beiden wirklich auf das Vollständigste. Aber freilich was diese Sache anlangt, so scheint noch keiner von allen Gesetzgebern je daran gedacht zu haben wie man bei der Gesetzgebung jenes zwiefache Mittel anwenden könne, Überredung und Zwang, so weit sich nämlich Beides der ungebildeten großen Masse des Volkes gegenüber vereinigen läßt, sondern sie alle bedienen sich nur des einen von beiden. Denn sie mischen bei dem Entwurf ihrer Gesetze nicht der Macht die Überredung bei, sondern lassen der unvermischten Gewalt ihren freien Lauf. Ich dagegen, meine Freunde, sehe daß auch noch ein Drittes dabei erforderlich ist, was jetzt nirgends in Anwendung gebracht wird.

KLEINIAS: Nun, was meinst du?

DER ATHENER: Was sich unmittelbar aus unserer ganzen bisherigen Gesprächsführung wie durch eine Art göttlicher Fügung ergibt. Denn seitdem wir am frühen Morgen uns über Gesetze zu unterhalten begannen, ist es bereits Mittag geworden, und wir sind bis zu diesem schönen Ruheplatz gelangt und haben von nichts Anderem als von Gesetzen gesprochen, und doch fangen wir, scheint es, erst jetzt an Gesetze selbst vorzutragen, alles Voraufgehende aber waren bloße Eingänge zu den Gesetzen. Warum nun bemerke ich dies? Um anzudeuten daß zu Allem was gesprochen wird oder wobei sonst die Stimme mitzuwirken hat Einleitungen und Eingänge gehören, welche eine Art von Anregung und kunstgemäßer Vorbereitung der kommenden Ausführung geben. Und so sind denn auch zu jenen Weisen des Gesanges zur Zither welche recht eigentlich als die Gesetze desselben bezeichnet werden, so gut wie zu allen anderen Musikstücken, wirkliche Eingänge und Vorspiele von bewundernswerter Arbeit vorhanden, zu den wirklichen Gesetzen aber, zu denen des Staates, hat noch nie Jemand einen Eingang verfaßt oder, wenn ja, ihn doch nicht ans Licht gebracht, gerade als ob es von Natur so Etwas gar nicht gäbe. Unsere bisherige Unterredung aber liefert, denke ich, den Beweis daß es wohl so Etwas gibt, und was ich eben als einen zwiefachen Bestandteil der Gesetze betrachtete scheint nicht eigentlich dies, sondern vielmehr geradezu zwei verschiedene Dinge zu sein, nämlich Gesetz und Einleitung zum Gesetze. Nämlich der tyrannische Befehl, [723 St.] den wir mit den Verordnungen jener unfreien Ärzte verglichen, dürfte das eigentliche reine Gesetz, das vorher Erwähnte aber, was Überredungsmittel von unserem Gesetzgeber genannt wurde, dürfte dies zwar in Wahrheit sein, aber dabei die Bedeutung eines Einganges zu den Gesetzesworten haben. Denn zu dem Zwecke daß Der welchem der Gesetzgeber sein Gesetz anempfielt die Verordnung desselben, welche eben das eigentliche Gesetz ist, mit Wohlwollen aufnehme und durch dies Wohlwollen derselben auch leichter zugänglich werde, ward offenbar, denke ich, jene ganze Anrede gehalten welche vorhin der Gesetzgeber zur Überzeugung sprach, und deshalb muß man sie denn nach meiner Meinung eben als einen Eingang zu den Gesetzen bezeichnen und nicht zum Wortlaute derselben selber rechnen. Nachdem ich nun dies bemerkt, was könnte ich wohl jetzt noch hinzuzufügen wünschen? Dies daß der Gesetzgeber weder die Gesamtheit der Gesetze ohne einen gemeinsamen, ihnen allen voraufgeschickten, noch die einzelnen ohne ihren besonderen Eingang lassen darf, wodurch sie um soviel besser sein werden als so eben die eine von jenen beiden Formulierungen besser war als die andere.

KLEINIAS: Ja, ich für meinen Teil würde Den der sich darauf versteht nicht anders uns seine Gesetze abfassen lassen.

DER ATHENER: Mit Recht gibst du also, scheint es, so viel zu daß nicht bloß zu den einzelnen Gesetzen Eingänge gehören, sondern daß es auch der Anfang aller Gesetzgebung sein muß dem gesamten Wortlaut derselben eine für jedes Einzelne von ihr passende Einleitung vorauszuschicken. Denn es ist ja nichts Geringes was auf sie folgen soll, und es macht keinen Unterschied ob dasselbe den Leuten deutlich zu Sinne geführt wird oder nicht. Wenn wir aber vorschreiben wollten Gesetze die bedeutend, und solche die unbedeutend heißen dürfen in gleicher Weise mit Eingängen zu versehen, so würden wir nicht wohl daran tun. Denn es gehört weder zu jedem Gesungenen noch zu jedem Gesprochenen und Geschriebenen dergleichen, nicht als ob nicht dies Alles dazu geeignet wäre, sondern weil es ungehörig ist in jedem Falle davon Gebrauch zu machen. Vielmehr ist so Etwas für jeden besonderen Fall dem Ermessen des Sprechers, des Tonkünstlers und des Gesetzgebers zu überlassen.

KLEINIAS: Du scheinst mir sehr wahr zu sprechen. Aber nun, lieber Freund, wollen wir auch nicht länger zaudernd die Sache hinausschieben, sondern auf unsern eigentlichen Gegenstand zurückkommen und, wenn es dir recht ist, mit Demjenigen den Anfang machen was du vorher vorbrachtest, ohne zu bemerken daß es ein Eingang sein solle. Rufen wir uns also das scherzende Wort zu „ein ander Mal geht's besser” und nehmen daher diesen Gegenstand zum andern Male so wieder auf daß wir ihn jetzt wirklich als Eingang und nicht, wie vorhin, als einen uns bloß zufällig aufgestoßenen Gedanken behandeln. Machen wir also den Anfang auf Grund unseres Zugeständnisses daß den Gesetzen eine Einleitung voraufgeschickt werde. Und in bezug auf die Verehrung der Götter nun und den Dienst der Vorfahren ist schon das bereits Ausgesprochene hinreichend, und wir wollen daher das Weitere zum Ausdruck zu bringen versuchen, bis du die ganze Einleitung genügend ausgeführt findest. Und dann magst du die Gesetze selber entwerfen.

[724 St.] DER ATHENER: Was wir also über die Götter und Mittelwesen und über die Eltern im Leben und nach ihrem Tode vorhin erörtert haben, das finden wir jetzt genügend als Eingang, aber Alles was an der Vollständigkeit des Einganges noch sonst fehlt gebietest du jetzt, wie ich sehe, mir ans Licht zu ziehen.

KLEINIAS: So ist es.

DER ATHENER: So wird es uns denn geziemen, und am Meisten dem gemeinsamen Interesse des Sprechers und dem der Zuhörer angemessen sein, nächst jenen Dingen von Neuem zu überdenken, auf welche Weise wir einer möglichst richtigen Zucht und Bildung teilhaftig werden, und auf was man zu diesem Behufe in Bezug auf Seele, Körper und äußere Habe Eifer zu wenden und nicht zu wenden habe. Dies also ist es in Wahrheit worüber wir jetzt zunächst zu sprechen und einander zuzuhören haben.

KLEINIAS: Du hast vollkommen Recht.

FÜNFTES BUCH



[726 St.] DER ATHENER: So höret denn, die ihr unsere eben gemachten Erörterungen über die Pflichten gegen die Götter und die teuren Vorfahren vernahmt!

Nächst den Göttern ist die Seele unser göttlichstes und eigenstes Eigentum. Alle Besitztümer Jedermanns nämlich sind von zweifacher Art, höhere und edlere, welche herrschen, und niedrigere und gemeinere, welche dienen, und von ihnen sind denn die herrschenden höher zu halten als die dienenden. Wenn ich also sage daß ein Jeder nächst den Göttern, [727 St.] unsern Gebietern, und den mit ihnen verwandten Wesen, als Zweites seine Seele ehren müsse, so gebe ich damit eine richtige Vorschrift. Es ehrt sie jedoch, fast möchte ich es behaupten, Keiner von uns auf die rechte Art, wenn er es sich auch einbildet. Denn die Ehre ist ein göttliches Gut, und nichts Schlechtes und Böses kann der Ehre wert sein. Wer daher meint seine Seele durch gewisse Gedanken oder Gaben oder Nachgiebigkeiten zu erheben, ohne daß er sie dabei aus einer schlechteren zu einer besseren macht, der bildet sich zwar ein sie zu ehren, in Wirklichkeit aber tut er das Gegenteil. So wähnt der Mensch gleich von Kindheit auf die nötige Einsicht in allen Stücken zu besitzen und glaubt seine Seele zu ehren, indem er alle ihre Meinungen und Wünsche billigt und ihr bereitwillig Alles was sie begehrt zu tun überläßt. Meine Behauptung aber geht dahin daß er hiermit sie schädigt und keineswegs ehrt, und doch sollte er, wie gesagt, sie nächst den Göttern am Höchsten in Ehren halten. Und auch wenn ein Mensch von allen den Fehltritten die er begeht, und von den meisten und größten Übeln die ihm widerfahren nicht sich selber, sondern Andern die Schuld beimißt und sich selbst immer von der Zahl der Sünder ausnimmt, so ehrt er seine Seele nicht, obschon er es zu tun vermeint, vielmehr ist er weit davon entfernt, denn er fügt ihr Schaden dadurch zu. Und auch wenn man gegen den Ausspruch und die Billigung des Gesetzgebers seine Gelüste befriedigt ehrt man sie nicht, sondern entehrt sie vielmehr, indem man sie mit Lastern und Reue erfüllt. Und auch wenn man nach der anderen Seite hin den vom Gesetze gebotenen Mühen und Gefahren, Schmerzen und Beschwerden nicht standhaft sich unterzieht, sondern sie flieht, so erweist man durch eine solche Flucht seiner Seele keine Ehre, sondern macht sie ehrlos durch alles derartige Betragen, und überhaupt wenn man das Leben unter jeder Bedingung für ein Gut hält, ehrt man sie nicht, sondern schändet sie. Denn das heißt dem Wahne der Seele daß der Zustand in der Unterwelt Nichts als Übel enthalte nachgeben, anstatt ihm dadurch entgegenzutreten daß man sie darüber belehrt und dessen überführt, wie sie ja gar Nichts davon weiß, ob es nicht im Gegenteile gerade die größten aller Güter sind die uns bei den dortigen Göttern erwarten. Wenn man ferner Schönheit höher schätzt als Tugend, so ist dies nichts Anderes als eine wahrhafte und vollständige Beschimpfung der Seele, denn diese Ansicht stellt ja die Seele über den Körper, während doch nichts der Erde Entsprossenes höher stehen kann als was vom Olympos stammt, und wer der Seele nicht diese Herkunft zuschreibt, der weiß nicht wie sehr er dies wunderherrliche Gut herabsetzt. [728 St.] Wer ferner Schätze auf ungerechte Weise zu erwerben sucht oder über ihren Erwerb keine Reue empfindet, der ehrt durch diese Gaben seine Seele nicht, sondern trübt und verletzt sie in jeder Beziehung; denn was an ihr schätzbar und herrlich ist, das gibt er dahin für weniges Gold, während doch alles Gold auf und unter der Erde die Tugend nicht aufwiegt. Mit Einem Worte, jedermann der nicht alles Das was der Gesetzgeber als schändlich und böse aufzählt auf alle Weise zu vermeiden, und dagegen allem Dem was er für gut und löblich erklärt hat mit allen Kräften nachzustreben trachtet, erkennt nicht daß er seine Seele, das Göttlichste was er hat, in allen solchen Fällen in den ehrlosesten und schmachvollsten Zustand versetzt. Denn worin es vorzugsweise besteht daß jeder Übeltat, was man so nennt, ihr Recht wird, daran denkt, geradezu gesagt, Keiner. Es besteht dies nämlich darin daß man eben durch sie den Menschen gleich wird die schlecht sind, und eben damit die tugendhaften und den Verkehr mit ihnen flieht und sich ganz von ihnen scheidet und dagegen dem Umgange mit Seinesgleichen nachjagt und mit ihnen verwächst, und daß man, wenn dies einmal der Fall ist, auch notwendig solche Dinge tun und sich gefallen lassen muß wie sie solche Art Leute ihrer Natur nach einander in Tat und Worten zuzufügen pflegen. Doch man sollte das eigentlich nicht Recht nennen, denn Recht und Gerechtigkeit ist vielmehr etwas sittlich Schönes, sondern bloß Strafe, die natürliche Folge des Unrechts, und wer sie erfährt, so gut wie wer sie nicht erfährt, ist elend, dieser weil seine Krankheit nicht geheilt wird, jener weil er untergeht, damit viele andere gerettet werden. Die Ehre aber setzen wir, um es in eine allgemeine Formel zusammenzufassen, darein daß man dem Bessern nachstrebe und das Schlimme, aber der Verbesserung noch Fähige, möglichst zum Guten hinlenke.

Nun ist aber eben die Seele recht eigentlich dasjenige Besitztum des Menschen welches von Natur dazu bestimmt ist das Böse zu fliehen und dagegen den höchsten Gütern nachzuspüren und sie zu ergreifen und, nachdem sie dieselben ergriffen hat, sie das ganze fernere Leben hindurch festzuhalten. Daher ordneten wir ihr auch die zweithöchste Ehre zu. Was nun aber den dritten Rang der Ehre betrifft, so sieht wohl jedermann ein daß diesen naturgemäß der Körper einnimmt, und auch hier ist wiederum der Unterschied zwischen wahrer und falscher Ehre in Betracht zu ziehen, und ihn festzustellen ist Sache des Gesetzgebers. Dieser nun aber wird, wenn ich recht sehe, ihn folgendermaßen anzugeben haben. Wertvoll sei ein Körper nicht wenn er Schönheit, Stärke, Behendigkeit oder Größe besitzt, selbst nicht wenn Gesundheit, obwohl dies Vielen so scheine, noch auch fürwahr wenn das Gegenteil von diesem, sondern was mitten inne liegt und von allen diesen Eigenschaften Etwas an sich hat sei bei Weitem für die Besonnenheit am vorteilhaftesten und verheiße die meiste Sicherheit. Denn besitzt man sie in allzu hohem Grade, so machen sie die Seele aufgeblasen und vermessen, und entbehrt man sie ganz, so wird dieselbe dadurch kriechend und knechtisch gesinnt. Die gleiche Bewandtnis hat es auch mit dem Besitze von Geld und Gut, und es gilt auch von ihm das gleiche Maß der Schätzung. [729 St.] Denn das Übermaß aller solcher äußeren Besitztümer zieht dem Staate wie dem Einzelnen Feindschaft von Anderen und Zwist in sich selber zu, der Mangel an ihnen aber macht sie meistens zu Sklaven. Darum möge Keiner um seiner Kinder willen sich zu bereichern trachten, um ihnen möglichst große Schätze zu hinterlassen, denn es wird dies weder ihnen noch dem Staate zum Heile sein. Vielmehr ist ein Vermögen welches den jungen Leuten keine Schmeichler herbeilockt, aber doch hinreicht um sie vor Mangel an dem Notwendigen zu schützen, für sie das Allerheilsamste und steht am Besten mit allen ihren Bedürfnissen im Einklang, denn es stimmt und paßt zu allen unsern Verhältnissen und verschafft uns so ein sorgenfreies Leben.

Sittliche Scheu und Scham vielmehr und nicht Gold muß man seinen Kindern in reichem Maße hinterlassen. Nun aber wähnen wir unsern jungen Leuten dies Erbe dadurch zu verschaffen, daß wir sie schelten, wenn sie Mangel hieran an den Tag legen, das kann aber durch die bloße Ermahnung, wie man sie jetzt den jungen Leuten angedeihen läßt, indem man ihnen einschärft daß dem Jünglinge allezeit Scham gebühre, nimmer erreicht werden. Der verständige Gesetzgeber wird es vielmehr den Älteren einschärfen sich den Jünglingen gegenüber schamhaft zu betragen und sich vor Nichts so sehr zu hüten als davor daß einer von diesen je einen von ihnen etwas Schändliches tun sehe noch reden höre, weil da wo die Greise die Scham vergessen die notwendige Folge davon ist daß auch die Jünglinge noch vielmehr ein Gleiches tun. Denn nicht in der bloßen Zurechtweisung besteht eine vorzügliche Erziehung für Jung und Alt zugleich, sondern darin daß man zeigt wie man die Zurechtweisungen welche man Andern gibt auch selber sein ganzes Leben hindurch befolgt.

Wer aber seine Verwandtschaft und alle Diejenigen welche vermöge der Blutsgemeinschaft dieselben Stammgötter haben achtet und ehrt, der darf erwarten daß die Götter welche die Geburt schützen ihn bei der Zeugung eigener Kinder segnen werden. Das Wohlwollen seiner Freunde und Bekannten im Verkehre des Lebens aber wird man sich erhalten wenn man die Dienste welche sie uns erweisen höher anschlägt und ehrt, und dagegen die Gefälligkeiten welche man ihnen erzeigt geringer als sie selber es tun. Um den Staat und seine Mitbürger ferner macht sich Derjenige am Meisten verdient welcher dem Siege in den olympischen und allen anderen kriegerischen und friedlichen Kämpfen denjenigen vorzieht welchen ihm der Ruhm gewährt sich den heimischen Gesetzen unterwürfig gezeigt zu haben und ihnen so treu wie kein anderer sein ganzes Leben hindurch gewesen zu sein. Sodann bedenke man daß die Pflichten gegen Gastfreunde und Fremdlinge hochheilige sind. Denn sie und die Vergehungen gegen sie stehen fast alle noch mehr als die Verhältnisse zu unsern Mitbürgern unter der strafenden Obhut der Gottheit, weil man in der Fremde ohne den Schutz von Freunden und Verwandten und darum ein Gegenstand größeren Mitleids für Menschen und Göttern ist. Wer aber mächtiger ist zu strafen, der ist auch bereitwilliger zu helfen, [730 St.] und jene Macht nun besitzen in hohem Grade die gastlichen Dämonen und Götter welche zum Gefolge des gastlichen Zeus gehören und deren einer einen jeden Menschen unter seiner besonderen Obhut hat. Wer also nicht aller Besonnenheit beraubt ist, der hütet sich wohl daß er nicht mit Vergehung gegen Gastfreunde und Fremdlinge befleckt das Ende seines Lebens erreiche. Kein größeres Vergehen gegen Fremde wie gegen Einheimische aber gibt es als eine Versündigung gegen Schutzflehende. Denn der Gott, welchen der Schutzflehende zum Zeugen der Zusagen nahm, hütet und wacht in hohem Maße darüber was demselben begegnet; und was ihm daher auch Übles widerfährt, es wird niemals ungerochen bleiben.

Wir haben nunmehr die Regeln unseres Verhaltens gegen die Götter, gegen uns selbst und zu unserem Besitztum, gegen Staat, Freunde und Verwandtschaft, gegen Fremde und Landsleute so ziemlich durchgenommen. Daran aber reiht sich nun die Frage, wie ein Jeder beschaffen sein muß um für sich selber sein Leben löblich zuzubringen; was nicht bloß vom Gesetze, sondern namentlich auch von dem Lob und Tadel abhängt welcher die Bürger erziehen und sie für die zu gebenden Gesetze lenksamer und geneigter machen soll, das müssen wir jetzt zunächst besprechen. Unter allen Gütern nun steht bei den Göttern, steht bei den Menschen die Wahrheit obenan, und ihrer muß daher gleich von vorne herein teilhaftig sein wer zufrieden und glücklich leben will, um so in ihr so lange als möglich zu wandeln. Denn nur wer wahrhaftig ist ist auch treu und zuverlässig, das Gegenteil aber welcher die vorsätzliche Unwahrheit liebt, denn wer die unvorsätzliche, der ist sinnlos, und weder die eine noch die andere ist zu beneiden. Denn wer unzuverlässig und treulos, so wie wer sinnlos und töricht ist, der ist auch freundlos, und wenn er im Laufe der Zeit erkannt wird, so bereitet er sich eine vollständige Vereinsamung für die schweren Tage seines Alters und das Ende seines Lebens, so daß das letztere beinahe gleich sehr verwaist ist, ob ihm Kinder und Bekannte noch am Leben sind oder nicht.

Ehrenwert ist freilich auch schon wer kein Unrecht begeht, aber wer es nicht einmal geschehen läßt daß es Andere begehen, der ist es noch doppelt und dreifach mehr. Denn Jener wiegt Einen, Dieser aber viele Andere auf, dadurch daß er das Unrecht der Anderen der Obrigkeit anzeigt. Und wer endlich gar dieselbe nach Kräften in ihrer strafenden Tätigkeit unterstützt, der soll als der wahre Held unter allen Staatsbürgern ausgerufen und ihm soll der höchste Siegespreis der Tugend zuerkannt werden. Eben dasselbe Lob muß man aber auch hinsichtlich der Besonnenheit, Weisheit und aller anderen Tugenden aussprechen, wenn sie ihren Besitzer befähigen sie nicht bloß für sich zu behalten, sondern sie auch Anderen mitzuteilen, und muß Den welcher sie wirklich mitteilt am Höchsten in Ehren halten und nächst ihm Den welcher Dies zwar nicht zu Stande bringt, aber doch die gute Absicht hat, dagegen Den welcher den Besitz dieser Güter anderen mißgönnt und nicht menschenfreundlich genug ist um ihn aus eigenem Antriebe mit irgend jemandem zu teilen, [731 St.] Den muß man seiner Person nach tadeln, nur aber darf man deswegen um des Besitzers willen nicht auch das Besitztum verachten, sondern vielmehr dieses nach Kräften sich anzueignen streben. Alle sollen daher in unserem Staate um die Tugend wetteifern, ohne sie sich einander zu mißgönnen. Denn nur Der wird zur Hebung des Staates beitragen welcher selber nach den Preisen der Tugend ringt und doch dabei sie auch Anderen nicht durch Verleumdungen zu entziehen sucht, der Mißgünstige dagegen, welcher durch Herabsetzung Anderer den Vorrang gewinnen zu müssen glaubt, richtet einerseits seine eigenen Anstrengungen weniger auf die wahre Tugend und versetzt andererseits seine Mitbewerber durch seinen ungerechten Tadel in Mutlosigkeit, und da er hierdurch bewirkt daß der Wettkampf um Tugend im Staate nicht geübt wird, so macht er für sein Teil den letzteren kleiner an Ruhm.

Jedermann muß den möglichsten Eifer und die möglichste Sanftmut zugleich besitzen. Denn vor den schweren und tief oder sogar gänzlich unheilbar eingewurzelten Freveln Anderer kann man nicht anders sich retten als indem man den Kampf gegen sie aufnimmt, sie siegreich abwehrt und dann in keinem Stücke unbestraft läßt, und zu dem Allem ist ohne edlen Zorn und Eifer keine Seele im Stande. In Bezug auf die Handlungsweise Derjenigen aber die zwar auch Unrecht üben, aber doch so daß sie noch heilbar sind, muß man vor allen Dingen bedenken daß Keiner der unrecht handelt dies freiwillig tut. Denn von den größten Übeln wird Niemand auf der ganzen Welt je irgend eins freiwillig besitzen wollen, und am Allerwenigsten an dem Wertvollsten was er hat. Die Seele aber ist, wie wir bereits bemerkt haben, in Wahrheit für einen Jeden das Wertvollste, und in sie also wird wohl Keiner je das größte Übel freiwillig aufnehmen und sein ganzes Leben lang in ihr behalten. Bemitleidenswert ist daher freilich überhaupt jeder Ungerechte der solche Übel in sich trägt, allein man darf dieses Mitleid nur gegen Den walten lassen bei welchem diese Übel noch heilbar sind, und muß gegen ihn den aufsteigenden Zorn besänftigen und nicht nach Weiberart ihn mit beständigen Bitterkeiten verfolgen, gegen Den aber welcher ganz voller Nichtswürdigkeiten und Laster steckt, gegen welche kein Zureden mehr hilft, muß man seinem Zorne freien Lauf lassen. Das ist der Grund weshalb wir von einem tüchtigen Manne immer Erregbarkeit und Sanftmut zugleich verlangen.

Das größte aller Übel aber wurzelt von Natur in den Seelen der meisten Menschen, und da sich Jedermann dasselbe verzeiht, so sinnt Niemand auf Mittel sich davon zu befreien. Dies ist nämlich der Grundsatz daß jeder Mensch von Natur sich selber liebe und auch von Rechts wegen lieben müsse, denn in Wahrheit ist derselbe vielmehr allemal und für einen Jeden wegen der übermäßigen Selbstliebe die Quelle aller Fehltritte. Denn auch diese Liebe macht blind gegen die Fehler des geliebten Gegenstandes, so daß man demzufolge über Das was recht, gut und schön ist, [732 St.] ein verkehrtes Urteil fällt und sich selber stets höher als die Wahrheit schätzen zu müssen glaubt. Wer aber ein großer Mann werden will, der darf weder sich noch das Seinige lieben, sondern das Rechte, mag es nun in seinen eigenen Taten oder in denen Anderer mehr zu finden sein. Von eben diesem Fehler aber rührt es auch her daß Alle ihre eigene Unwissenheit für Weisheit halten und daß wir demgemäß, auch wenn wir so gut wie gar Nichts wissen, doch Alles zu wissen glauben und somit notwendigerweise Fehler begehen, indem wir das was h wir selber nicht zu machen verstehen, anstatt es Anderen zu überlassen, doch selber machen wollen. Darum muß Jedermann die allzu große Selbstliebe fliehen und vielmehr Dem der besser ist als er nacheifern und sich durch keine falsche Scham hiervon abhalten lassen.

Von geringeren Art, aber darum doch nicht von geringerem Nutzen ist die nunmehr folgende Vorschrift, auch ist sie schon oft gegeben, aber dennoch muß von Neuem an sie erinnert werden, denn wie jeder Abfluß auch wieder einen neuen Zufluß erfordert, so ist die Erinnerung ein solcher Zufluß welcher den Abgang an Kenntnis ersetzt. Man soll sich übermäßigen Lachens so gut wie Weinens enthalten, und auch Jeder den Anderen dazu anhalten daß er jegliches Übermaß in Freude und Schmerz zurückzudrängen und eine würdige Haltung zu bewahren suche, gleichviel ob sein Schutzgeist mit ihm auf den Pfaden des Glückes wandelt oder ob in den Wechselfällen des Schicksals die Dämonen manchen seiner Unternehmungen, wenn sie namentlich auf hohe und jähe Dinge sich richten, widerstreben, und daß er stets hoffe, Gott werde, wenn den Gütern welche er uns schenkt, Unfälle bevorstehen, diese doch möglichst verringern und ebenso den bereits vorhandenen einen Umschwung zum Besseren geben, bei allem Guten aber immer das Gegenteil, eine stete Beständigkeit und Vermehrung, eintreten und das Glück immer uns begünstigen lassen. Solchen Hoffnungen und der steten Mahnung an solche Lehren soll Jedermann leben und keine Mühe sparen, sie in Ernst und Scherz sich selber und Anderen beständig klar ins Gedächtnis zu rufen.

So sind denn nun die Bestrebungen denen man sich hingeben, und die Eigenschaften welche ein Jeder an sich tragen muß, so ziemlich alle angegeben worden, so weit sie göttlicher Art sind. Die von menschlicher Art aber sind noch nicht von uns besprochen, müssen es aber, denn zu Menschen reden wir ja und nicht zu Göttern.

Die wesentlichsten Stücke der menschlichen Natur nun sind Lust, Schmerz und Begierde, an welche Alles was lebt und sterblich ist durch die Notwendigkeit geradezu, wenn man so sagen darf, gefesselt ist und in seinen mächtigsten Bestrebungen von ihnen abhängt. [733 St.] Man muß daher das tugendhafte Leben nicht bloß dadurch empfehlen daß es den edelsten Anblick gewähre welcher der rühmenden Anerkennung nicht entgehen könne, sondern auch dadurch daß es für Den der es nur erproben will und nicht gleich in seiner Jugend ihm abtrünnig wird auch in Demjenigen den Vorzug habe wonach wir Alle streben, nämlich darin daß es unser ganzes Leben hindurch uns mehr Freude und weniger Schmerz bringt. Daß sich dies wirklich so verhält wird Jedem der es nur auf die rechte Weise erprobt alsbald und in hohem Grade einleuchten. Welches aber ist diese rechte Weise? Dies muß man nunmehr untersuchen, indem man die Vernunft darüber zu Rate zieht, in welchem Falle wir wirklich so der Natur gemäß und in welchem anders wider die Natur verfahren. Wir müssen Leben gegen Leben und darnach das angenehmere und das schmerzvollere folgendermaßen gegen einander abwägen. Jeder wünscht sich Lust, Niemand wählt oder wünscht sich Schmerz, und was endlich weder wohl noch wehe tut ist man gegen die Lust zu vertauschen nicht, gegen den Schmerz aber wohl zu vertauschen geneigt. Doch auch einen geringeren Schmerz, welcher mit größerer Lust verbunden ist, lassen wir uns wohl gefallen, und eine geringere Freude, welche mit größerer Unlust verbunden ist wünschen wir nicht, ist dagegen Beides gleich, so würden wir schwerlich genau anzugeben vermögen welches wir vorziehen. Kurz, in allen diesen Fällen hängt es von Menge, Größe, Stärke oder Gleichgewicht und dem Gegenteile ab, ob unser Wunsch dem Einen oder dem Andern bei der Wahl den Vorzug gibt oder nicht gibt. Und da sich dies nun gar nicht anders verhalten kann, so kann uns eben so gut ein Leben in welchem von Beidem Vieles, und zwar in einem hohen und starken Maße, als ein solches in welchem wenig von Beidem und in unbedeutendem und gelindem Maße vorhanden ist behagen, aber wir wünschen das erstere nur dann wenn die Lust dabei vorwiegt, und nicht, wenn das Gegenteil der Fall ist, und eben so wünschen wir das letztere uns nicht, wenn das Schmerzliche im Übergewicht ist, sondern dann wenn das Gegenteil stattfindet, steht aber Beides im Gleichgewicht, dann tritt eben notwendig der vorerwähnte Fall ein, indem wir ein solches Leben in so fern wünschen als zu Zeiten ein Übergewicht nach der Seite dessen hin was uns lieb, und in so fern nicht wünschen als zu Zeiten ein solches nach der Seite dessen hin was uns verhaßt ist in ihm eintritt. Und nun müssen wir erwägen daß in diese Möglichkeiten sämtliche Lebenszustände eingeschlossen sind, und müssen erwägen daß uns demnach naturgemäß nur unter ihnen die Wahl bleibt, und wer daher behaupten wollte Etwas außerhalb dieses Kreises zu wünschen, der würde damit nur seine Unwissenheit und Unerfahrenheit in den wirklich vorhandenen Arten des Lebens an den Tag legen.

Welches aber sind nun diejenigen Arten des Lebens und wie viel gibt es ihrer, auf die man bei seiner Betrachtung dessen was unserm Wunsche und Willen entspricht und nicht entspricht Rücksicht nehmen und sie zum Gesetze erheben muß, um so nicht bloß das Erwünschte und Angenehme, sondern zugleich das Beste und Schönste sich auserwählt zu haben und so glückselig zu leben als es für einen Menschen nur immer möglich ist? Wir dürfen behaupten daß eine von ihnen das besonnene, eine zweite das weise, eine dritte das tapfere Leben sei, und das gesunde wollen wir als ein Viertes hinstellen, und diesen vier lassen wir vier andere als Gegensatz gegenübertreten, das törichte, feige, zügellose, sieche Leben. Wer nun eine besonnene Lebensweise kennt, der wird zugeben müssen daß sie milde in allen Stücken ist, [734 St.] daß ihre Freuden und Schmerzen einen ruhigen und sanften Charakter an sich tragen, daß sie nur gelinde Begierden zeigt und sich fern hält von sinnbetörender Liebesglut, während die zügellose wild in allem, heftig im Schmerz wie in der Freude, voll gewaltiger und rasender Begierden und möglichst wahnsinniger Liebesglut ist, und wird ferner zugeben müssen daß in einem besonnenen Leben die Genüsse die Beschwerden, in einem zügellosen aber die Schmerzen die Freuden an Größe, Menge und Heftigkeit überbieten. Daher wird notwendig und naturgemäß jenes die angenehmere und dieses die unangenehmere Lebensweise sein, und wer ein angenehmes Leben führen will, von dem ist es nicht mehr denkbar daß er aus freiem Antriebe sich der Zügellosigkeit hingibt, sondern, wenn das jetzt Gesagte richtig ist, so kann dies ein jeder notwendigerweise nur wider seinen Willen tun, und nur von Unkunde oder von Ohnmacht kann es herrühren daß der große Haufe der Menschen ein Leben führt welches der Besonnenheit ermangelt. Ebenso nun muß man auch über das sieche und gesunde Leben urteilen, nämlich daß beide Freuden und Schmerzen mit sich bringen, daß aber bei einem Gesunden die Freuden das Übergewicht über die Schmerzen, bei einem Kranken dagegen die letzteren über die ersteren haben. Nun geht aber bei der Wahl einer Lebensweise unsere Neigung nie auf ein Vorwiegen des Schmerzlichen, sondern dasjenige Leben in welchem dieses von seinem Gegenteile überboten wird haben wir für das angenehmere erklärt. Und da nun auch in einem weisen Leben, wie wir behaupten möchten, und in dem eines Tapferen zwar Beides in geringerer Zahl, in schwächerem Maße und seltener eintritt als in einem törichten und in dem eines Feigen, aber jenes dabei in Bezug auf Genüsse dieses übertrifft, während es in Bezug auf Schmerzen von ihm übertroffen wird, so ist dem tapferen vor dem feigen und dem weisen vor dem törichten Leben der Vorrang zuzuerkennen, und so ist denn das besonnene, tapfere, weise und gesunde angenehmer als das feige, törichte, zügellose und sieche, mit Einem Worte, diejenige Lebensweise welche mit Tüchtigkeit an Leib und Geist zusammenhängt ist angenehmer als die eines untüchtigen Körpers und einer lasterhaften Seele, und nicht bloß dies, sondern sie hat überdies auch alle anderen Vorzüge, Schönheit und Wahrheit, Tugend und Ruhm, im Überschwange auf ihrer Seite. Wer daher ihr sich hingibt, dem gewährt sie auf alle und jede Weise ein glückseligeres Leben als es diejenige gewähren kann welche ihr entgegengesetzt ist.

Und so darf denn der Eingang der Gesetze, nachdem wir ihn bis hierher gebracht, als zu Ende geführt gelten, nach dem Eingang muß nun aber das Gesetz selber oder, um uns richtiger auszudrücken, der Entwurf der Staatsgesetze folgen. Gleichwie nun bei einem Gewirke oder Gewebe sich Einschlag und Kette nicht aus gleichen bereiten läßt, sondern die zu dem letzteren genommenen notwendigerweise von vorzüglicherer Beschaffenheit sein müssen, er verlangt nämlich ja ein starkes und festgedrehtes, [735 St.] der Einschlag aber ein weicheres Garn von einer gewissen angemessenen Nachgiebigkeit, gewissermaßen eben so muß man vernunftgemäß stets zwischen Denen welche hohe obrigkeitliche Würden im Staate bekleiden sollen, und Denen welche nur in geringem Maße die Probe ihrer Erziehung zu bestehen haben, einen Unterschied machen. Es gibt nämlich zwei Hauptstücke der Verfassung, das eine die richtige Besetzung der obrigkeitlichen Ämter, und das andere die Gesetze, deren Handhabung den Obrigkeiten übertragen ist.

Doch vor diesem Allen ist noch erst Folgendes zu beobachten. Kein Schaf-, Rinder- und Pferdezüchter, und was es sonst noch von dieser Art gibt, wird die Wartung irgend welcher Herde anders übernehmen als so daß er zunächst eine Säuberung mit ihr vornimmt, wie ihrer jede Gemeinschaft bedarf, und nachdem er so gesundes und krankes, edles und unedles Vieh von einander geschieden hat, wird er das letztere zu andern Herden fortschicken und nur die Pflege des ersteren übernehmen, weil er wohl weiß daß alle Mühe die er auf die Pflege von Körpern und Seelen verwenden würde welche von Natur und durch schlechte Zucht verdorben sind nicht bloß vergeblich und endlos sei, sondern daß jene ihm noch dazu auch was dem Innern wie dem Äußern nach von gesunder und unversehrter Art in solchen Herden ist mit zu Grunde richten würden, wenn man die vorhandenen Stücke nicht von allen solchen schadhaften durch und durch säubert. Doch bei den Tieren macht das weniger Sorge, und wir würden es nicht für wert erachtet haben ihrer zu erwähnen, wenn sie uns nicht hätten bloß als Beispiel dienen sollen, aber bei den Menschen muß es die größte Sorge des Gesetzgebers sein zu erforschen und zu bestimmen was einem jeden zukommt, sowohl wenn es sich um jene Säuberung als auch wenn es sich um irgend eine andere Unternehmung handelt.

Um nun aber zunächst von dieser Säuberung zu sprechen, so dürfte es sich mit ihr folgendermaßen verhalten. Es gibt viele Arten derselben, und bei den einen geht es oberflächlicher, bei den andern aber eindringlicher zu. Diese letzteren sind die besten, aber nur wer Tyrann und Gesetzgeber zugleich ist kann von ihnen Gebrauch machen. Ein Gesetzgeber dagegen welcher ohne eine solche unbeschränkte Gewalt einen neuen Staat gründet mit neuer Verfassung und neuen Gesetzen wird schon sehr zufrieden sein, wenn er auch nur die oberflächlichste Säuberung vorzunehmen im Stande ist. Die beste nämlich ist, wie dies bei jedem Heilmittel der Fall ist, schmerzlich, indem sie mit Gerechtigkeit die gebührende Strafe verhängt und bis zum äußersten Ziele derselben, Tod oder Verbannung, vorschreitet, um die schweren Missetäter welche unheilbar und vielmehr der größte Verderb des Staates sind, aus demselben zu beseitigen. Als ein sanfteres Reinigungsmittel aber darf folgendes gelten: alle Diejenigen welche sich aus Mangel an Lebensunterhalt bereit zeigen Denen zu folgen welche sie, die nichtbesitzenden, [736 St.] zum Angriffe auf das Eigentum der Besitzenden führen entfernt man als eine im Staate ausgebrochene Krankheit auf möglichst milde Weise aus demselben, indem man dieser ihrer Entfernung der guten Vorbedeutung wegen den Namen Kolonie beilegt. Jeder Gesetzgeber muß also zunächst auf diese oder ähnliche Weise verfahren, für uns jedoch bietet diese Aufgabe noch ihre besonderen, ungewöhnlichen Schwierigkeiten dar. Denn für jetzt läßt sich noch an keine Kolonie denken noch irgend eine säubernde Auswahl treffen, sondern bei uns fließen gleichsam von vielen Orten her teils Quellen teils Bergströme in Einen See zusammen, und wir müssen daher mit aller Aufmerksamkeit darüber wachen den Zusammenfluß dieses Wassers so rein als möglich zu machen und zu diesem Zwecke bald ausschöpfen und bald in Kanäle ableiten. Und so ist, wie es scheint, Mühe und Gefahr bei jeder Staatseinrichtung. Da wir uns indessen derselben für jetzt erst in Worten und nicht durch die Tat zu unterziehen haben, so wollen wir annehmen, wir hätten bereits unsere Bürger zusammengebracht, und die Säuberung unserer Gemeinde von allen unlautern Bestandteilen sei uns bereits nach Wunsch vollendet. Wir wollen annehmen, wir hätte von Denen welche in den neu zu gründenden Staat als seine Bürger einzutreten gedachten alle Die welche Nichts taugen nach hinlänglich langer mit ihnen angestellter Prüfung mit allen Mitteln der Überredung zurückzubleiben, tugendhafte Leute aber nach Kräften durch Wohlwollen und Freundlichkeit mitzukommen bewogen.

Es darf aber auch nicht unbeachtet bleiben daß uns derselbe glückliche Umstand zu Statten kommt welcher, wie bemerkt, auch der Kolonie der Herakliden zu Statten kam, daß sie nämlich vor heftigem und gefährlichem Streit über Landverteilung und Schuldenerlaß sicher ist, welchen einer von den alten Staaten, wenn er sich zu einer Gesetzgebung gezwungen sieht, weder unangeregt lassen kann noch auch irgendwie anzuregen wagen darf, so daß ihm beinahe nur Wünsche und ein leise behutsamer Fortschritt übrig bleiben, mit welchem man binnen langer Zeit nur um Weniges vorrückt. Und dieser wird da gelingen wo Diejenigen von denen die Änderungen ausgehen gerade einen reichen Grundbesitz und selbst viele Schuldner und dabei den Willen haben mit den ganz Dürftigen unter diesen großmütig zu teilen, indem sie ihnen teils ihre Schulden erlassen, teils Acker abtreten, und wo sie somit bis zu einem gewissen Grade ein mäßiges Vermögen vorziehen und nicht die Verminderung desselben, sondern die Zunahme der Habgier für Verarmung ansehen. Eine solche Gesinnung ist der bedeutendste Anfang zur Rettung des Staates, und auf ihr als einer festen Grundlage ist es sodann möglich eine neue Staatsordnung zu erbauen, wie man sie einer solchen Lage der Dinge entsprechend findet. Wo hingegen jene Veränderung nicht gedieh, [737 St.] da wird auch die weitere Ausgestaltung des Staatswesens für keinen Staat einen günstigen Erfolg gewinnen. Der Notwendigkeit einer solchen Veränderung nun sind wir, wie gesagt, entgangen, nichts desto weniger aber ist es richtiger anzugeben, wie wir es, wenn dies auch nicht der Fall wäre, den noch anzustellen wüßten ihr zu entgehen. Und so sei es denn nun gesagt daß es außer der Beseitigung der Geldgier und außer der Gerechtigkeit durchaus keinen Ausweg, weder einen breiten noch einen schmalen, gibt, um solcher Schwierigkeit zu entrinnen, und sie soll daher gleichsam als die Grundfeste unseres Staates dastehen. Es müssen nämlich Die welche noch alte Schuldklagen gegen einander, wenn anders sie nicht ganz und gar ihren Verstand verloren haben, auf jede Weise dafür sorgen daß ihr Vermögen von solchen gegenseitigen Ansprüchen frei werde, und mit ihrem Willen nicht eher in der weiteren Einrichtung des Staates vorgehen. Und wenn daher Diejenigen gar, denen, so wie jetzt uns, ein Gott es vergönnt hat ein neues Staatswesen zu gründen, so daß noch kein Hader unter ihnen besteht, einen solchen durch die Verteilung des Landes und der Wohnungen unter sich veranlassen wollten, so würde das eine mehr als menschliche Torheit und der Gipfel aller Nichtswürdigkeit sein.

Auf welche Art wird denn nun aber eine richtige Teilung zu Stande kommen? Fürs Erste muß man bestimmen welchen Umfang die Zahl der Bürger haben muß. Sodann aber muß man darüber übereinkommen, in wie viele Abteilungen man sie teilen und wie groß jede derselben sein soll. Und endlich sind Land und Wohnungen möglichst gleich zu verteilen. Welcher Umfang nun für die Menge der Bürger hinreicht läßt sich schwerlich anders richtig bestimmen als nach Maßgabe des Landes und der Nachbarstaaten. Nämlich an Land ist so viel erforderlich als dazu hinreicht eine bestimmte Anzahl mäßig und besonnen lebender Bürger zu ernähren, und mehr bedarf es nicht; die Zahl aber muß sich darnach richten wie viele einigermaßen stark genug sind sich selbst gegen die Unbilden von Seiten der umwohnenden Völker verteidigen und auch ihren Nachbarn, wenn diese dergleichen erleiden, beistehen zu können. Wenn wir also Land und Nachbarn kennen gelernt haben, wollen wir hierüber in Tat und Wort Bestimmung treffen; um aber für jetzt gleich unsere Erörterung vollenden zu können, müssen wir uns mit einem vorläufigen Plan und Entwurf in derselben begnügen und so zur Gesetzgebung schreiten. Um also eine möglichst passende Zahl zu nehmen, so mögen 5040 Grundeigentümer dieselbe bilden und als zukünftige Verteidiger der Landeseinteilung dastehen, auf gleiche Weise aber Land und Wohnungen in eben so viele Teile geteilt werden, so daß auf jeden Mann ein Grundstück kommt. Diese ganze Summe teile man nun in zwei und dann wiederum in drei Teile. Sie läßt sich nämlich auch in vier, fünf und so weiter bis in zehn Teile zerlegen. [738 St.] Denn so viel muß jeder Gesetzgeber von den Zahlen verstehen welche Zahl und um welcher Beschaffenheit willen sie für jeden Staat am Vorteilhaftesten ist, und wir dürfen als solche die bezeichnen welche sich durch die meisten und möglichst auf einander folgenden Zahlen dividieren läßt, denn nicht jede Zahl ist aller Teilungen und durch jeden Teiler fähig. Die angenommene Summe von 5040 ist für den Krieg, so wie für alle Geschäfte des Friedens, Verträge und Gesellschaftsunternehmungen, Abgaben und Länderverteilungen richtig, weil sie durch nicht mehr als sechzig Zahlen weniger eine geteilt werden kann und dabei durch alle ununterbrochen von eins bis zehn.

Hievon mögen Die denen das Gesetz solche Rechnungen anzustellen überträgt sich bei Muße genauer überzeugen, denn es verhält sich nicht anders als so damit. Der aber welcher einen neuen Staat zu gründen hat ist aus folgendem Grunde auf diesen Punkt aufmerksam zu machen. Gleichviel ob Jemand einen neuen Staat von Grund aus einzurichten oder aber einen alten, in Verfall geratenen zu erneuern hat, so wird er, wenn er klug ist, hinsichtlich der Götter und hinsichtlich Dessen welchen Göttern und Dämonen man im Gebiete des Staates Heiligtümer zu errichten und ihrem Namen zu weihen habe, nie Etwas an Demjenigen zu ändern versuchen zu dessen Einführung Aussprüche aus Delphi oder Dodona oder vom Ammon oder uralte Aussprüche welche auf Diesen oder Jenen so oder so, sei es durch äußere Zeichen oder, wie es hieß, durch göttliche Eingebung überzeugende Kraft ausübten, bewogen hatten, indem in Folge dessen Opfer verbunden mit Weihungen, bald einheimische, von Ort und Stelle gebürtige, bald tyrrenische oder kyprische oder irgend woher sonst entlehnte, eingerichtet und Orakel, Bildsäulen, Altäre, Tempel und heilige Bezirke den verschiedenen Göttern und Dämonen geweiht wurden. Von diesem Allem darf der Gesetzgeber auch nicht das Geringste verändern und muß vielmehr jedem Landesteile seinen Gott, Dämon oder auch Heros zuweisen und diesen bei der Landesteilung zuerst ihre auserlesenen heiligen Bezirke und was sonst zu ihrer Verehrung gehört geben, damit zu bestimmten Zeiten die Bewohner jedes Landesteils ihre Zusammenkünfte halten, welche einem jeden eine passende Gelegenheit geben für die Anschaffung alles Dessen was er bedarf zu sorgen, und alle bei Gelegenheit der Opfer Zutrauen zu einander gewinnen und mit einander bekannt und befreundet werden, da es kein größeres Gut für einen Staat gibt als wenn seine Bürger genau einander kennen. Denn wo sie kein Licht über ihre gegenseitigen Charaktere haben, sondern über dieselben im Dunkeln tappen, da dürfte Keinem je die ihm gebührende Ehre und obrigkeitliche Würde noch das ihm zukommende Recht jemals richtig zu Teil werden. Es muß daher jeder Bürger in jedem Staate vor allen andern Dingen sich dessen befleißigen, teils sich selbst gegen jedermann ohne Falsch und vielmehr stets einfach und wahr zu zeigen, teils auch sich nicht durch Andere mit ihrer Falschheit täuschen zu lassen.

[739 St.] Indem ich nunmehr aber gleichsam den Stein in dem Brettspiel meiner Gesetzgebung von der heiligen Linie wegziehe, so dürfte dieser Zug wegen seiner Ungewöhnlichkeit leicht die Zuhörer anfänglich in Verwunderung setzen. Doch bei näherem Nachdenken und angestelltem Versuche wird es einem jeden klar werden daß der Staat die zweitbeste Einrichtung hiedurch erhalten wird, und dann wird man diesem Zuge wohl nur noch deshalb seine Billigung versagen können, weil ein solcher Schritt ungewöhnlich für einen Gesetzgeber ist welcher nicht zugleich die unumschränkte Gewalt eines Tyrannen in Händen hat. Es ist nämlich das Richtigste, eine beste, eine zweit- und eine drittbeste Verfassung hinzustellen, und sodann zwischen ihnen Demjenigen die Wahl zu lassen welcher über die Einrichtung eines Gemeinwesens die Entscheidung hat. Und hiernach wollen denn jetzt auch wir eine solche dreifache Staatsverfassung nach dem Grad ihrer Vortrefflichkeit unterscheiden und sodann dem Kleinias die Wahl überlassen oder wer sonst einmal eine ähnliche Auswahl treffen und nach seiner Sinnesweise sich Das aneignen will was ihm für sein Vaterland davon gefällt.

Der erste Staat, die vollkommenste Verfassung und die besten Gesetze nun sind die wo das alte Wort so sehr als möglich im gesamten Staate in Erfüllung geht, das da lautet, daß Freunden in Wahrheit Alles gemein sei. Eine solche Einrichtung also, mag sie nun jetzt irgendwo bestehen oder in Zukunft einmal eintreten, daß die Frauen, daß die Kinder, daß alle Besitztümer gemeinschaftlich sind und das Wort Eigen schlechterdings ganz in jeder Weise aus dem Leben gestrichen und nach Möglichkeit darauf hingearbeitet ist daß auch Das was von Natur Eigentum ist bis zu einem gewissen Grade gemein gemacht werde, so daß sogar Augen, Ohren und Hände gemeinschaftlich zu sehen, zu hören und zu arbeiten scheinen, und ferner auch darauf daß auch im Lob und Tadel Alle möglichst einstimmig sind und über Dasselbe Freude so wie Trauer empfinden, kurz, solche Gesetze, die mit aller Kraft die größtmögliche Einheit des Staates hervorbringen, haben eine Höhe der Vortrefflichkeit erreicht welche Nichts was richtiger und besser wäre als denkbar erscheinen läßt. Mögen einen solchen Staat nun Götter oder Göttersöhne und mag es denkbar sein daß mehrere als Einer von ihnen denselben bewohnen, so werden sie in Heil und Freude in ihm ihr Leben zubringen, und demnach darf man auch in keinem anderen das höchste Muster einer Verfassung suchen, sondern muß an dieses sich halten und es so weit als möglich zu verwirklichen bemüht sein. Und so dürfte denn der Staat, an welchen wir jetzt Hand gelegt haben, wenn er wirklich ins Leben tritt, diesem Dasein Unsterblicher am Nächsten kommen und ihm in Rücksicht der Einheit der zweite Rang gebühren. Die dritte Stufe aber wollen wir später, wenn es Gottes Wille ist, ausführen. Und wie werden wir nun die uns jetzt vorliegende beschreiben und auf welche Art wird sie nach unserer Meinung zu Stande kommen?

Fürs Erste sollen Land und Wohnungen verteilt und der Ackerbau nicht gemeinschaftlich betrieben werden, [740 St.] denn dies wäre von der jetzigen Menschenart und ihrer Erziehung und Bildung zu viel gefordert. Wohl aber sollen unsere Bürger bei dieser Verteilung so etwa dies im Sinne behalten, daß jeder den Teil welcher ihm durch das Los zufällt als Gemeingut des ganzen Staates zu betrachten hat, und da dieses Land so seines Vaterlandes Erde ist, so muß er dieselbe noch mehr hegen und pflegen als Kinder ihre Mutter, so fern ja die Erde ein göttliches Wesen ist und als solches über uns Sterbliche zu gebieten hat. Gleiche Gesinnungen müssen sie aber auch gegen die einheimischen Götter und auch Dämonen hegen. Damit aber dieselben sich für alle Zukunft erhalten, so ist auch darauf zu denken daß gerade so viele häusliche Herde als sie so eben von uns verteilt wurden auch für immer bleiben und sie nie vermehrt oder verringert werden. Dies dürfte nun aber auf folgende Weise im ganzen Staate sein festes Verbleiben finden. Ein Jeder soll zum Erben seiner Wohnung und seines Grundstückes, welche ihm durchs Los zu Teil geworden sind, stets nur Einen seiner Söhne, und zwar den welchen er am Meisten lieb hat, einsetzen, der dann auch als sein Nachfolger in Bezug auf seine Pflichten gegen die Götter, Haus und Staat, Lebende und dermalen schon Vollendete eintritt. Was die anderen Kinder anlangt, falls Jemand deren mehrere hat, so soll er die weiblichen Geschlechts nach dem darüber festzustellenden Gesetze verheiraten, die Knaben aber den jüngeren Bürgern die keine Nachkommenschaft haben als Söhne zuteilen, und zwar denen unter ihnen welchen er sie am liebsten gibt und die sie am Liebsten nehmen. Fehlt es aber Diesem oder Jenem an solchen freundschaftlichen Beziehungen, oder hat er eine allzu große Zahl von männlichen und weiblichen Nachkommen, oder mangelt es im Gegenteil bei Unfruchtbarkeit an einer genügenden Zahl von solchen, so soll für alle diese Fälle diejenige Behörde welche wir als die höchste und ehrenvollste einsetzen werden in Erwägung ziehen, welche Maßregeln sowohl die Bürger welche zu viel Kinder haben als auch die welche derselben ganz ermangeln zu ergreifen haben, und so viel als möglich auf Mittel denken um die Zahl von 5040 Wohnungen stets unverrückt zu erhalten. Solcher Mittel aber gibt es viele. Denn Ehrenbezeugungen und Ehrenkränkungen, so wie Ermahnungen der jüngeren Leute durch die Greise mittelst zurechtweisender Worte, treten uns als solche Mittel zur Hemmung allzu reichlicher Zeugung und zur Beförderung der Mühe und Anstrengung welche man auf die Vermehrung der Nachkommenschaft verwenden soll entgegen, und zwar als solche die ganz geeignet sind den besprochenen Zweck zu erfüllen. Und wenn denn im äußersten Falle schlechterdings die Unmöglichkeit eintritt die Zahl der 5040 Häuser unverrückt zu erhalten und ein Überschuß von Bürgern durch die vielfachen Verbindungen derselben mit einander sich für uns ergibt und uns in Verlegenheit setzt, so bleibt uns ja noch das alte, bereits mehrfach erwähnte Mittel, nämlich die Aussendung derer welche dazu geeignet erscheinen als Kolonisten auf dem Wege freundschaftlicher Übereinkunft. Und wenn umgekehrt eine Alles überschwemmende Flut von Seuchen oder ein vertilgender Krieg hereinbrechen [741 St.] und so unsere Bürger durch den Verlust ihrer Kinder weit unter die festgesetzte Zahl herabsinken sollten, dann gilt der Grundsatz daß man zwar freiwillig keine neuen Bürger auf-nehmen darf die nicht die echte Erziehung durchgemacht haben, daß aber die Notwendigkeit, wie man sagt, selbst ein Gott nicht zu bezwingen vermag.

Und so kommt es uns denn vor als ob die jetzt gegebene Auseinandersetzung uns folgende Ermahnung gäbe, ihr Trefflichsten aller Männer, lasset nimmer ab Gleichheit, Beständigkeit und innere Übereinstimmung nach den Gesetzen der Natur in Ehren zu halten sowohl in Ansehung der Zahl als auch alles Dessen was guter und löblicher Art ist. Und so sucht denn nunmehr fürs Erste euer ganzes Leben hindurch die erwähnte Zahl aufrecht zu erhalten, und haltet sodann das richtige Maß der Höhe und Größe eures Besitzes, wie ihr sie zu Anfang einander zugeteilt habt, in Ehren, indem ihr Nichts von demselben unter einander kauft und verkauft, denn das würde weder der Gott der in dem Jedem das Seine zuteilende Lose waltete noch auch der Gesetzgeber gut heißen, vielmehr ist dies die erste Übertretung, auf welche das Gesetz anspricht, indem es im Voraus erklärt daß wer an der Verlosung Anteil nehmen wolle sich folgende Bedingungen gefallen lassen müsse oder aber nicht zugelassen werde: daß zuvörderst das Land allen Göttern geweiht sei, und daß ferner die Priester und Priesterinnen ein dreimaliges Opfer anstellen und bei jedem Male das Gelübde ablegen sollten, Derjenige welcher von den ihm zugefallenen Gebäuden oder Ländereien etwas verkaufte solle samt dem Käufer die gebührende Strafe erdulden. Zu diesem Zwecke aber soll das Eigentum auf zypressene Denktafeln für alle Folgezeit verzeichnet und diese in den Tempeln niedergelegt werden. Überdies soll die Überwachung dessen daß dies alles wirklich geschehe einer solchen Behörde der man den schärfsten Blick zutrauen darf übertragen werden, damit keine der dawider vorkommenden Umgehungen verborgen bleibe, sondern man den dem Gesetze und dem Gotte zugleich Ungehorsamen zur Strafe ziehe. Welchen großen Vorteil nun aber diese Vorschriften einem jeden Staate der sie befolgt gewähren, wenn anders nur alles sonst noch für sie Erforderliche wirklich mit ihnen verbunden ist, darüber macht, um mit dem alten Sprichwort zu reden, nur Erfahrung klug, und nicht ein nichtsnutziger Mensch, sondern nur einer von erprobter Rechtschaffenheit kann mithin darüber urteilen. Denn eine solche Einrichtung bietet eben keine sonderliche Gelegenheit sich zu bereichern dar, sondern bringt es vielmehr mit sich daß es weder notwendig noch erlaubt ist irgend einen von den eines freien Mannes unwürdigen Erwerbszweigen zu betreiben, indem schon der unehrenhafte Name des Handwerksmäßigen ein edles Gemüt zurückschreckt, noch auch nur den Wunsch zu hegen daß man auf diese Weise Geld sammeln möchte.

Mit diesem allen hängt nun noch das fernere Gesetz zusammen [742 St.] daß es keinem Privatmann gestattet ist Gold und Silber zu besitzen, sondern nur eine Münze, um den Handwerkern und allen andern Leuten ähnlicher Art welche für Lohn arbeiten, Sklaven und Beisassen, im täglichen Verkehre, in welchen man beinahe notwendig mit ihnen treten muß, diesen ihren Lohn bezahlen zu können, und darum, wollen wir, soll man in unserem Staate eben eine Münze gebrauchen die nur innerhalb seiner einen Wert hat, in allen andern Staaten aber Nichts gilt. Eine gemeinsame griechische Münze aber, die für den Krieg und den Verkehr mit fremden Staaten erforderlich ist, wie dann wenn es Gesandtschaften und andere notwendige öffentliche Ankündigungen durch Herolde, auszurichten gibt, muß zu eben diesem Zwecke freilich der Staat stets besitzen, wenn dagegen für einen Privatmann einmal die Notwendigkeit eintritt außer Landes zu gehen, so soll er sich dazu bei der Obrigkeit zuvor die Erlaubnis einholen, und wenn er sodann mit irgend welcher fremden Münze die er noch übrig behalten hat nach Hause zurückkehrt, so soll er sie in die Staatskasse abliefern und den Wert in einheimischer dafür zurückempfangen. Würde aber entdeckt daß er Etwas für sich behalten, so soll es vom Staate eingezogen werden, und nicht bloß Der welcher diese Münze ins Land gebracht, sondern auch wer mit darum gewußt und es nicht angegeben hat, soll mit Fluch und Schande belegt werden und außerdem noch eine Buße bezahlen welche nicht geringer ist als die Summe des von Jenem mitgebrachten fremden Geldes. Wer ferner heiratet soll keine Mitgift nehmen, und wer seine Tochter verheiratet keine geben. Wer ferner Geld bei einem andern niederlegt wird ihm vertrauen, und Jeder soll sich hüten auf Zinsen zu leihen, da es dem Schuldner freisteht sie nicht zu bezahlen, ja nicht einmal das Kapital zurückzugeben.

Daß es nun am Besten für einen Staat sei unter solchen Einrichtungen zu stehen, davon wird sich ein Jeder überzeugen können, wenn er, wie billig, bei der Betrachtung welcher er sie unterwirft, sie beständig auf den Ursprung und Endzweck des Staates bezieht. Es ist nämlich der Zweck welchen ein verständiger Staatsmann vor Augen hat, behaupten wir, nicht der welchen ihm der große Haufe vorschreiben wird, daß ein guter Gesetzgeber müsse darauf ausgehen, wenn anders er einen Staat bei seiner Gesetzgebung gut bedenken wolle, denselben so groß und so reich als möglich zu machen, so daß er Gold und Silber besitze und über Länder und Meere in weitester Ausdehnung herrsche. Allenfalls wird dann noch hinzugesetzt daß der rechte Gesetzgeber auch den Zweck verfolgen müsse, Tugend und Glückseligkeit möglichst im Staate zu verbreiten. Allein die Verbindung aller dieser Absichten mit einander kann nur teilweise erreicht werden, und der Begründer einer Staatsordnung muß denn doch wohl das Erreichbare sich zum Ziele setzen und das Unerreichbare dagegen nicht vergeblich verfolgen noch auszuführen versuchen. Nämlich daß die Bürger, wenn tugendhaft, so auch zugleich glückselig werden, Das kann kaum anders sein, und Dies muß er sich also zum Zwecke machen, daß sie dagegen sehr reich und doch zugleich tugendhaft werden, Das ist etwas Unerreichbares, wenn man nämlich unter Reich Dasjenige versteht was der große Haufe so nennt. Derselbe bezeichnet nämlich damit Diejenigen welche wie wenige Andere Besitztümer von dem höchsten Geldwerte haben, zu denen eben auch ein lasterhafter Mensch gelangen kann. [743 St.] Wenn sich dies aber so verhält, so werde ich nie der Menge einräumen daß ein reicher Mann in Wahrheit glücklich sei wenn er nicht zugleich tugendhaft ist, daß aber eben ein ausnehmend reicher Mann auch besonders tugendhaft sei halte ich für eine Unmöglichkeit. Warum denn, wird man mich vielleicht fragen. Weil, werde ich erwidern, nicht bloß der redliche und ungerechte Gewinn zusammen mehr als das Doppelte des bloß redlichen beträgt, sondern auch weil der Aufwand Dessen den jede Ausgabe verdrießt, mag sie nun zu ehrenvollen oder schändlichen Zwecken bestimmt sein, um das Doppelte kleiner ist als der braver Leute welche zu löblichen Zwecken keine Ausgabe scheuen. Niemals aber kann Der welcher nur die halben Einnahmen und dabei doch die doppelten Ausgaben hat der Reichere sein. Wohl aber ist er der Tugendhafte, jeder Andere aber, so lange er wirklich sparsam ist, wenigstens nicht lasterhaft, sonst aber bis zum höchsten Grade, wirklich tugendhaft aber, wie nunmehr aus dem eben Gesagten folgt, niemals. Denn wer auf gerechte wie auf ungerechte Weise Gewinn zieht, und weder zu gerechten noch zu ungerechten Dingen ausgibt, wird reich, der im höchsten Grade Lasterhafte aber pflegt, weil er meistens ein liederlicher Schwelger ist, sehr arm zu sein; wer endlich Ausgaben zu edlen Zwecken nicht scheut und nur auf gerechtem Wege erwirbt, wird zwar schwerlich ausnehmend reich, aber auch nicht ganz arm werden; und so ist denn unsere Behauptung bewiesen daß die übermäßig Reichen nicht wirklich tugendhaft sind. Sind sie aber dies nicht, so sind sie auch nicht glücklich.

Das aber war eben der Zweck welchen wir unseren Gesetzen zu Grunde legten, daß unsere Bürger möglichst glücklich und daß sie möglichst einträchtig und befreundet unter einander seien. Es möchten dies aber die Bürger schwerlich dort sein wo viele Rechtsstreitigkeiten unter ihnen stattfinden und viele Ungerechtigkeiten von ihnen gegen einander verübt werden, sondern da wo dies in möglichst unbedeutendem Grade und möglichst selten geschieht. Und eben deshalb behaupten wir daß es weder Gold noch Silber im Staate geben, noch auch ein bedeutender Gelderwerb durch Handwerke, Wucher oder schimpflichen Viehhandel in ihm Platz greifen dürfe, sondern man sich mit dem aus dem Ertrage des Landbaues begnügen müsse, und auch ihn nicht so weit treiben dürfe um dadurch gezwungen zu werden über die Sorge für Gut und Habe Dasjenige zu vernachlässigen um dessen willen Gut und Habe überhaupt vorhanden sind. Dies aber sind Seele und Körper, welche ohne die Schule der Turnkunst und alle sonstige Ausbildung es schwerlich je zu etwas Rechtem bringen. Deshalb bemerkten wir denn auch mehr als einmal daß man der Sorge um das Vermögen die niedrigste Stelle anweisen müsse, und daß, wenn es insgesamt dreierlei Dinge gibt auf welche das Streben jedes Menschen gerichtet ist, Habe und Gut bei einem richtigen Bemühen um dieselben erst das dritte und letzte, dagegen der Körper das zweite und die Seele das erste ist, und so ist denn auch die Verfassung welche wir jetzt durchgehen erst dann richtig durchgeführt wenn sie diese Rangordnung festhält. [744 St.] Wenn sie dagegen irgend ein Gesetz anordnen sollte von welchem sich zeigt daß es der Gesundheit der Bürger den Vorrang vor der Besonnenheit oder dem Reichtum vor der Gesundheit und Besonnenheit gibt, so zeigt sich hierin eine mangelhafte Durchführung. Die Frage muß daher der Gesetzgeber sich öfters vorlegen: „was ist mein Zweck?” und „ob ich wohl Dies oder Jenes erreiche oder vielmehr mein Ziel verfehle?” Denn nur so und nicht anders wird er selbst seine Gesetzgebung glücklich zu Ende zu führen und Andere dieser Mühe zu überheben vermögen.

Es soll also, gebieten wir, Niemand anders als unter den vorgeschriebenen Bedingungen den ihm zugefallenen Landesanteil antreten, und schön wäre es wenn ein Jeder auch in allen anderen Stücken mit gleichem Vermögen wie die Übrigen in die Kolonie einträte. Da Dies nun aber nicht möglich ist, sondern der Eine mehr, der Andere weniger Vermögen mitbringen wird, so müssen aus mancherlei Gründen, und namentlich um eine Ausgleichung des Verhältnisses zum Staate herbeizuführen, nach dem ungleichen Vermögen verschiedene Schatzungsklassen gemacht werden, damit obrigkeitliche Würden, Abgaben und Nutzungen nach dem abgeschätzten Vermögensbestande eines Jeden verteilt werden, und man nicht bloß nach Maßgabe der Tüchtigkeit seiner Voreltern so wie seiner selbst und leiblicher Stärke und Schönheit, sondern auch von Vermögensbesitz oder Armut, also mit völlig gleichmäßiger Berücksichtigung aller ungleichmäßigen Verhältnisse, so daß Jedem das Angemessene zu Teil wird, zu den Ehrenstellen und Ämtern gelange und somit kein Zwist hierüber entstehen kann. Deswegen muß man denn nach der Größe des Vermögens vier Schätzungsklassen machen und so Bürger erster, zweiter, dritter und vierter Ordnung, oder mit welchem andern Namen man sie bezeichnen will, unterscheiden, mögen sie nun dabei in derselben Schatzung bleiben oder aus Armen reicher oder arm aus Reichen werden, in welchem Falle sie dann in die ihnen zukommende Klasse übergehen.

Hieran möchte ich nun aber wieder folgenden Gesetzesentwurf als zunächst hiermit zusammenhängend anschließen. Es muß nämlich, wie ich meine, in einem Staate welcher von der größten aller Krankheiten frei bleiben soll, welche man Aufruhr oder noch richtiger Spaltung nennt, weder der eine Teil der Bürger in drückender Armut, noch der andere in Reichtum leben, da dies Beides jenes Beides erzeugt, und so muß denn der Gesetzgeber nunmehr jedem von Beiden eine Grenze setzen. Die Grenze der Armut sei demnach der Wert des erlosten Landesanteils, in dessen Besitz man sich erhalten muß und dessen Verringerung weder irgend ein Beamter noch auch sonst Jemand welcher Ehre und Tugend liebt ruhig mit ansehen darf; und nachdem der Gesetzgeber so dies als Maß hingestellt hat, mag er erlauben seinen Besitz auf das Zwei-, Drei-, ja Vierfache hievon auszudehnen. Wenn aber Jemand noch mehr im Besitz hat, so soll er den Überschuss, gleichviel ob er ihn durch einen Fund oder eine Schenkung oder durch Geschäftserwerb oder durch irgend sonst einen Glücksfall sich erworben hat, [745 St.] an den Schatz des Staates und seiner Schutzgötter abgeben, wenn er anders seinen guten Namen erhalten und sich vor Strafe bewahren will. Wenn aber Jemand diesem Gesetze nicht Folge leistet, so soll es anzeigen wer da will und dafür die Hälfte zur Belohnung empfangen, der Schuldige überdies den Betrag des Überschusses noch einmal als Strafe bezahlen, die andere Hälfte aber an die Götter fallen. Das gesamte Besitztum Aller aber, mit Ausnahme des ihnen durch das Los zugewiesenen, soll aufgezeichnet und diese Aufzeichnungen an einem öffentlichen Orte bei der Behörde welcher das Gesetz die Überwachung dieser Verhältnisse übertragen hat, niedergelegt werden, um in allen Rechtsstreitigkeiten, so weit sie sich auf Geldangelegenheiten beziehen, die Entscheidung recht leicht und klar zu machen.

Hiernächst werden wir verordnen daß die Stadt möglichst in der Mitte des Landes liege und daß man unter allen vorhandenen Örtlichkeiten diejenige für sie auswähle welche auch sonst alle Vorteile für sie darbietet welche zu erkennen und anzugeben nichts Schwieriges ist. Sodann soll man zuvörderst die sogenannte Burg anlegen, indem man ein Heiligtum der Hestia, des Zeus und der Athene daselbst gründet und mit einer Ringmauer umgibt, und soll dann von hier aus die Stadt selbst und das ganze Land in ihre zwölf Teile zerlegen, denen dadurch ein gleicher Wert zu geben ist daß man die von gutem Lande klein und die von schlechtem größer macht. Dann teile man dieselben weiter in 5040 Grundstücke und wieder jedes derselben in zwei Teile und lasse stets zwei solcher Teile auf Ein Los fallen, so daß ein solches stets sowohl etwas von dem näher als von dem ferner liegenden Acker in sich schließt, und zwar der zunächst an der Stadt gelegene Teil mit dem an den äußersten Landesgrenzen gelegenen zusammen ein solches bildet, und dann wieder der welcher von der Stadt aus der zweite mit dem welcher es von der Grenze aus ist, und immer so weiter. Dabei muß man aber dafür sorgen daß man auch bei diesen Teilen das so eben Besprochene, nämlich die Schlechtigkeit und Güte des Bodens, dadurch wieder ausgleicht daß man sie größer oder kleiner macht. Sodann müssen aber auch die Männer in zwölf Abteilungen geteilt werden, nachdem man auch das übrige Vermögen aufgezeichnet und auch dessen möglichst gleiche Verteilung in die zwölf Teile angeordnet hat. Und alle diese zwölf Teile sollen hernach durch das Los unter zwölf Götter verteilt und jeder derselben dem Gotte welchem er dabei zufällt geweiht und benannt werden, alle insgesamt aber Bezirke, Phylen heißen. Auch die Stadt ferner muß auf dieselbe Art in ihre zwölf Teile geteilt werden wie das übrige Land, und darnach sind denn einem jeden auch zwei Wohnungen anzuweisen, die eine nach der Mitte, die andere nach den Grenzen des Landes zu. Und damit möge denn die Anlage des Staates ihr Ende haben.

Indessen müssen wir dabei jederzeit bedenken daß alles bisher Entwickelte schwerlich je auf so günstige Bedingungen trifft daß Alles dabei so ganz nach dem vorgezeichneten Entwurfe geraten kann und [746 St.] sich Männer finden die eines solchen Gemeindelebens nicht überdrüssig werden, sondern sich mit dem Besitze eines festbestimmten und nur mäßigen Vermögens zufrieden geben und die angegebenen für Jedermann feststehenden Vorschriften über Kinderzeugung, so wie die Entbehrung des Goldes, und alle andern Gebote welche der Gesetzgeber nach Maßgabe unserer bisherigen Erörterungen offenbar ihnen geben wird, ferner den Besitz eines Grundstücks in der Mitte und eines andern im Umkreise des Landes und einer Wohnung in der Mitte und einer im Umkreise der Stadt gefallen lassen, so wie Dies ihnen der Gesetzgeber vorgeschrieben hat wobei es Manchem vorkommen möchte als ob er Träume erzählte oder einen Staat und seine Bürger gleichsam aus Wachs formen wollte. Und allerdings sind dergleichen Einwände gar nicht so unrichtig, nur aber muß Jeder dabei Dies bei sich erwägen daß der Gesetzgeber uns hierauf erwidern wird: Glaubet nur nicht, liebe Freunde, bei diesen euren Einwürfen daß ich nicht selber schon daran gedacht habe, wie sich Dergleichen mit einem gewissen Rechte mir entgegenhalten läßt, aber ich bin der Meinung daß es bei allen Unternehmungen das Richtigste ist wenn man sich ein Muster aufstellt, wie das Unternommene ausfallen soll, und es diesem an der höchsten Schönheit und Wahrheit nicht fehlen läßt. Ist es dann unmöglich das eine oder das andere Stück desselben wirklich zur Ausführung zu bringen, so läßt man dieses eben fallen und führt es nicht aus, aber was unter dem Übrigen Diesem im Nächsten steht und seiner Natur nach am Meisten mit Dem was sich auszuführen ziemt verwandt ist, Das muß man dann auf jede Weise ins Werk zu setzen suchen. Also lasse man auch den Gesetzgeber seinen Plan zu Ende führen, und erst wenn dies geschehen ist, dann untersuche man gemeinsam mit ihm was von seinen Ausführungen von Anwendbarkeit und was dagegen in der Gesetzgebung nicht durchführbar sei. Denn auch selbst der Meister eines auch nur geringfügigen Werkes muß etwas in allen Stücken in sich selber Zusammenstimmendes liefern, wenn er überhaupt der Beachtung wert sein will.

Nachdem wir aber so den Beschluß gefaßt haben jene zwölf Hauptteile zu machen, müssen wir nunmehr uns auch daran wagen in Betracht zu ziehen, auf welche Art dieselben weiter zu teilen sind. Offenbar nun sind sie es in solche Teile welche wiederum möglichst viele Divisoren haben, und weiter in die sonach in diesen enthaltenen und aus ihnen sich ergebenden bis zu den 5040 hin. Nach Maßgabe hievon muß das Gesetz Phratrien, Demen und Komen, so wie die Geschwader und Züge des Heeres, ferner auch Münzen und Maße für trockene wie für nasse Gegenstände anordnen, so daß dies Alles in sich angemessen und mit einander übereinstimmend wird. Ja, man muß sich noch dazu auch nicht einmal davor scheuen daß es den Anschein von Kleinlichkeit gewinnen möchte, wenn man den Bürgern vorschreibt von allen Gerätschaften welche sie in ihrem Besitze haben keine ohne ein bestimmtes Maß zu lassen, und wenn man überhaupt es zu einem allgemeinen Grundsatz zu erheben sucht [747 St.] daß die Beobachtung der verschiedenen Teilbarkeit der Zahlen und ihrer mannigfachen Kombinationen, sowohl derer die sie in sich selbst darbieten als auch in Anwendung auf Längen und Tiefenbestimmungen und auf Töne und Bewegungen, mögen nun die letzteren in gerader Richtung nach oben oder unten oder im Kreise vor sich gehen, zu allem Möglichen nützlich ist. Mit Rücksicht auf diesen mannigfaltigen Nutzen muß daher der Gesetzgeber allen Bürgern gebieten, so weit es in ihren Kräften steht, nie die Beobachtung dieser Verhältnisse außer Acht zu lassen, und kein einziger von den zur Jugendbildung gehörigen Zweigen des Wissens hat für Haus- und Staatsverwaltung so wie für alle möglichen Künste und Gewerbe so große Bedeutung als das Rechnen. Sein wichtigster Nutzen aber ist der daß es einen von Natur Schläfrigen und Ungelehrigen aufweckt und ihm Gelehrigkeit und Schärfe des Gedächtnisses und des Verstandes mitteilt, so daß er durch göttliche Kunst seiner Naturanlage zum Trotz fortschreitet. Jedoch wird aller Unterricht in ihr nur dann wenn durch anderweitige Gesetze und Einrichtungen niedrige Gesinnung und Gewinnsucht aus den Seelen Derer verbannt wird denen diese Fertigkeit in einem genügenden und nutzbringenden Grade beigebracht werden soll, zu einem empfehlenswerten und angemessenen Erziehungsmittel. Wo dies dagegen nicht der Fall ist, da wird er unvermerkt Verschmitztheit statt Weisheit zu Wege bringen, wie man dies jetzt an den Ägyptern und Phönikiern und vielen andern Völkern in Folge der schlechten Beschaffenheit ihrer sonstigen Einrichtungen und der niedrigen Erwerbszweige welche sie betreiben wahrnehmen kann, sei es nun daß dies ein vielleicht schlechter Gesetzgeber der ihnen zu teil ward verschuldet hat, oder aber ein ungünstiges Geschick das über sie hereinbrach, oder auch irgend eine andere Ursache dieser Art. Denn auch Das, Megillos und Kleinias, dürfen wir nicht außer Acht lassen daß die Örtlichkeit eines Landes von großem Einflusse darauf ist bessere oder schlechtere Menschen hervorzubringen, und mit dieser Beobachtung darf die Gesetzgebung nicht in Widerspruch treten. Manche Orte sind nämlich in Betracht der mannigfachen Winde und der Sonnenwärme von ungewöhnlichem und verhängnisvollem Charakter, andere in Rücksicht des Wassers, noch andere auch in Bezug auf jene unsere Nahrung aus den Gewächsen der Erde, indem sie nicht nur für den Körper teils eine heilsamere, teils eine schädlichere hervorbringen, sondern auch eine solche welche nicht weniger auch auf die Seelen einen besseren oder schlimmeren Einfluß auszuüben vermag. Am Meisten aber kommt es wiederum darauf an daß in allen diesen Stücken diejenigen Orte des Landes vor allen andern bevorzugt sind welche ein göttlicher Hauch durchweht und die den Dämonen als ihr Anteil zufallen, denn davon hängt es ab ob Götter und Dämonen die jedesmal sich Niederlassenden gnädig oder ungnädig aufnehmen. Dies Alles also muß der Verständige Gesetzgeber wohl in Obacht nehmen, soweit es überhaupt für einen Menschen möglich ist Dergleichen zu erforschen, bevor er seine Gesetze zu entwerfen unternimmt, und Dies muß mithin auch von dir, lieber Kleinias, geschehen, auf dies alles wirst du zuerst deine Aufmerksamkeit zu richten haben, da du eine Pflanzstadt anlegen willst.

KLEINIAS: Gewiß, athenischer Gastfreund, du hast durchaus wohl gesprochen und ich werde nach deinen Worten zu handeln haben.

SECHSTES BUCH


[751 St.] DER ATHENER: Nächst allem dem bisher Besprochenen werden jetzt wohl die Obrigkeiten für den Staat von dir einzusetzen sein.

KLEINIAS: So ist es.

DER ATHENER: Folgende zwei Hauptstücke gehören zur Begründung einer geordneten Staatsverfassung: erstens die Verfügungen über die obrigkeitlichen Ämter und darüber wer sie bekleiden soll, nämlich über ihre Zahl und die Art ihrer Besetzung, und zweitens hat man sodann den einzelnen dieser Behörden die Handhabung der Gesetze zu übertragen und zu bestimmen welche und welcherlei und wie viele dem Wirkungskreise einer jeden zukommen sollen. Ehe wir nun aber zur Wahl schreiten, laßt uns noch ein wenig verziehen und vorher eine Bemerkung machen die notwendig in Betreff ihrer ausgesprochen werden muß.

KLEINIAS: Nun, und welche?

DER ATHENER: Folgende. Einem jeden ist wohl soviel klar daß, ein so wichtiges Ding die Gesetzgebung auch ist, dennoch einem wohl eingerichteten Staate aus seinen guten Gesetzen nicht nur kein Nutzen erwachsen würde wenn er ungeschickte Behörden zu ihrer Handhabung bestellen wollte, und daß er sich nicht bloß dadurch dem allgemeinen Gelächter Preis geben, sondern daß auch wohl selbst die größten Schäden und Nachteile in einem solchen Falle aus guten Gesetzen für einen Staat entspringen würden.

KLEINIAS: Wie anders?

DER ATHENER: Laß uns denn beachten, Freund, daß gerade dir bei der Verfassung und dem Staate die du jetzt begründen sollst eben diese Schwierigkeit entgegentritt. Denn du siehst ein daß zuvörderst Die welche auf dem richtigen Wege zu obrigkeitlicher Wirksamkeit gelangen sollen nicht bloß hinsichtlich ihres eigenen Lebenswandels von Kindheit auf bis zur Zeit der Wahl, sondern auch hinsichtlich der Unbescholtenheit ihres Geschlechts einer genügenden Prüfung sich unterzogen haben, und daß sodann auch Diejenigen welche die Wahl vornehmen sollen in den vom Gesetze vorgeschriebenen Sitten richtig auferzogen sein müssen, um dadurch in den Stand gesetzt zu werden eine richtige Entscheidung darüber zu fällen wer dessen würdig ist bei der Wahl verschmäht oder angenommen, gewählt oder nicht gewählt zu werden. Und wie werden daher Leute die eben erst zusammengetreten sind, einander noch nicht kennen und noch nicht die erforderliche Erziehung gehabt haben, je auf eine untadelhafte Weise die Behörden zu wählen im Stande sein?

KLEINIAS: Sie werden es schwerlich jemals.

DER ATHENER: Allein mitten im Kampf, sagt man, gilt keine Ausflucht mehr, und darnach müssen denn auch wir Beide handeln, da du deinerseits nach deiner Angabe mit noch neun Anderen bereitwillig vom Volke der Kreter den Auftrag übernommen hast diese neue Kolonie zu gründen und [752 St.] ich meinerseits versprochen habe dir durch diese unsere gegenwärtige Unterhaltung darin behilflich zu sein, und da werde ich doch wohl die begonnene Ausführung mit meinem Willen nicht ohne Kopf lassen, denn ließe ich sie ohne solchen umherlaufen, so würde sie Jedermann ungestalten erscheinen.

KLEINIAS: Vortrefflich gesprochen, mein Freund!

DER ATHENER: Nicht allein gesprochen, sondern ich werde auch nach Kräften so handeln.

KLEINIAS: Recht so, wie wir sprechen so wollen wir auch handeln.

DER ATHENER: So soll es geschehen, so Gott will und wir das Alter noch so weit zu überwinden vermögen.

KLEINIAS: Nun, daß Gott will dürfen wir wohl hoffen.

DER ATHENER: Gewiß dürfen wir es, und indem wir uns daher seiner Führung überlassen laß uns auch dies bemerken.

KLEINIAS: Nun was?

DER ATHENER: Wie tapfer und unbedenklich wir jetzt unsern neuen Staat zu gründen im Begriffe stehen.

KLEINIAS: Welchen Zweck hast du denn so recht eigentlich bei dieser deiner Bemerkung im Auge?

DER ATHENER: Daß wir jetzt ganz getrost und zuversichtlich unerfahrenen Leuten Gesetze geben, unbekümmert darum wie sie dieselben wohl aufnehmen werden. So viel ist aber doch, lieber Kleinias, wohl Jedermann klar, und auch Dem der nicht sonderliche Einsicht hat, daß sie anfänglich keins derselben leicht annehmen werden. Wenn wir aber etwa so lange Zeit warten wollten bis die Jugend diese Gesetze gekostet hat und mit ihnen auferzogen und hinlänglich an sie gewöhnt ist und dieselbe dann mit der gesamten Bürgerschaft an der Wahl der Behörden Teil nimmt. Gelingt es uns indessen unsere Pläne durchzusetzen und die richtigen Mittel und Wege hiezu zu finden, so hege ich für meinen Teil die größte Zuversicht daß der Staat sodann auf Grund einer solchen Erziehung auch für die weitere Folge Bestand gewinnen wird.

KLEINIAS: Das läßt sich freilich mit Grund erwarten.

DER ATHENER: So laß uns denn zusehen ob wir etwa in Folgendem einen geeigneten Weg hiezu ausgemittelt haben. Ich meine, lieber Kleinias, daß die Knosier vor allen andern Kretern nicht bloß sich leicht und lediglich um nur so ihr Gewissen zu beschwichtigen, von ihren Pflichten gegen diese neu zu gründende Pflanzstadt abmachen dürfen, sondern mit allen Kräften darauf hinarbeiten müssen daß die obrigkeitlichen Ämter das erste Mal mit den sichersten und besten Leuten besetzt werden. Hinsichtlich der übrigen nun ist das eine leichtere Arbeit, aber auf die Wahl der ersten Gesetzesverweser müssen wir ganz notwendigerweise alle mögliche Sorgfalt verwenden.

KLEINIAS: Was für Mittel und Wege aber können wir hiezu finden?

DER ATHENER: Folgende. Ich behaupte, ihr Söhne der Kreter, die Knosier müssen in Anbetracht dessen daß sie vor den meisten Städten Kretas den Vorrang haben gemeinschaftlich mit Denen welche in diese Kolonie eintreten teils aus ihrer Mitte teils aus den Letzteren im Ganzen siebenunddreißig Männer auswählen, [753 St.] und zwar neunzehn aus den Kolonisten und achtzehn aus Knossos. Diese achtzehn nun sollen die Knosier deinem Staate abtreten und dich selbst zu Einem von ihnen und zum Bürger dieser Pflanzstadt machen, sei es daß ihr euch dazu überreden laßt, sei es durch Anwendung eines mäßigen Zwanges.

KLEINIAS: Warum wollt denn nicht auch ihr, du und Megillos, mit uns Teil an diesem Staate haben?

DER ATHENER: Hohe Gedanken, lieber Kleinias, hegt Athen, hohe auch Sparta, und beide sind weit abgelegen. Für dich dagegen schickt sich alles so eben in Betreff deiner Vorgeschlagene wohl, und ein Gleiches eben so auch für die übrigen siebzehn.

So viel also darüber, was am Zweckmäßigsten unter den gegenwärtigen Verhältnissen erfolgen dürfte, im Fortgange der Zeit aber mag beim Fortbestande des Staates die Wahl etwa folgendermaßen vor sich gehen. Anteil an ihr sollen Alle haben welche zu Roß oder zu Fuß im Heere dienen oder aber, so lange es ihnen ihr Älter und ihre Kräfte erlaubten, am Kriegsdienste Teil genommen haben. Die Wahl aber soll in dem Tempel abgehalten werden welchem der Staat die höchste Ehre zollt, und es soll ein Jeder auf dem Altare des Gottes ein Täfelchen niederlegen, auf welchem er den Namen, dessen Vater, Bezirk (Phyle) und Gau (Demos) aufgezeichnet und seinen eigenen Namen mit denselben näheren Bezeichnungen daruntergeschrieben hat. Sodann aber soll einem Jeden wer da will gestattet sein diejenigen von diesen Täfelchen deren Aufschriften nicht nach seinem Sinne sind wegzunehmen und mindestens dreißig Tage auf dem Markte auszustellen. Die Täfelchen aber welche auf die Namen derjenigen Dreihundert lauten welche die meisten Stimmen erhalten haben sollen von den Behörden der ganzen Bürgerschaft zur Ansicht vorgelegt werden, und aus dieser Zahl soll dann gleichermaßen jeder Bürger wiederum Denjenigen wählen welcher ihm gefällt, und diejenigen Hundert welche bei dieser zweiten Wahl die meisten Stimmen erhalten haben sollen wiederum zur allgemeinen Kunde gebracht werden. Und zum dritten Mal soll endlich aus diesen hundert Jeder der will Den welchen er will erwählen, indem er dabei zwischen zerstückelten Opfertieren einhergeht, und die Siebenunddreißig welche dabei die meisten Stimmen bekommen haben sollen für gewählt gelten und als die Mitglieder dieser Behörde eingeführt werden.

Wer sollen nun aber, Kleinias und Megillos, Diejenigen sein welche für dies Alles, für Wahl und Prüfung rücksichtlich der Behörden die nötige Anordnung treffen? Sehen wir nämlich nicht ein daß es in einem solchen eben erst gegründeten Staatsverband solcher Leute bedarf welche eben bei dem Nochnichtvorhandensein jeglicher Behörden erforderlich sind? Gewiß bedarf es ihrer so oder so, und zwar dürfen es nicht schlechte, sondern möglichst tüchtige Leute sein. Denn den Anfang pflegt man ja überall für das halbe Werk zu erklären, und Etwas gut angefangen zu haben preisen wir alle jederzeit. Im vorliegenden Falle aber ist meines Erachtens ein guter Anfang mehr als die Hälfte, [754 St.] und Niemand vermag es genügend zu preisen wenn er glücklich gelingt.

KLEINIAS: Du hast ganz Recht.

DER ATHENER: Wohlan denn, da wir Dies einsehen, so wollen wir diesen Punkt nicht unbesprochen vorüberlassen, vielmehr für unser Teil uns klar machen, auf welche Weise dieser Anfang von Statten gehen muß. Ich nun wüßte zur Zeit keine andere Weise anzugeben, die eben so nützlich wie durch die Notwendigkeit geboten wäre, als nur eine einzige.

KLEINIAS: Und welche ist dies?

DER ATHENER: Ich meine, der Staat welchen wir gründen wollen hat so zu sagen zum Vater und zur Mutter keinen andern als den welcher ihn angelegt hat. Zwar weiß ich wohl daß viele Pflanzstädte mit ihren Mutterstädten oftmals in Uneinigkeit geraten sind und auch ferner geraten werden, indessen die unsere ist in diesem Augenblicke noch erst gleichsam ein Kind, das, wenn es auch dereinst mit seinen Erzeugern zerfallen sollte, doch jetzt in der Hilflosigkeit des Kindesalters noch sie liebt und von ihnen geliebt wird und stets zu seinen nächsten Verwandten seine Zuflucht nimmt und bei ihnen allein den ihm unentbehrlichen Schutz findet. Ein solches, findet also jetzt seitens der Knosier zu diesem neuen Staate in Bezug auf ihre Vorsorge für denselben uns seitens des neuen Staates zu den Knosiern in Wirklichkeit statt. Und eben deshalb sage ich denn nochmals, denn etwas Richtiges kann man ohne Schaden zweimal sagen, die Knosier müssen sich dieser ganzen Sache gemeinschaftlich annehmen, und aus Denen welche in die Kolonie eintreten die Ältesten und möglichst die Besten, und zwar nicht weniger als hundert an der Zahl auswählen, und aus ihrer eigenen Mitte müssen dann noch hundert Ändere hinzukommen und auch diese Letzteren, meine ich, sich mit in den neuen Staat begeben und mit jenen Ersteren dafür Sorge tragen daß die Behörden den Gesetzen gemäß eingesetzt werden und nach der Wahl sich noch erst der Prüfung zu unterziehen haben. Nachdem dies aber geschehen ist, mögen die Knosier für Knossos sorgen und der neue Staat selbst zusehen wie er sein Heil und seine Wohlfahrt erhalten möge.

Die Behörde der Siebenunddreißig nun aber soll für jetzt wie für alle Folgezeit zu folgenden Geschäften von uns eingesetzt sein. Fürs Erste sollen sie über die Aufrechterhaltung der Gesetze wachen, fürs Zweite das Verzeichnis in Verwahrung haben für welches ein jeder die Summe seines Vermögens der Behörde anzugeben hat, mit Ausnahme von vier Minen für den welcher die Schatzung der ersten, von drei für den welcher die der zweiten, von zwei für den welcher die der dritten, und von einer für den welcher die der vierten Klasse hat. Wenn es aber zu Tage kommt daß Jemand Etwas außer dem in diesem Verzeichnis Aufgeführten besitzt, so soll dies Alles für die Staatskasse eingezogen und überdies soll ihm noch der Prozeß gemacht werden, wenn Jemand ihn gerichtlich verfolgen will, ein Prozeß welcher ihm nicht Ehre und guten Namen, sondern Schande bringen wird, wenn er so um des Gewinnes willen die Gesetze verachtet zu haben überführt wird. Nämlich die Anklage auf schimpflichen Gewinn mag gegen ihn wer da Lust hat und vor dem Gesetzesverweser selbst erheben und verfolgen, und wenn er dann für schuldig erklärt wird, [755 St.] so soll er keinen Anteil mehr am Gemeindegut haben und leer ausgehen wenn irgend eine Verteilung unter die Bürger vorgenommen wird, und nur sein Grundstück soll ihm verbleiben, und dies über ihn ausgesprochene Urteil soll öffentlich zur Schau gestellt werden so lange er lebt, und wo Jedermann der Lust hat es lesen kann. Nicht länger aber als zwanzig Jahre soll ein Gesetzesverweser sein Amt bekleiden und nicht vor seinem fünfzigsten Jahre zu demselben wahlfähig sein, und ist er erst in seinem sechzigsten Jahre in dasselbe gelangt, so soll er es nur zehn Jahre verwalten und überhaupt, so bald Einer das siebzigste Lebensjahr überschritten hat, darf er nicht mehr daran denken als Mitglied dieser Behörde noch eine so wichtige Würde zu bekleiden.

Bei diesen drei Anordnungen in Betreff der Gesetzesverweser lassen wir es für jetzt bewenden. In der weitern Darlegung der Gesetze aber wird ein jedes derselben diesen Männern vorschreiben, auf was sie außer dem eben Angegebenen noch ihre Sorge zu richten haben. Jetzt aber wollen wir auch die Wahl der übrigen Behörden der Reihe nach durchgehen.

Hiernächst nun ist offenbar die von Oberfeldherrn, den Strategen erforderlich und sodann die ihrer Unterbefehlshaber, der Hipparchen, den Reiterobersten, die der Phylarchen, den Befehlshabern der Reiterphylen, und der Führer von den Phylen des Fußvolks, für welche eben der Name wirklich am Besten passen dürfte welchen man ihnen gewöhnlich gibt, der der Taxiarchen, der Reihenführer. Zu Oberfeldherrn nun sollen die Gesetzesverweser Leute vorschlagen welche aus diesem Staate selbst gebürtig sind, das Recht unter den vorgeschlagenen zu wählen aber sollen alle Diejenigen haben welche im waffenfähigem Alter Kriegsdienste geleistet haben, so wie alle Diejenigen welche sie noch leisten. Wenn aber Jemandem Einer von den Nichtvorgeschlagenen geeigneter erscheint als Einer von den Vorgeschlagenen, so soll Derselbe den Letztern so gut wie den Ersteren, den er an seine Stelle zu setzen wünscht, namhaft machen und dann unter eidlicher Bekräftigung seiner Überzeugung eben diesen in Gegenvorschlag bringen, und wer dann von Beiden bei der Abstimmung durch Aufheben der Hände durchgeht soll mit zur Wahl kommen. Die Drei aber für welche die meisten Hände erhoben werden sollen Oberfeldherrn und Verwalter des Kriegswesens sein, nachdem sie eben so wie die Gesetzesverweser einer Prüfung unterzogen worden sind. Diese ernannten Strategen aber sollen sodann selber ihre zwölf Taxiarchen, Einen für jede Phyle, vorschlagen und zwar soll ein eben solcher Gegenvorschlag wie bei ihrer eignen Wahl auch bei der dieser Taxiarchen erlaubt sein und die Abstimmung durch Händeaufheben und überhaupt die Wahlentscheidung ebenso vor sich gehen. Und zwar sollen dies erste Mal, da noch keine Prytanen und kein Rat gewählt sind, die Gesetzesverweser diese Wahlversammlung auf einen Platz zusammenberufen welcher am heiligsten und am geeignetsten dazu ist, gesondert die Schwerbewaffneten, gesondert die Reiter, und als eine dritte Abteilung für sich alle Diejenigen aufstellen welche noch sonst im Kriege Dienste tun. Und über die Strategen sollen Alle abstimmen, ihre Taxiarchen aber sollen diesen nur die Schildträger, [756 St.] und eben so die ganze Reiterei ihre Phylarchen wählen, was aber die Führer der Leichtbewaffneten, Bogenschützen und aller sonstigen Waffengattungen anlangt, so mögen die Strategen diese sich selber bestimmen. Und so dürfte denn nur noch die Einsetzung der Hipparchen für uns festzustellen übrig sein. Diese sollen von eben Denen, von welchen die Strategen selber, in Vorschlag gebracht werden, und auch mit Wahl und Gegenvorschlag soll es eben so wie bei den Strategen gehalten werden, nur aber soll über sie bloß die Reiterei abstimmen und das Fußvolk bloß Zuschauer dabei sein, und diejenigen Zwei für welche sich die meisten Hände erheben sollen Anführer der gesamten Reiterei sein. Bleibt die Entscheidung zweifelhaft, so soll bis zu zweimal von Neuem abgestimmt werden, hegt dagegen Jemand auch bei der dritten Abstimmung noch Zweifel, so sollen Diejenigen entscheiden welche jedesmal die Wahl zu leiten hatten.

Der Rat soll aus dreißigmal zwölf Personen bestehen, denn die Zahl dreihundertundsechzig ist für die zu machenden Abteilungen höchst bequem. Man teile sie zuerst durch vier, so gibt dies neunzig, und neunzig Ratsmitglieder wähle man aus jeder Schatzungsklasse. Zuerst nun muß die ganze Bürgerschaft die aus der ersten Klasse zu wählen verbunden sein, und wer dieser seiner Pflicht nicht nachkommt soll einer festzusetzenden Strafe verfallen. Die Gewählten sind dann sofort aufzuzeichnen. Am folgenden Tage soll die Wahl aus der zweiten Klasse auf dieselbe Weise wie am vorhergehenden stattfinden, am dritten aber die aus der dritten Klasse, zu welcher gleichfalls alle Bürger ohne Ausnahme berechtigt, jedoch nur die der drei Klassen verpflichtet sind, während Jeder aus der vierten und niedrigsten Klasse der sich bei der Wahl nicht beteiligen will dies ungestraft unterlassen darf, am vierten Tage endlich soll die ganze Gemeinde aus der vierten und niedrigsten Klasse wählen, so jedoch daß Bürger der vierten und dritten Klasse welche ihr Wahlrecht nicht ausüben wollen deshalb nicht in Strafe verfallen, wogegen ein Bürger aus der zweiten und ersten Klasse in einem solchen Falle Buße bezahlen muß, und zwar der Erstere die dreifache, der Letztere aber die vierfache Buße des ersten Tages. Am fünften Tage aber sollen die Behörden das Verzeichnis aller Vorgeschlagenen der ganzen Bürgerschaft zur Einsicht vorlegen und aus ihrer Zahl dann jeder Bürger die Wahl treffen oder aber mit der Strafe des ersten Tages belegt werden, und nachdem so hunderundachtzig Personen aus jeder Schatzungsklasse erwählt sind, soll die Hälfte derselben durch das Los ausgeschieden, die andere Hälfte aber nach bestandener Prüfung auf ein Jahr als Mitglieder des Rates eingeführt werden.

Eine Wahl welche so vor sich geht wird die Mitte halten zwischen monarchischer und demokratischer Einrichtung, zwischen denen eben eine Verfassung immer die Mitte halten muß, [757 St.] denn Sklaven und Herren werden schwerlich jemals Freunde werden und eben so wenig schlechte und tüchtige Männer in gleichen Ehren und Würden, weil die gleichen Dinge ungleich werden wenn sie an ungleiche Leute kommen und somit das richtige Maßverhältnis aufhört, und durch jene beiden Verfassungen müssen daher die Staaten voll Aufruhr werden. Denn ein altes und wahres Sprichwort drückt sich zwar sehr richtig und treffend dahin aus daß Gleich und Gleich sich gern gesellt, aber was für eine Gleichheit es ist die dies zu bewirken vermag, das ist großer Unklarheit unterworfen und bringt daher auch große Verwirrung bei uns zu Wege. Es gibt nämlich zwei Arten von Gleichheit, welche zwar nur Einen Namen führen, aber doch in Wahrheit in vielen Dingen einander beinahe geradezu entgegengesetzt sind, und die eine kann jeder Staat und jeder Gesetzgeber leicht in die Besetzung der Ehrenstellen einführen, nämlich die Gleichheit nach Maß, Zahl und Gewicht, indem er sie durch Anwendung des Loses bei der Verteilung herstellt, die eigentlichste und beste Gleichheit dagegen ist nicht mehr so leicht für Jedermann zu erkennen, denn Zeus hat über sie das Urteil und die Entscheidung, und den Menschen ist allzeit nur Weniges von ihr verliehen, so viel aber nur immer Staaten oder Privatleuten von ihr zu Teil geworden ist, das bringt Nichts als Gutes zu Wege. Sie nämlich ist es die dem Größeren mehr und dem Kleineren weniger zuteilt und ihre Gaben im rechten Verhältnis zu der Natur des jedesmal zu Begabenden verleiht. Und demgemäß verteilt sie denn auch die Ehrenstellen nach Verhältnis, indem sie Denen welche reicher an Tugend sind auch reichere Ehren erweist, und Denen welche sich dagegen an Tugend und Bildung umgekehrt verhalten das ihnen hiernach Gebührende zukommen läßt. Und das Recht und die Gerechtigkeit, welche eben hierin besteht, sind doch wohl eben auch unsere eigentliche Staatsklugheit, und eben nach ihnen müssen wir auch jetzt bei der Gründung unseres jetzt im Entstehen begriffenen Staates hinstreben und diese Gleichheit bei derselben vor Augen haben, und eben so muß wer sonst einmal einen neuen Staat begründet eben dies Ziel bei seiner Gesetzgebung seinem Blicke vorschweben lassen, nicht die Herrschaft Eines oder mehrerer Tyrannen oder des ganzen Volkes, sondern vielmehr die des Rechts, welches, wie gesagt, eben darin besteht daß ungleichen Leuten Dasjenige verliehen werde was der Natur eines Jeden gleichkommt und entspricht. Indessen ist es notwendig daß der gesamte Staat auch von jener anderen, ebenfalls so genannten Gleichheit zuweilen Gebrauch mache, wenn er anders sich vor Aufruhr in allen seinen Teilen sicher stellen will. Denn Billigkeit und Gnade sind ein Abbruch vom Vollkommenen und Genauen und ihre Anwendung ein Verlassen des strengen Rechts, und so ist es notwendig die Gleichheit des Loses ebenfalls anzuwenden, um die Unzufriedenheit der Menge nicht rege zu machen, und Gott und das gute Glück anzuflehen daß sie das Los so ausfallen lassen mögen wie es am Gerechtesten ist. So muß man denn also beide Arten von Gleichheit in Anwendung bringen, [758 St.] aber nur in möglichst wenigen Fällen diejenige von ihnen welche vom Glücke abhängt.

So aus solchen Gründen, Freunde, muß ein Staat notwendig verfahren welcher hei Bestand bleiben will. Gleichwie aber ein Schiff welches auf hoher See einher fährt eine beständige Wache bei Tage und bei Nacht vonnöten hat, gleichermaßen müssen auch in einem Staate der im Wogendrange umgetrieben wird und somit Gefahr läuft mannigfachen Anschlägen zu erliegen, obrigkeitliche Personen vom Tage bis zur Nacht und wieder von der Nacht bis zum Tage hin in der Bewachung einander ablösen und unaufhörlich diese Wacht einander übergeben und von einander empfangen. Die Gesamtmasse des Rats nun aber würde nicht im Stande sein diese Aufgabe mit Schnelligkeit zu verrichten, und es wird deshalb nötig sein die Mehrzahl der Ratsmitglieder die längste Zeit hindurch bei ihren Privatgeschäften verbleiben und ihr Hauswesen ordnen zu lassen, dagegen sie alle für die zwölf Monate in zwölf Abteilungen zu teilen und jede derselben für Einen Monat zu Wächtern zu machen, dergestalt daß sie Jeden der aus der Fremde so wie aus dem Staate selber herkommt in Empfang zu nehmen stets bereit ist, sei es daß derselbe einen Bericht abzustatten oder umgekehrt ein Anfrage zu stellen hat in Bezug auf dergleichen Dinge wie sie ein Staat einem anderen zu antworten oder auf seine Anfrage als Antwort von ihm entgegenzunehmen hat, und dergestalt ferner daß sie ein wachsames Auge auf die mancherlei Neuerungen hat, wie sie wohl im Staate vorzukommen pflegen, und wo möglich dafür Sorge trägt daß sie gar nicht vorkommen und, wenn dies doch der Fall ist, der Staat es möglichst schnell gewahr werde und zu den nötigen Heilmitteln greife. Daher muß denn auch dieser Vorstand des Staates die Vollmacht haben stets die Volksversammlungen zu berufen und sie wieder zu entlassen, und zwar sowohl die regelmäßig festgesetzten als auch diejenigen welche ein unerwarteter Vorfall im Staate nötig macht. Alle diese Geschäfte hat also jedesmal ein zwölfter Teil des Rats einen Monat lang zu verwalten und sodann die elf übrigen Teile des Jahres in Muße zu leben, und zwar soll es diese seine Bewachung des Staates stets in Gemeinschaft mit den übrigen Behörden ausüben.

Für die Stadt selbst nun dürften diese Anordnungen hinreichen. Welche Sorge und Ordnung wird nun aber für das ganze übrige Land erforderlich sein? Werden nicht, sobald die ganze Stadt und das gesamte Land in zwölf Teile geteilt ist, für die Stadt selbst über die Straßen und Wohnungen, die Gebäude der Häfen, den Markt und die Brunnen und so auch über die heiligen Bezirke, Tempel und Alles der Art Aufseher bestellt werden müssen?

KLEINIAS: Versteht sich.

[759 St.] DER ATHENER: So sagen wir denn, den Tempeln müssen Tempelaufseher, Priester und Priesterinnen werden. Für die Straßen und Gebäude aber und für die Aufrechterhaltung der Ordnung in Bezug auf sie im Umkreise der Stadt selbst so wie in den Vorstädten, so daß ihnen weder von Menschen noch Vieh Schaden geschieht und der öffentliche Anstand gewahrt wird, müssen dreierlei Behörden gewählt werden, nämlich unmittelbar für das eben Genannte die Stadtaufseher, für die Ordnung des Marktes aber die Marktaufseher, und für die der Heiligtümer Priester, und zwar soll man, wenn diese oder Priesterinnen im erblichen Besitze von Priestertümern sind, sie nicht aus demselben verdrängen, wenn aber, wie dies bei Leuten welche sich erst neu ansiedeln wahrscheinlich der Fall sein wird, Dergleichen Keinem, oder nur einigen Wenigen zustehen sollte, so muß man, so weit dies eben nicht der Fall ist, Priester und Priesterinnen zu Tempelaufsehern für die Gottheiten bestellen. Von allen diesen nun müssen die einen durch Wahl, die andern durchs Los besetzt werden, indem man dabei überall in Stadt und Land nicht bloß Einen Gau, sondern mit ihm auch die Genossen aller anderen Gaue zusammentreten läßt, um sie so alle enger mit einander zu befreunden und die möglichste Eintracht unter ihnen hervorzurufen. Was nun zunächst die Ernennung der Priester anlangt, so muß man es hier der Gottheit überlassen daß Das geschehe was ihr genehm ist, und somit die Entscheidung dem Lose und der göttlichen Fügung anheimgeben, wohl aber Den auf welchen das Los fällt in jedem Falle einer Prüfung unterwerfen, die fürs Erste dahin geht daß er ohne Leibesschaden und von ehelicher Geburt sei, und sodann dahin daß er aus Familien von möglichst unbeflecktem Namen herstamme und daß er selber frei von Blutschuld und von allen anderen Freveln gegen das göttliche Recht sei und auch sein Vater und seine Mutter auf gleiche Weise gelebt haben. Die Gesetze über das gesamte Religionswesen aber müssen von Delphi geholt und Ausleger derselben bestellt werden, um nach ihrer Entscheidung zu verfahren. Ein Jahr ferner und nicht länger soll man irgend ein Priestertum verwalten, und kein Alter unter sechzig Jahren gestehen wir Dem zu welcher nach den heiligen Satzungen dem Gottesdienste würdig vorstehen soll, und ein gleiches Gesetz soll auch hinsichtlich der Priesterinnen gelten. Zu Auslegern aber sollen dreimal je vier Phylen je vier Bürger sämtlich aus ihrer Mitte durch Wahl in Vorschlag bringen, und zwar so daß die Drei welche die meisten Stimmen bekommen haben für erwählt gelten, die neun Andern aber soll man nach vorher mit ihnen angestellter Prüfung nach Delphi senden und dort erst den Gott aus je Drei Einen auswählen lassen. Hinsichtlich der mit diesen Auslegern vorzunehmenden Prüfung und hinsichtlich ihres Alters aber soll Dasselbe gelten wie bei den Priestern, jedoch sollen sie ihr Amt lebenslänglich bekleiden, und für den Ausgeschiedenen sollen die vier Phylen aus deren Mitte er hervorgegangen ist eine Nachwahl anstellen. Ferner müssen bei jedem Heiligtume eigene Schatzmeister der Tempelgelder angestellt werden, welche zugleich die Aufsicht über die heiligen Bezirke und die Verwaltung ihres Ertrages und Sorge für die Verpachtung derselben haben, [760 St.] und zwar aus den höchsten Schatzungsklassen, drei für die größten, zwei für die kleineren, und für die bescheidensten einer. Die Wahl und Prüfung derselben aber soll eben so vor sich gehen wie die der Oberfeldherrn. Und so möge denn die Verwaltung des Religionswesens sich also gestalten.

Ohne Aufsicht nun aber soll, so weit es möglich ist, Nichts bleiben, und so soll denn dieselbe für die Stadt den Strategen, Taxiarchen, Hipparchen, Prytanen, den Stadt und Marktaufsehern übertragen werden, so bald diese Ämter in gehöriger Ordnung von uns besetzt sind. Die Aufsicht über das ganze übrige Land aber soll in folgender Weise ausgeübt werden. Wir haben dasselbe je in zwölf möglichst gleiche Teile teilen lassen, und jeder Phyle werde nun einer dieser Teile zugelost und jede gebe dann fünf Männer, welche Landaufseher oder Wachtbefehlshaber heißen mögen, her. Jeder von diesen fünf möge sich aus seiner Phyle unter den jungen Männern zwölf auswählen, von denen keiner unter fünfundzwanzig und keiner über dreißig Jahre sein darf, und diesen sollen die Teile des Landes durch das Los überwiesen werden, so daß ein Jeder einen derselben für Einen Monat unter seine Obhut bekommt, damit alle zu einer vollständigen und genauen Kenntnis des ganzen Landes gelangen. Zwei Jahre lang soll das Amt dieser Wachten und ihrer Befehlshaber dauern. Welchen Teil des Landes aber auch ein jeder aus dieser Wachtmannschaft zuerst durchs Los zugewiesen erhält, es müssen die Befehlshaber ihn stets nach Ablauf eines Monats, wo Alle ihren Platz wechseln, in den zunächst gelegenen Landesteil nach der Rechten zu führen, bis er allmählich den ganzen Kreis umschrieben hat, unter der Richtung nach Rechts aber verstehe ich die gegen Morgen. Ist so ein Jahr abgelaufen, so sollen im zweiten die dermaligen Führer, damit möglichst viele aus der Mannschaft nicht bloß Kenntnis von dem Zustande des Landes in Einer Jahreszeit, sondern außer der Kenntnis des Landes auch die der zu jeder Jahreszeit in jedem Teile des Landes eintretenden Zustände gewinnen, sie diesmal bei dem Wechsel ihrer Posten nach der Linken herumführen, bis sie dies zweite Jahr vollends durchgemacht hat. Im dritten Jahre aber sollen je fünf neue Landaufseher und Wachtbefehlshaber für die zwölf Landesteile erwählt werden.

An jedem Ort wo sie sich aufhalten haben sie nun ihre Sorge auf Folgendes zu richten: erstens daß das Land möglichst wohl befestigt gegen die Feinde sei, und zu diesem Zwecke haben sie in allen Teilen des Landes wo es dessen bedarf Vertiefungen machen, Gräben ziehen und Wälle errichten zu lassen, um so nach Möglichkeit Diejenigen abzuwehren welche Land und Gut zu verheeren kommen, [761 St.] und zu diesem Ende sollen ihnen das Zugvieh und die Sklaven an jedem Orte zu Gebote stehen, um so durch diese unter ihrer Aufsicht auszuführen, doch sollen sie möglichst diejenigen unter den Sklaven auswählen welche gerade nicht mit häuslichen Arbeiten beschäftigt sind. So soll man den Feinden Alles möglichst unzugänglich machen, den Freunden aber alles möglichst zugänglich sowohl für Menschen als für Zugvieh und Herden, indem man teils für möglichst gebahnte Wege und teils dafür sorgt daß das Regenwasser dem Lande keinen Schaden zufüge, sondern vielmehr bei seinem Herabrinnen von den Höhen in die tiefen Bergtäler ihm Nutzen gewähre, indem man die Ausflüsse mit Dämmen einengt und Gräben bei ihnen zieht, damit diese das Wasser aufnehmen und einsaugen und so in allen in der Tiefe gelegenen Äckern und Ländereien Quellen und Bäche erzeugen und die trockensten Gegenden reichlich mit gesundem Wasser versehen. Und das fließende Wasser andererseits, mögen es Bäche oder Quellen sein, sollen die Landaufseher mit Pflanzungen und Gebäuden zur Ausschmückung und Verschönerung umgeben, durch Kanäle zusammenleiten und so alle Teile des Landes damit versehen, und wenn etwa irgend ein Hain oder Tempelbezirk in der Nähe geweiht ist, da sollen sie durch Wasserleitungen welche für alle Jahreszeiten ausreichend sind das Wasser ihnen zuführen und so mit ihm die Heiligtümer der Götter zieren. Überall an dergleichen Orten sollen die Jünglinge teils für sich selber Turnplätze, teils für die Greise die diesen nötigen warmen Bäder anlegen und reichen Vorrat von trockenem Brennholz zu demselben herbeischaffen, auf daß diese die Erkrankten heilen und den von Feldarbeiten angegriffenen Leibern eine Pflege gewähren welche ihnen weit besser bekommt als die eines nicht besonders tüchtigen Arztes.

Diese und andere dergleichen Werke nun werden jedem Orte eben so sehr zur Zierde wie zum Nutzen gereichen und seinen Bewohnern einen heiteren Zeitvertreib schaffen. Der ernsteren Aufgaben aber werden folgende sein. Die Sechzig sollen je in ihrem Revier Wache halten, nicht bloß gegen die Feinde sondern auch gegen die vorgeblichen Freunde. Wenn daher ein Nachbar oder sonst einer der Staatsangehörigen, Sklave oder Freier, einem Anderen Unbill zufügt, so sollen in unbedeutenden Sachen Dem welcher beeinträchtigt zu sein behauptet die fünf Wachtbefehlshaber zu seinem Rechte verhelfen, in bedeutenderen aber bis zu drei Minen unter Zuziehung von zwölf zu Siebzehn über jede Anklage dieser Art zu Gericht sitzen. Kein Richter aber soll richten und keine Behörde ihr Amt führen ohne daß sie darüber Rechenschaft abzulegen nötig hätten, mit Ausnahme Derer bei denen die letzte Entscheidung gleich als wie bei Königen ruht. Und so sollen denn auch diese Landaufseher, wenn sie sich gegen Die über welche ihnen die Sorge anvertraut ist einer übermütigen Handlungsweise schuldig machen, sei es daß sie ihnen ungleiche Verpflichtungen auferlegen, [762 St.] oder daß sie den Landleuten Etwas entziehen und wegnehmen, ohne daß diese gutwillig damit einverstanden sind, oder daß sie Geschenke von Leuten annehmen welche sich durch dieselben bei ihnen einschmeicheln wollen, oder auch ungerechte Richtersprüche fällen, in so weit sie Schmeicheleien nachgegeben haben, der öffentlichen Schande Preis gegeben werden, in Betreff der sonstigen Ungerechtigkeiten aber welche sie gegen die Bewohner ihres Revieres begangen haben sollen sie, wenn der von ihnen angerichtete Schaden sich bis auf eine Mine beläuft, falls sie freiwillig sich stellen, dem Urteile der Ortsbewohner, nämlich den Bewohnern der betreffenden Kome und Nachbarn unterworfen werden, bei größeren Sachen aber soll stets, und bei kleineren falls sie sich nicht freiwillig stellen, indem sie darauf bauen daß sie dadurch vermöge ihrer steten Versetzung von Monat zu Monat in ein anderes Revier der Strafe entgehen werden, Der welchem das Unrecht widerfahren ist bei den allgemeinen Landesgerichten dieserhalb seine Klage anbringen und, im Falle er diesen Rechtsstreit gewinnt, von dem Beklagten welcher sich der Untersuchung zu entziehen suchte und sich nicht freiwillig zur Strafe ziehen ließ, das Doppelte von dem Werte des ihm zugefügten Schadens einzutreiben befugt sein.

Die Lebensweise der Befehlshaber sowohl wie ihrer Mannschaft soll die zwei Jahre ihres Amtes hindurch folgende sein. Zunächst sollen in jedem Revier öffentliche Mahlzeiten für sie bestehen, in welchen sie alle insgesamt gemeinsam speisen, und wer von einer solchen, sei es auch nur auf Einen Tag, ausgeblieben ist oder Eine Nacht auswärts geschlafen hat, ohne daß einer der Befehlshaber es so angeordnet oder das Eintreten einer ganz dringenden Notwendigkeit es ihm geboten hat, den sollen die Fünf anzeigen und seinen Namen auf dem Markte anschlagen als den eines Menschen der seinen Wachtposten verlassen hat, und er soll dann nicht bloß den Schimpf davontragen für einen Mann zu gelten der für seinen Teil das Vaterland Preis gegeben hat, sondern es soll auch ein Jeder der ihm begegnet und Lust dazu hat ihn ungestraft mit Schlägen züchtigen dürfen. Ist es aber Einer der Befehlshaber selbst der sich eines solchen Vergehens schuldig macht, so haben sie alle sechzig die Verpflichtung dies zur Ahndung zu bringen, und läßt es einer von ihnen ohne Anzeige, obwohl er es bemerkt oder in Erfahrung gebracht hat, so soll er desselben Vergehens schuldig sein, und dies soll an einem Befehlshaber härter als an einem der jungen Leute gestraft werden, indem ihm nämlich der Befehl über die junge Mannschaft für alle Zeiten mit Schimpf und Schande entzogen wird. Über diese Dinge aber sollen die Gesetzverweser scharfe Aufsicht halten, so daß sie gar nicht vorkommen oder, wenn ja, die gebührende Bestrafung finden. Denn das muß allgemeine Überzeugung werden daß wer nicht gehorchen gelernt hat auch nie löblich zu herrschen im Stande sein wird, und daß Jedermann sich eine größere Ehre daraus machen darf gut gehorcht als gut befohlen zu haben, und zwar muß dieser Gehorsam sich zuvörderst auf die Gesetze richten, weil ihnen gehorchen den Göttern gehorchen heißt, und sodann für alle Jüngeren auf ältere Leute die ehrenhaft gelebt haben. Ferner muß wer Landaufseher geworden diese zwei Jahre über sich mit einem ärmlichen und kärglichen täglichen Lebensunterhalt begnügen. Sobald nämlich jene je zwölf gewählt sind sollen sie mit ihren fünf Anführern zusammentreten und sich dazu verpflichten nun gleichsam selbst Diener zu sein und [763 St.] für sich nicht andere Diener und Sklaven zu halten, und so auch von den Landbauern und Ortsangehörigen die Knechte nicht zu eignen, sondern lediglich zu öffentlichen Diensten zu gebrauchen. In allen andern Stücken also müssen sie sich darauf gefaßt machen so zu leben daß sie ihre Bedürfnisse selber zu besorgen haben, und dazu Sommer und Winter hindurch das ganze Land teils zu dessen Bewachung teils zur genauen Kenntnisnahme von allen einzelnen Teilen desselben bewaffnet zu durchstreifen. Denn es ist vielleicht kaum ein anderes Wissen so wichtig als die genaue Kenntnis des eigenen Landes. In dieser Absicht nicht minder als um ihrer sonstigen Zwecke, nämlich des Vergnügens und des sonstigen Nutzens willen der für Alle aus ihr entspringt, soll ein jeder Jüngling denn auch allen eben hernach zulässigen Arten der Jagd obliegen. Mag man jene Wachmannschaft Krypten oder Landaufseher oder wie man sonst will nennen, jedenfalls ehre sie und ihr Amt wer zur Erhaltung seines Staates nach Kräften beitragen will.

Der nächste Gegenstand welchen wir innerhalb der Wahl der Behörden zu behandeln haben ist die der Markt- und Stadtaufseher. So setze man also zu den sechzig Landaufsehern noch drei Stadtaufseher ein, welche die zwölf Quartiere der Stadt unter sich verteilen und, entsprechend der Tätigkeit Jener, teils für die Straßen der Stadt so wie für die Wege welche vom Lande in dieselbe hineinführen, teils für die Häuser zu dem Ende daß sie den Gesetzen gemäß gebaut werden, und endlich auch dafür Sorge tragen daß alles Wasser welches die Landaufseher durch ihre darauf verwandte Sorge ihnen zuführen und nunmehr der ihrigen überliefern in hinreichender Menge in die Behälter gelange und in denselben sich rein erhalte und diese so der Stadt eben so sehr zur Zierde als zum Nutzen dienen. Auch sie müssen daher bemittelte Leute sein und hinlängliche Muße haben sich den öffentlichen Angelegenheiten anzunehmen. Daher wähle man sie aus den höchsten Schatzungsklassen, und jeder Bürger schlage Den welchen er wünscht zum Stadtaufseher vor, und nachdem man über die so Vorgeschlagenen dann durch Händeaufheben abgestimmt hat, sollen aus den Sechs welche die meisten Stimmen erhalten haben drei durch das Los von den Leitern der Wahlhandlung zur Führung diese Amtes bestimmt werden, und nachdem sie sodann der Prüfung unterzogen sind sollen sie dasselbe nach den ihnen darüber gegebenen gesetzlichen Vorschriften verwalten.

Marktaufseher nächst dem wähle man fünf aus der ersten und zweiten Schatzungsklasse, im Übrigen aber soll die Wahl derselben auf dieselbe Weise wie die der Stadtaufseher vor sich gehen, nämlich man wähle von zehn die durch Handaufheben aus der Zahl der Vorgeschlagenen hervorgegangen sind fünf durch das Los und erkläre sie nach vorgenommener Prüfung zu den Mitgliedern der Behörde. Jeder aber soll sich bei der Wahl durch Handaufheben beteiligen, [764 St.] und wer es nicht tut soll, abgesehen von dem schlechten Rufe in welchen ihn dies bringt, mit einer Buße von fünfzig Drachmen belegt werden. Die Volksversammlung hingegen und die gemeinsamen Zusammenkünfte zu besuchen soll zwar Jedem verstattet, aber nur die Bürger aus der ersten und zweiten Schatzungsklasse dazu verpflichtet sein, und Jeder von ihnen verfällt in eine Buße von zehn Drachmen, wenn ihm nachgewiesen wird daß er einer solchen Versammlung nicht beigewohnt habe, für die dritte und vierte Klasse dagegen soll eine solche Verbindlichkeit nicht stattfinden und daher keine Strafe auf dem Ausbleiben stehen, wenn nicht etwa die Behörden wegen einer dringenden Veranlassung Allen zu erscheinen geboten haben. Die Marktaufseher nun sollen über die von den Gesetzen vorgeschriebene Marktordnung wachen und für die Heiligtümer und Brunnen auf dem Markte Sorge tragen, auf daß Niemand Etwas an ihnen beschädige, und wer dies tut den sollen sie, wenn es ein Sklave oder Fremder ist, mit körperlicher Züchtigung und Gefängnis bestrafen. Wenn dagegen ein Bürger sich solche Ungebühr zu Schulden kommen läßt, so sollen sie ermächtigt sein ihm eine Geldbuße bis zu hundert Drachmen aufzulegen, wenn sie aber gemeinschaftlich mit den Stadtaufsehern über ihn zu Gericht sitzen, dann bis zum Doppelten dieser Summe. Eben dieselben Bußen und Strafen sollen auch die Stadtaufseher in ihrem Amtskreise zuzuerkennen befugt sein, so daß auch sie für sich allein bis zu Einer Mine strafen dürfen, bis auf das Doppelte aber mit Zuziehung der Marktaufseher.

Demnächst geziemt es sich nun auch für die musischen Künste und das Turnen Vorsteher einzusetzen, und zwar für jedes von beidem von zweierlei Art, für die Unterweisung in diesen Künsten und für den Wettkampf. Die von der ersteren Art nämlich sollen nach der Absicht des Gesetzes zugleich für die zweckmäßige Einrichtung der Turnplätze und Musikschulen und für Unterricht, sowie für fleißigen Besuch dieser Schulen und gute Zucht bei Knaben und Mädchen Sorge tragen, unter der letzteren Art aber sind die Kampfordner für die Wettkämpfer in gymnastischen und musischen Spielen verstanden, und auch ihrer sollen wieder zweierlei sein, nämlich für die Wettkämpfe in musischen Künsten und für die gymnastischer Art. Bei den Kämpfen der Menschen unter einander Leib gegen Leib und bei denen mit Pferd und Wagen nun können ferner die Kampfordner dieselben bleiben, in den musischen Wettkämpfen aber wird es sich so gehören daß es andere für den Einzelgesang und sonstigen mimischen Vortrag, von Rhapsoden, Sängern zur Zither, Flötenspielern und allen Anderen der Art, und andere für den Tanz und Gesang der Chöre sind. Zunächst nun dürfte es nötig sein diese Vorsteher für das Wettspiel der Chöre von Knaben sowohl wie von Männern und von Mädchen im Tanze und jeder sonstigen musischen Tätigkeit zu wählen, und zwar wird hiezu ein einziger ausreichend sein, nicht unter vierzig Jahren alt, [765 St.] und eben so auch für den Einzelgesang ein einziger nicht unter dreißig, um die Kämpfenden einzuführen und die gebührende Entscheidung über sie zu veranlassen. Den Vorsteher und Anordner der Chöre nun soll man etwa in folgender Weise wählen. Alle Liebhaber von dieser Art Kunst sollen zu einer Versammlung zusammentreten und ihr Nichterscheinen in derselben einer Strafe unterworfen sein, über welche die Gesetzesverweser näher entscheiden, für alle Andern dagegen soll, wenn sie nicht wollen, auch keine Verbindlichkeit hierzu vorhanden sein. Zur Wahl dürfen sodann keine Andere als Kunstverständige vorgeschlagen werden, und bei der Prüfung soll einzig Das der Grund zur Gültigerklärung oder Verwerfung derselben sein, ob Der auf welchen das Los gefallen der Kunst kundig oder unkundig sei. Aus den Zehn nämlich welche bei der Abstimmung durch Aufheben der Hände die meisten Stimmen gehabt haben soll Einer durch das Los gewählt werden, und dieser soll nach abgelegter Prüfung ein Jahr lang den Chören nach der Vorschrift des Gesetzes vorstehen. Auf gleiche Art und Weise soll auch Der welchen das Los für dies Jahr zum Vorsitzer über die Wettkämpfe im Einzelgesang, Flötenspiel gemacht hat dies Amt verwalten, indem er die Entscheidung den Richtern überträgt. Hierauf ist es notwendig für die Wettkämpfe in Leibesübungen von Menschen und Pferden Kampfordner aus der dritten und auch der zweiten Schatzungsklasse zu wählen, und dabei soll den drei ersten Klassen die Verpflichtung obliegen an dieser Wahl Teil zu nehmen, wogegen die unterste ungestraft ausbleiben darf. Als endgültig erwählt aber sollen diejenigen Drei gelten für welche sich unter den Zwanzig die bei der Wahl durch Aufheben der Hände die meisten Stimmen bekommen haben das Los entschieden und welche sodann auch das Urteil der Prüfungsbehörde bestätigt hat. Sollte aber irgend Jemand der durch Los oder Wahl zu einem Amte ernannt ist bei der Prüfung verworfen werden, so soll man in gleicher Form einen Anderen an seiner Statt wählen und mit ihm wieder die gleiche Prüfung anstellen.

So bleibt uns denn von den vorerwähnten Stellen noch Eine zu besetzen übrig, nämlich die des Vorstehers über das gesamte Erziehungswesen der Knaben und Mädchen. Das Gesetz nun soll auch hiezu nur Einen verordnen, und zwar einen Mann nicht unter fünfzig Jahren, der ein Vater von ehelich erzeugten Kindern, am Liebsten beiderlei Geschlechtes ist. Wähler und Gewählte aber müssen bedenken daß dies Amt unter den höchsten Staatsämtern bei Weitem das wichtigste ist. Denn es kommt ja bei Allem was wächst vor Allem darauf an daß der erste Keim sich glücklich entwickle, um es zur Vollendung in seiner Art zu führen, und zwar nicht bloß bei Pflanzen und bei zahmen und wilden Tieren, sondern auch bei den Menschen. Denn der Mensch, den wir unter die zahmen Wesen zählen, [766 St.] pflegt doch nur dann wenn eine glückliche Natur bei ihm durch gute Erziehung ausgebildet ist das gezähmteste und gottähnlichste zu werden, wenn er dagegen nicht hinreichend oder nicht gut erzogen ist, gerade das wildeste von allen welche die Erde hervorbringt. Deshalb darf der Gesetzgeber das Erziehungswesen nie irgend etwas Anderem hintanstellen oder zur Nebensache werden lassen, vielmehr um recht für dasselbe zu sorgen muß es gerade sein Erstes sein darauf hinzuarbeiten daß unter allen Staatsangehörigen gerade der in allen Stücken Tüchtigste zu diesem Amte gewählt werde, und er muß dann, nachdem er für dessen Einsetzung nach Kräften gewirkt hat, ihn zum Aufseher über diese Angelegenheiten bestellen. Daher sollen alle Behörden außer dem Rate und seinen Prytanen im Tempel des Apollon zusammentreten und daselbst in geheimer Abstimmung unter den Gesetzesverwesern denjenigen auswählen welchen ein Jeder für den Geeignetsten dazu hält dem Unterrichtswesen vorzustehen, und wer dabei die meisten Stimmen erhalten hat soll von den Behörden die ihn gewählt haben, mit Ausnahme der Gesetzesverweser, auch geprüft werden und sodann fünf Jahre sein Amt führen. Im sechsten Jahre aber soll ein Anderer auf eben dieselbe Weise zu diesem Amte neu gewählt werden.

Wenn jemand der ein öffentliches Amt bekleidet mehr als dreißig Tage vor Vollendung seiner Amtszeit stirbt, so soll die dazu verordnete Behörde, in derselben Weise wie vorher ihn, einen Ersatzmann für ihn wählen lassen.

Wenn ein Vormund von Waisen stirbt, so sollen die im Orte anwesenden Verwandten von väterlicher und mütterlicher Seite bis zu den Geschwisterkindern hin innerhalb zehn Tagen einen anderen einsetzen, widrigenfalls aber jeder von ihnen mit einer Strafe von einer Drachme für den Tag belegt werden bis dahin daß sie jener ihrer Verbindlichkeit nachgekommen sind.

Jeder Staat nun aber würde ja aufhören ein Staat zu sein in welchem die Gerichte nicht nach Gebühr bestellt wären. Ein Richter ferner welcher der Rede nicht mächtig wäre und bei Voruntersuchungen wie bei schiedsrichterlichen Verhandlungen nicht mehr zu sagen wüßte als die Parteien dürfte nimmer zur Entscheidung des Rechtes geeignet sein. Daher wird es nicht leicht viele Richter geben welche gut entscheiden, aber wenige untüchtige werden dies freilich auch nicht vermögen. Vor Allem aber ist es stets nötig daß der eigentliche Gegenstand des Streites zwischen beiden Parteien ins richtige Licht gesetzt werde, um aber die Streitsache klar zu machen, dazu sind zugleich Zeit und Bedächtigkeit und wiederholte Untersuchung dienlich. Deswegen sollen die streitenden Parteien [767 St.] zuerst vor Nachbarn und Freunde und vor solche Leute gehen welche möglichst mit den streitigen Sachen bekannt sind, und erst wenn man von diesen eine befriedigende Entscheidung nicht erhält soll man an ein anderes Gericht sich wenden, und wenn diese beiden Instanzen nicht dem Streite ein Ende zu machen vermögen, so soll eine dritte das letzte Urteil sprechen.

Gewissermaßen nun ist auch die Besetzung von Gerichtshöfen eine Wahl von Obrigkeiten, denn jede obrigkeitliche Behörde muß über gewisse Sachen zugleich auch Richter sein, und ein Richter, obwohl keine eigentliche obrigkeitliche Person, wird doch in gewissem Sinne zu einer solchen, und zwar von nicht geringer Bedeutung, an dem Tag an welchem er einen Rechtsstreit durch seinen Urteilsspruch beendet, und so wollen wir denn immerhin auch die Richter als obrigkeitliche Behörde betrachten und demgemäß festsetzen was für Leute sich zu Richtern eignen, worüber sie zu richten haben und wie viel ihrer für jede Sache sein sollen. Jenes erste Gericht demnach soll ein solches sein welches die jedesmaligen beiden Parteien sich selber bestimmen durch gemeinsame Wahl seiner Mitglieder, im Übrigen aber sollen noch zweierlei Gerichtshöfe bestehen, die einen, vor die ein Privatmann den andern, von welchem er Unbill erfahren zu haben glaubt, vorfordern und rechtliche Entscheidung von ihnen verlangen mag, und die andern für alle die Fälle wo Jemand das öffentliche Beste von einem der Bürger beeinträchtigt glaubt und sich deshalb gedrungen fühlt dem Gemeinwesen seinen Beistand zu leisten. Nun ist aber auch zu bestimmen, wer und wie beschaffen die Richter sein sollen. Zuerst soll es einen gemeinsamen Gerichtshof für alle Privatleute geben welche ihre Privatstreitigkeiten vor die dritte Instanz bringen, und dieser soll etwa folgendermaßen zusammengesetzt werden. Alle obrigkeitlichen Behörden, sowohl die welche ein Jahr hindurch als auch die welche längere Zeit ihr Amt führen, sollen an dem Tage bevor das neue Jahr mit dem folgenden Monat nach der Sommersonnenwende zu beginnen im Begriffe steht ingesamt in einem einzigen Tempel zusammenkommen und, nachdem sie bei dem Gotte geschworen, gleichsam als Erstlingsgabe aus jeder Behörde ihm einen Richter weihen welcher aus jeder der beste zu sein scheint und die Erwartung erregt daß er am Besten und Gewissenhaftesten für das kommende Jahr die Streitigkeiten unter Denen die ihm Mitbürger sind entscheiden werde. Und wenn dann die Mitglieder dieses Gerichtshofes erwählt worden sind, so soll ihre Prüfung vor ihren Wählern selbst stattfinden, und wenn dann eins derselben dabei verworfen wird, so soll ein Anderer an seiner Statt nach derselben Wahlform ernannt werden. Diejenigen aber welche die Prüfung bestanden haben sollen dann Denen die sich bei der Entscheidung der anderen Gerichte nicht beruhigt haben Recht sprechen, und zwar in öffentlicher Abstimmung. Als Zuhörer und Zuschauer bei diesen Verhandlungen aber sollen die Ratsmitglieder und die übrigen Behörden welche diese Richter erwählt haben zugegen zu sein verpflichtet und Jeder der sonst will berechtigt sein. Sollte jedoch Jemand einen dieser Richter beschuldigen daß er wissentlich ein ungerechtes Urteil gefällt, so soll er seine Klage darüber bei den Gesetzesverwesern einbringen, und wer dann in einem solchen Prozeß als schuldig befunden wird, der soll gehalten sein dem Geschädigten die Hälfte des ihm zugefügten Schadens zu ersetzen, und wenn er eine noch größere Strafe zu verdienen scheint, so mögen die Richter bestimmen, in wie weit er noch außerdem von ihnen an seiner eigenen Person gestraft werden oder aber wie viel er an den Staatsschatz und den Kläger bezahlen soll. Hinsichtlich der Anklage auf Staatsverbrechen ferner ist es zuvörderst nötig, [768 St.] dem Volke einen Anteil an der Entscheidung zu gewähren, denn die Beleidigten sind Alle wenn Jemand den Staate beeinträchtigt, und mit Recht würden sie es übel aufnehmen wenn sie bei der Entscheidung eines solchen Falles unbeteiligt bleiben sollten, und so muß denn vielmehr der Anfang so wie das Ende solcher Prozesse dem Volke zugewiesen werden. Die Untersuchung aber soll von denjenigen drei Mitgliedern der höchsten Behörde über welche der Beklagte und der Kläger übereingekommen sind geführt werden. Wenn sie selbst aber sich hierüber nicht einigen können, so soll der Rat entscheiden wessen von Beiden Wahl gelten soll. Aber auch an den Entscheidungen über Privatsachen müssen möglichst Alle Anteil haben, denn wer von der Gewalt mitzurichten ausgeschlossen ist glaubt es überhaupt vom Staate zu sein. Deshalb ist es notwendig daß auch für die einzelnen Phylen Gerichte bestellt und Richter durch das Los erwählt werden welche, unbestechlich durch Bitten, auf der Stelle Recht sprechen. Die Endentscheidung aber in allen hierher gehörigen Sachen muß jenes Gericht haben welches nach unserer obigen Anordnung nach Menschenvermögen so eingerichtet ist daß es mit den möglichst unbestechlichen Richtern besetzt ist, nämlich für Diejenigen welche weder bei den Nachbarn noch bei den Gerichten der Phylen zur Schlichtung ihres Streites gelangen konnten.

Und so haben wir denn über die Gerichte, die man, wie gesagt, nicht wohl ohne Anfechtung obrigkeitliche Behörde nennen noch auch wiederum ihnen diesen Namen absprechen kann, im Umriß einen Teil der Erörterung gegeben, ein anderer dürfte aber noch fehlen, nämlich am Schlusse der Gesetzgebung wird eine genaue Bestimmung und Einteilung der Gesetze über die Rechtspflege bei Weitem am Richtigsten am Orte sein, und so möge sich denn dieselbe gesagt sein lassen daß sie bis dahin auf uns zu warten hat. Was dagegen die Besetzung der sonstigen obrigkeitlichen Stellen anlangt, so haben diese so ziemlich den größten Teil der Gesetzgebung bereits erhalten. Vollständig und genau freilich kann das Einzelne sowohl wie die gesamte Verwaltung des Staates und aller Staatsmittel nicht eher ins Licht treten als bis unsere Auseinandersetzung von ihrem Anfange an die dann folgenden und mittleren Punkte und so alle ihre Teile durchlaufen hat und sie so, am Ende angelangt, in Eins zusammenfaßt. Für jetzt jedoch darf das Bisherige bis zu der vollzogenen Wahl der obrigkeitlichen Behörden als eine befriedigende Beendigung des vorigen Abschnitts und zugleich als der Anknüpfungspunkt zur Aufstellung der Gesetze angesehen werden, welcher denn jetzt auch keiner Verzögerung und keines Aufschubs weiter bedarf.

KLEINIAS: Ganz nach meinem Sinne, Freund, hast du das Bisherige abgehandelt, und noch mehr gereicht es mir zur Befriedigung wie du jetzt den Anfang des noch zu Besprechenden mit dem Ende des Besprochenen verknüpfest.

[769 St.] DER ATHENER: So hätten wir also bis dahin das verständige Spiel der Greise nicht übel durchgespielt.

KLEINIAS: Sage lieber: eine schöne erste Beschäftigung durchgeführt, wie sie sich für Männer ziemt.

DER ATHENER: Schon recht. Indessen laß uns Folgendes dabei in Betracht ziehen, ob es etwa dir eben so wie mir erscheint.

KLEINIAS: Nun, was denn und um was handelt es sich dabei?

DER ATHENER: Du weißt doch daß die Tätigkeit der Maler bei allen ihren Bildern immer gar kein Ende nehmen will, sondern im Übermalen oder Nachschattieren, oder wie es sonst die Zöglinge dieser Kunst nennen mögen, gar nicht aufhören zu sollen scheint, um die Gemälde noch weiter zu verschönern und es dahin zu bringen daß sie einen noch größeren Zuwachs an Schönheit und Ausdruck nicht mehr erhalten können?

KLEINIAS: Ich kann es mir vom Hörensagen denken, denn selbst beschäftigt habe ich mich nie mit dieser Kunst.

DER ATHENER: Das schadet auch Nichts. Wir können nichts desto weniger, da unsere Rede einmal auf dieselbe gekommen ist, uns ihrer zur Verdeutlichung bedienen. Gesetzt, es hätte ein Maler sich vorgenommen nicht bloß ein so schönes Gemälde als ihm möglich zu schaffen, sondern es auch in der Folgezeit nicht nur Nichts verlieren, sondern immer noch gewinnen zu lassen, so begreifst du doch daß er, da er ein sterblicher Mensch ist, wenn er keinen Nachfolger hinterließe welcher im Stande ist Das wieder auszubessern was etwa das Gemälde von der Zeit gelitten und überdies noch den Fehlern abzuhelfen die er selbst wegen seiner Schwäche in der Kunst begangen und so dem Gemälde für die Zukunft durch seine Verschönerungen einen noch höheren Wert zu leihen, sehr große Mühe um ein Werk gehabt hätte das doch nur kurze Zeit dauern würde?

KLEINIAS: Sehr wahr.

DER ATHENER: Wie nun? Scheint es dir nicht daß der Gesetzgeber einen gleichen Wunsch hegen muß? Zuerst nämlich die Gesetze nach Kräften mit hinlänglicher Bestimmtheit hinzustellen? Und wenn er dann im Verlaufe der Zeit seine Pläne durch die Ausführung erprobt hat, meinst du da daß irgend ein Gesetzgeber so töricht sein werde nicht einzusehen daß notwendig noch gar Vieles übrig bleibe wo irgend ein Nachfolger nachzuhelfen habe, wenn anders die Verfassung und Ordnung in dem von ihm ins Leben gerufenen Staate nicht schlimmer, sondern immer besser werden soll?

KLEINIAS: Es ist sehr wahrscheinlich, denn wie sollte es anders sein, daß dies jeder Gesetzgeber wünschen wird.

DER ATHENER: Würde er nun ferner, wenn er durch Tat oder Wort einem Andern größere oder geringere Einsicht in Bezug darauf wie man Gesetze zu bewahren und zu verbessern habe beizubringen vermöchte, wohl je ermüden ihm einzuprägen wie dies geschehen müsse, bis er zum Ziele damit gediehen wäre?

[770 St.] KLEINIAS: Wie sollte er?

DER ATHENER: Müssen ich und ihr es also nicht im gegenwärtigen Augenblick ebenso machen?

KLEINIAS: Wie so?

DER ATHENER: Da wir jetzt im Begriffe stehen Gesetze zu geben, und Gesetzesverweser bereits von uns bestellt sind, die sich, da wir schon im Niedergange unseres Lebens stehen, zu uns wie Jünglinge verhalten, müssen wir da nicht bloß selber Gesetze geben, sondern zugleich uns bemühen auch diese Leute so gut als möglich zu Gesetzgebern und Gesetzesbewahrern zu machen?

KLEINIAS: Gewiß, wenn anders dazu unsere Kräfte ausreichen.

DER ATHENER: Nun, wir müssen es wenigstens versuchen und den Mut nicht verlieren.

KLEINIAS: Allerdings.

DER ATHENER: Wir wollen also zu ihnen sagen: „Liebe Bewahrer der Gesetze, wir werden in Bezug auf ein Jedes von Dem worüber wir unsere Gesetze aufstellen gar Vieles übersehen, denn das ist nicht anders möglich, doch werden wir es nicht unterlassen von allem Wichtigeren und von dem Großen und Ganzen mindestens nach besten Kräften einen Umriß zu geben. Diesen auszufüllen wird dann eure Sache sein, und was ihr dabei zu berücksichtigen habt das sollt ihr jetzt hören. Megillos, Kleinias und ich haben dies öfter mit einander besprochen und sind dabei zu der Überzeugung einstimmig gelangt daß wir das Rechte getroffen haben. Wir wünschen aber daß auch ihr zu derselben Überzeugung gelangen und unsere Schüler werden möget, um auf eben das euer Augenmerk zu richten was nach unserer übereinstimmenden Ansicht der Gesetzesbewahrer so gut wir der Gesetzgeber im Auge haben muß. Der Eine Hauptpunkt dieser unserer Ansicht aber war der daß darauf, wie man ein tüchtiger Mann werden und die Tugend der Seele die eines Menschen würdig ist erreichen möge, sei es nun durch irgend eine Beschäftigung oder Gewöhnung oder durch irgend welchen Besitz oder Trieb oder eine Vorstellung oder durch Kenntnisse irgend welcher Art, daß hierauf, sage ich, das ganze Streben eines jeden unter den Staatseinwohnern, mag er männlichen oder weiblichen Geschlechts, jung oder alt sein, sein ganzes Leben hindurch gerichtet sein müsse, und daß von allem Anderem was Dem im Wege steht Keiner, er sei wer er sei, irgend Etwas bevorzugen dürfe, ja daß schließlich selbst wenn der Untergang des Staates unvermeidlich wäre oder wenn man ihn in freiwillig gewählter Verbannung verlassen müßte, falls sich derselbe nicht unter das Sklavenjoch beugen will sich von Schlechten beherrschen zu lassen, man lieber alles Derartige leiden und tragen müsse als sich den Eintausch einer Staatsverfassung gefallen lassen welche ihrer Natur nach die Menschen entsittlichen muß. Dies ist es worüber wir zuvor übereingekommen sind, und hierauf richtet denn auch ihr jetzt nach beiden Seiten hin euer Augenmerk, um unsere Gesetze sei es zu loben oder aber [771 St.] diejenigen von ihnen zu tadeln welche dies zu bewirken nicht geeignet sind, alle aber die es sind mögt ihr willkommen heißen, freundlich aufnehmen und dann ihnen gemäß leben. Allen anderen Bestrebungen aber, und die auf andere von den genannten Gütern gerichtet sind, sagt Lebewohl."

Hiernächst beginnen wir denn unsere Gesetzgebung selbst und machen dabei mit folgenden Religionsgesetzen den Anfang. Zunächst müssen wir wiederholen, in wie viele geeignete Teile sich sowohl die ganze Zahl 5040 als auch die Zahl der Häuser innerhalb der einzelnen Phylen, welche wir als den zwölften Teil dieses Ganzen gesetzt haben, was denn gerade zwanzigmal einundzwanzig ist, zerfallen ließ und läßt. Wie jene ganze Zahl sich durch Zwölf teilen läßt, so auch wiederum diese innerhalb jeder Phyle. Jeden dieser Teile nun müssen wir als ein heiliges Geschenk Gottes betrachten, da ihre Zahl ja mit der der Monate und mit der übereinstimmt welche durch den Umlauf des Weltalls gebildet wird. Und so glauben wir denn daß zwar jeden Staat das ihm einwohnende Göttliche leitet und die in ihm vorgenommenen Teilungen heiligt, daß aber doch wohl die einen Gesetzgeber richtiger als andere diese Teilungen angestellt und sie glücklicher der Gottheit geweiht haben, und daß wir daher jetzt am Richtigsten getan die Zahl 5040 vorzuziehen, weil sie sich überdies durch alle Zahlen von Eins bis Zwölf mit Ausnahme der Elf dividieren läßt, ja auch für die Elf ist leicht Rat zu schaffen. Denn auch diese Teilung wird hergestellt, wenn man nach jeder Seite je eine Feuerstelle wegnimmt. Daß es sich wirklich so verhalte würde ich euch bei Muße in einer nicht allzu langen Auseinandersetzung darzutun vermögen. Glaubt es für jetzt auf mein Wort wie auf einen Orakelspruch hin, und laßt uns demgemäß unsern Staat einteilen und jeden Teil einem Gotte oder Göttersohne als Schutzherrn zusprechen und denselben Altäre und was sonst zu ihrem Dienste gehört weihen und zweimal des Monats Versammlungen zum Zwecke feierlicher Opfer bei diesen Altären veranstalten, dergestalt daß zwölf für die Teile jeder Phyle und zwölf für die Abteilungen des ganzen Staates jährlich gehalten werden, zunächst natürlich in der Absicht den Göttern zu danken und die Religion zu ehren, sodann aber auch, wie man wohl sagen darf, zur eigenen gegenseitigen näheren Bekanntschaft und Befreundung, ja überhaupt des gesamten Verkehrs willen. Namentlich zum Zwecke der Ehebündnisse aber muß notwendig dafür gesorgt werden daß man vorher wisse aus welcher Familie und wen man heiraten und an wen man sein Kind verheiraten soll, indem man ja eben dies für ganz überaus wichtig zu halten hat, in diesen Punkten, so weit es nur angeht, nicht getäuscht zu werden. Um dieser wichtigen Angelegenheit willen sollen daher auch öffentliche Spiele veranstaltet werden und [772 St.] Jünglinge und Mädchen in Reigentänzen auftreten, um so in angemessener Weise und bei einem so schicklichen Anlasse wie ihn eben nur ihr Alter darbietet einander zu sehen, und zwar beide Teile so weit entkleidet als es Zucht und Ehrbarkeit einem Jeden erlaubt. Aufseher und Ordner von diesem allem aber sollen die Vorsteher der Chöre sein und in Gemeinschaft mit den Gesetzesverwesern als Gesetzgeber feststellen was wir etwa übergehen sollten. Denn es ist, wie gesagt, unvermeidlich daß in allen solchen Dingen welche eine Menge einzelner Fälle umfassen der Gesetzgeber noch Manches übersieht, und eben deshalb notwendig daß Diejenigen welche dagegen alljährlich durch die Erfahrung in diesen Dingen belehrt werden Jahr für Jahr neue Verordnungen machen, ändern und nachbessern, bis sie endlich finden daß die hieher einschlagenden Gesetze und Einrichtungen wirklich zum Ziele gediehen sind. Als ein angemessener und ausreichender Zeitraum zur Sammlung solcher Erfahrungen über Alles was in Bezug auf Opfer und Reigentänze im Ganzen und Einzelnen zu verordnen ist dürften nun wohl zehn Jahre festgestellt werden. Und zwar sollen, so lange der Gesetzgeber lebt, die verschiedenen obrigkeitlichen Behörden in Gemeinschaft mit ihm an der Nachbesserung seiner Gesetze arbeiten, ist er aber schon gestorben, jede für sich allein das in ihrem Amtskreise noch Übersehene ergänzen, indem sie den Gesetzesverwesern hierüber ihre Vorschläge machen, bis ihnen endlich Alles wohl ausgearbeitet und zum Ziele hierin gediehen zu sein scheint. Alsdann aber soll man auch diese nachträglichen Gesetze als unumstößlich hinstellen und sie nicht minder in Anwendung bringen als jene früheren welche der erste Gesetzgeber selber vorschrieb und an welchen man willkürlich nie etwas ändern darf. Sollte aber je eine Notwendigkeit hiezu einzutreten scheinen, so müssen alle Behörden und sodann das gesamte Volk hierüber in Beratung treten und alle Orakel darüber befragt werden, und wenn dann Alles gemeinsam für die Veränderung sich ausspricht, soll man sie vornehmen, sonst aber nimmermehr, sondern jeder Widerspruch soll kraft des Gesetzes die Sache vereiteln.

Wenn nun so ein Jüngling nach zurückgelegtem fünfundzwanzigsten Jahre, unter Benutzung jener Anlässe zu schauen und von Anderen geschaut zu werden, ein Mädchen nach seinem Sinne gefunden zu haben glaubt, von welchem er sich für die Erzeugung und gemeinschaftliche Auferziehung von Kindern Gutes verspricht, so soll er mit ihr zur Ehe schreiten, und zwar soll ein Jeder bis zum fünfunddreißigsten Jahre zu heiraten verpflichtet sein. Wie er aber eine geeignete und passende Gefährtin zu suchen habe, darüber soll er vorher belehrt werden. Denn jedem Gesetz muß ja, wie Kleinias sagt, ein eigener Eingang vorausgeschickt werden.

KLEINIAS: Sehr gut, Freund, erinnerst du hieran und ergreifst die passende Gelegenheit, bei welcher auch nach meiner Ansicht ein solcher Eingang ganz besonders am Orte ist.

DER ATHENER: Du hast Recht. Mein Sohn, wollen wir also zu dem Sprößlinge braver Eltern sagen, [773 St.] du mußt eine Heirat schließen, die auf Beifall bei verständigen Leuten rechnen kann, und diese werden dir raten der Ehe mit einem armen Mädchen nicht aus dem Wege zu gehen und nicht der mit einem reichen ganz besonders nachzujagen, sondern unter übrigens gleichen Verhältnissen der Verbindung mit einer ärmeren Familie stets den Vorzug zu geben, denn das wird sowohl deinem Staate als auch den sich dergestalt verschwägernden Häusern zum Heile gereichen, so fern das Gleichartige und Ebenmäßige tausendmal besser für die Tugend als das Maßlose ist. Ferner wer sich dessen bewußt ist daß er in allem seinem Tun unüberlegter und hastiger als er sollte zu Werk geht muß dahin trachten gesetzter Eltern Schwiegersohn zu werden, wer dagegen von entgegengesetztem Temperament ist muß sich mit einer Familie von entgegengesetzter Art zu verschwägern suchen. Überhaupt aber ist dies als der eine leitende Grundsatz über das Heiraten aufzustellen: ein Jeder soll darauf sehen eine Ehe einzugehen wie sie für das Staatswohl förderlich und nicht wie sie ihm selbst am Angenehmsten ist. Jedermann fühlt sich freilich stets von Natur am meisten zu Seinesgleichen hingezogen, aber dadurch entsteht für den ganzen Staat eine unverhältnismäßige Ungleichheit der Besitzverhältnisse und Charaktere, und dies bringt gerade das Übel für die meisten Staaten mit sich von welchem wir eben wünschen daß es uns nicht begegnen möge. Dies nun aber ausdrücklich gesetzlich vorzuschreiben, daß ein Reicher nicht die Tochter eines Reichen noch ein Mächtiger die von Seinesgleichen heiraten solle, und Männer von ungestümerem Temperament zwingen zu wollen, für die eheliche Gemeinschaft sich nach Frauen von ruhigerer Gemütsart und ruhigere Männer sich nach lebhafteren Frauen umzusehen, würde nicht bloß lächerlich sein, sondern auch bei Vielen Unwillen erwecken.

Denn es ist nicht leicht zu begreifen, daß im Staate eine ähnliche Mischung vonnöten ist wie in einem Mischkruge, in welchem zuerst der feurige Wein den man in ihn eingeschenkt hat tost und schäumt, dann aber, von einem anderen, nüchternen Gotte gezügelt, eine schöne Verbindung mit demselben eingeht und ein gesundes und angemessenes Getränk liefert. Daß ein Gleiches auch bei der Vermischung entgegengesetzter Temperamente der Eltern in den Kindern stattfindet, das merkt beinahe Niemand. Deswegen sind wir nun freilich genötigt dergleichen Vorschriften im Gesetze selbst wegzulassen, wohl aber müssen wir unsere Bürger zu besprechen und zu überreden suchen daß ein Jeder mehr darauf Gewicht lege daß die Gemüter seiner Kinder mit sich selbst im Einklange stehen, als darauf daß eine Vermögensgleichheit bei der Ehe, die eben nur unersättlicher Geldgier dient, stattfinde, und durch Tadel und Verachtung muß man Den der bloß auf Geld bei seiner Ehe ausgeht von seinem Vorhaben abzubringen suchen. Der Zwang eines geschriebenen Gesetzes dagegen ist hier nicht am Orte.

Diese Ermahnungen mögen hinsichtlich des Heiratens gelten, und dazu das schon zuvor Bemerkte, daß man der Unsterblichkeit nachtrachten müsse, indem man Kinder und Kindeskinder und [774 St.] in ihnen der Gottheit immer neue Diener an unserer Statt hinterläßt, und mit allen diesen und noch vielen anderen Belehrungen darüber was man beim Eingehen einer Ehe zu berücksichtigen hat, dürfte man wohl einen schicklichen Eingang zu den Gesetzen dieser Art gemacht haben. Wenn aber Jemand dem Gesetz sich zu verheiraten nicht freiwillig gehorcht, sondern sich fremd und ohne eheliche Gemeinschaft unter seinen Mitbürgern hält und so sein fünfunddreißigstes Jahr unverheiratet erreicht, so soll er dafür eine jährliche Strafe zahlen, und zwar wer die höchste Schatzung hat hundert, wer in die zweite Schatzungsklasse gehört siebzig, wer in die dritte sechzig, wer in die vierte dreißig Drachmen, und diese Strafgelder sollen in den Tempelschatz der Hera fallen. Wer sie aber nicht alljährlich bezahlt soll die zehnfache Summe schuldig sein. Der Schatzmeister der Göttin aber soll diese Buße beitreiben, und unterläßt er es, so soll er sie selber zu zahlen verbunden sein, und bei der Rechenschaftsablegung soll ihn jeder beliebige Bürger hierauf verklagen dürfen. Dies soll also an Geld die Buße Dessen sein welcher sich der Ehe entzieht, aber auch aller Ehre, wie sie sonst den Älteren von Seiten der Jüngeren zu Teil wird, soll er verlustig gehen und keiner derselben soll ihm von freien Stücken in irgend Etwas gehorchen. Wollte er aber einen von ihnen züchtigen, so soll ein Jeder dem Angegriffenen zu Hilfe kommen und ihn in Schutz nehmen, und wer dies unterläßt, obwohl er darüber zukam, der soll gesetzlich für einen Feigling und schlechten Bürger erklärt werden. Über die Aussteuer ist zwar schon gesprochen worden, doch mag es noch einmal wiederholt werden daß Alles sich ausgleicht wenn man keine erhält, aber auch keine gibt, so daß die Armen aus Mangel an Vermögen nicht alt zu werden brauchen, ohne heiraten zu können. Denn des Nötigen entbehrt ja in diesem Staate Keiner, und es wird dann in geringerem Maße Übermut bei den Weibern und niedrige und sklavische Kriecherei um des Geldes willen bei den Männern entstehen. Und wer diesem Gesetze Folge leistet, der hat damit Eins von Dem was Lob verdient sich angeeignet, wer ihm aber ungehorsam ist und gibt oder nimmt was mehr als fünfzig Drachmen wert ist an Kleidern oder was mehr als eine oder anderthalb bis zwei Minen wert ist, der soll, wenn er der höchsten Schatzungsklasse angehört, eine gleiche Summe an die Staatskasse zu zahlen verpflichtet und die gegebene oder empfangene Mitgift den Tempelschätzen der Hera und des Zeus verfallen sein, und die Schatzmeister dieser Gottheiten sollen sie eintreiben oder aber diese Strafe aus ihrem eigenen Vermögen bezahlen, gerade so wie wir ein Gleiches in Bezug auf die von den Hagestolzen einzutreibende Buße seitens der Schatzmeister der Hera verordnet haben. Das Recht der Verlobung einer Jungfrau soll in erster Stelle dem Vater, in zweiter dem Großvater, in dritter den Brüdern von gleichem Vater zustehen, wenn aber auch kein solcher vorhanden ist, so soll dies Recht auf die Mutter übergehen und in dem ungewöhnlichen Falle noch größerer Verwaisung auf die nächsten Verwandten in Gemeinschaft mit den Vormündern. Was aber die Einweihungsopfer bei den Hochzeiten oder [775 St.] irgend eine andere auf sie bezügliche heilige Handlung anlangt die vor, während oder nach ihnen sich vorzunehmen gebührt, so muß hierüber ein jeder die Ausleger der Religionssatzungen befragen und überzeugt sein daß er Alles wohl einrichten werde wenn er ihrem Ausspruche folgt.

Zu dem Hochzeitsmahle sollen fünf Freunde des Bräutigams und fünf Freundinnen der Braut und nicht mehr eingeladen werden und ferner beiderseits eben so viele Verwandten und Angehörige. Auch soll Niemand dabei größeren Aufwand machen als seinem Vermögen gemäß ist, und zwar Leute aus der ersten Schatzungsklasse von einer Mine, aus der folgenden von einer halben, und so immer fort nach absteigender Linie der Schatzungsklassen. Und Der welcher diesem Gesetze gehorcht soll allgemeines Lob dafür ernten, wer ihm aber ungehorsam ist, den sollen die Gesetzverweser als einen Mann der von dem Schicklichen nichts weiß und der Gesetze der hochzeitlichen Musen unkundig ist bestrafen. Ferner bis zur Berauschung zu trinken ziemt sich auch sonst schon nicht, ausgenommen an den Festen des Gottes welcher der Geber des Weines ist, und ist auch sonst schon gefährlich, am Allerwenigsten aber gehört es sich wenn man seine Hochzeit feiert, bei welcher es vielmehr dem Bräutigam wie der Braut zukommt möglichst gesammelten Geistes zu sein, da sie jetzt im Begriffe stehen einen der wichtigsten Schritte ihres Lebens zu tun. Überdies aber müssen die Eheleute auch beständig bedenken wie wichtig es ist daß sie stets mit möglichst wohlgeregeltem Geiste an das Geschäft der Kindererzeugung gehen, denn es ist ja so gut wie gänzlich ungewiß welcher Tag oder welche Nacht von Gott mit Fruchtbarkeit gesegnet wird, und eben deswegen darf die Kindererzeugung nicht vor sich gehen wenn die Leiber vom Rausche aufgelöst sind, sondern was erzeugt wird soll geziemendermaßen fest, sicher und ruhig ins Leben gerufen werden. Ein Weinbeschwerter aber taumelt vielmehr selbst nach allen Seiten hin und her und bringt auch alles Andere worauf er stößt ins Schwanken und ist an Leib und Seele verwirrt, und so ist der Trunkene denn auch zur Zeugung unbehilflich und schlecht befähigt, so daß er aller Wahrscheinlichkeit nach nur ungestalte und schwächliche Kinder und nichts Gerades an Leib und Seele erzeugen wird. Muß man daher überhaupt Tag für Tag sein ganzes Leben hindurch sich nach Kräften davor hüten irgend Etwas absichtlich zu begehen was der Gesundheit nachteilig ist und Frevel und Unrecht in sich schließt, so doch vor Allem so lange man Kinder zeugt, denn so Etwas wird notwendigerweise auch in den Seelen und Körpern der Erzeugten sich abdrücken und abprägen und somit bewirken daß dieselben in jedem Betracht schlechter zur Welt kommen. Ganz besonders aber muß man sich von allem Dergleichen am Tage und in der Nacht der Hochzeit fern halten. Denn der Anfang erhält und bewahrt im Menschenleben mit der Götter Hilfe alles Fernere, wenn er von Allen die in ihm handeln gebührenderweise in Ehren gehalten wird. Im Übrigen aber muß der welcher sich verheiratet von der Ansicht ausgehen daß [776 St.] das eine der beiden Häuser die zu jedem Ackerlose gehören dazu bestimmt sei daß die Kinder hier wie die Jungen in ihrem eigenen Nest geboren und auferzogen werden, und muß daher hier, von Vater und Mutter getrennt, Hochzeit halten und seinen Wohnsitz und Haushalt für sich und seine Kinder aufschlagen. Denn das Band welches die Gemüter befreundeter Menschen verbindet wird durch einen gewissen Grad von Sehnsucht erst recht gekräftigt und gefestigt, wogegen gerade ein ununterbrochenes Beisammensein, welches nicht durch zeitweilige Trennung die Sehnsucht nach erneuter Vereinigung hervorruft, eine allzu große Übersättigung an einander und somit eine gegenseitige Entfremdung zu Wege bringt. Deshalb muß man seinen Eltern und den Verwandten seiner Frau ihre eigenen Häuser überlassen und gleichsam eine neue Kolonie bilden und hier hausen, indem man seinen Angehörigen sowohl Besuche macht als von ihnen empfängt, und Kinder zeugen und auferziehen, und so gleich der brennenden Fackel das Leben von einem Geschlecht auf das andere übertragen und dabei stets den Göttern nach der Vorschrift des Gesetzes dienen.

Gehen wir nun zu den Besitztümern über, so fragt sich an welchen von ihnen man wohl das beste Vermögen besitze. Die Mehrzahl derselben ist nun weder schwierig zu erkennen noch sich zu verschaffen, und nur der Punkt der Dienstboten bietet nach allen Seiten Schwierigkeiten dar. Der Grund davon aber ist folgender. Wir drücken uns in gewissem Sinne richtig und in gewissem auch wieder nicht richtig über sie aus, denn wir sprechen ja auch bald so als ob die Sklaven ganz wider unsern Nutzen, und bald so als ob sie uns zum Nutzen seien.

MEGILLOS: Was willst du denn wieder damit sagen? Ich verstehe doch durchaus nicht wie du das meinst.

DER ATHENER: Das kann ich dir auch nicht verdenken, Megillos. Es ist nämlich wohl über Nichts unter allen Griechen so viel Zweifel und Streit wie über die Heloten der Lakedämonier, indem die Einen sie für das Gemeinwohl nützlich, die Andern für verderblich halten. Geringern Streit dürfte die Leibeigenschaft der Mariandyner bei den Herakleoten in Folge ihrer Unterjochung durch dieselben und die der Penesten bei den Thessalern erregen. Wenn wir nun alle diese und ähnliche Beispiele ins Auge fassen, welche Bestimmung müssen wir da über den Besitz von Sklaven treffen? Was ich nun schon im Vorbeigehen sagte und worüber du mich mit Recht fragtest was ich meine ist dies. Wir wissen daß Niemand in Abrede stellen wird, man müsse möglichst treue und gute Sklaven besitzen. Denn schon Mancher hat an vielen seiner Sklaven Leute von einer in allen Stücken bewährteren Tugend gefunden als Brüder und Söhne, und sie haben ihre Herren und deren Besitztümer und ganze Häuser gerettet. So etwa, wissen wir, pflegt man sich über die Sklaven zu äußern.

MEGILLOS: Gewiß.

DER ATHENER: Aber auch wiederum in ganz entgegengesetzter Weise, nämlich daß nichts Gesundes in einer Sklavenseele zu finden sei und daß kein Verständiger jemals dieser Art in irgend einem Stücke trauen werde. Und dies hat uns ja auch der weiseste der Dichter verkündet, indem er vom Zeus sagt: [777 St.]

„Halb schon nimmt den Verstand ja des Zeus allwaltende

Vorsicht Jeglichem Manne den immer der Tag der Knechtschaft ereilet.”

So sehr gehen die verschiedenen Leute in ihren Ansichten über die Sklaven auseinander, und so trauen denn die Einen Allem was Sklave heißt in Nichts, sondern behandeln ihre Diener wie das Vieh mit Stachel und Peitsche, und wie man dadurch jenes immer wilder macht, so machen sie auf diese Weise auch die Seelen ihres Gesindes nicht bloß dreifach, sondern zehnfach zu Sklavenseelen, die Andern aber handeln dem gerade entgegengesezt.

MEGILLOS: Freilich.

KLEINIAS: Gut denn, Freund, wenn denn die Leute in bezug hierauf so ungleich denken und handeln, was müssen da wir in unserem Staate über den Besitz und die Bestrafung der Sklaven feststellen?

DER ATHENER: Je nun, lieber Kleinias, es ist klar daß der Mensch, wie er überhaupt ein schwer zu behandelndes Geschöpf ist, sich am Wenigsten die tatsächliche Unterscheidung zwischen einem Sklaven und einem Freien und Herrn, so notwendig dieselbe auch ist, in irgend einer Weise gerne gefallen läßt und je gefallen lassen wird.

KLEINIAS: Ja wohl.

DER ATHENER: Er ist folglich ein sehr schwer zu handhabendes Besitztum, und es hat sich dies oft durch die Tat gezeigt in den häufigen Aufständen der Messenier und überhaupt in alle dem vielerlei Unheil welches in den Staaten die viele Sklaven von gleicher Sprache haben geschieht, desgleichen auch in den von den sogenannten Perideinen in Italien verübten mannigfachen Räubereien und den dadurch hervorgerufenen Leiden. Wenn Jemand dies Alles in Betracht zieht, so dürfte er wohl in Verlegenheit geraten was er denn bei einer solchen Sache überhaupt anfangen soll. Nur zwei Mittel bleiben übrig, einmal nicht Landsleute, sondern vielmehr Leute von möglichst verschiedener Sprache zu Sklaven zu nehmen, da diese sich diesem Lose williger fügen werden, sodann aber sie auf die rechte Weise zu behandeln, nicht bloß um ihrer sondern noch viel mehr um unser selbst willen. Diese richtige Behandlung aber wird darin bestehen daß wir nicht in irgend einer Weise Frevel und Übermut gegen unser Gesinde begehen, sondern im Gegenteil, wo möglich, ihnen noch weniger Unrecht als Unseresgleichen tun. Denn solchen Leuten gegenüber, bei denen es keine Gefahr hat ihnen Unrecht zu tun, zeigt es sich erst recht ob man in seinem Wesen das Recht lieb hat und das Unrecht und Wahrheit verabscheut, und wer dich daher durch die Sitten und Handlungen seiner Dienstboten nicht dazu verleiten läßt, sich mit Ruchlosigkeit und Ungerechtigkeit gegen sie zu beflecken, der wird am geeignetsten sein die Saat der Tugend auszustreuen, und das Gleiche läßt sich mit Grund auch von einem unumschränkten Monarchen oder Tyrannen und überhaupt von jedem der in irgend einer Weise über Schwächere Gewalt ausübt aussagen. Freilich muß man aber andererseits auch die Sklaven, sobald sie es verdienen, züchtigen und sie nicht etwa verwöhnen, indem man sie wie freie Leute bloß mit Worten zurechtweisen wollte. Die Anrede an einen Sklaven muß fast jederzeit ein Befehl sein und [778 St.] man muß auf keine Weise Scherz mit ihnen treiben, mit Mägden so wenig wie mit Knechten, wie es Viele zu tun pflegen, die dadurch in recht törichter Weise ihre Sklaven verwöhnen und so ihnen das Leben schwerer machen zum Gehorchen und sich selbst zum Befehlen.

KLEINIAS: Du hast Recht.

DER ATHENER: So möge sich denn Jeder möglichst mit Sklaven von hinlänglicher Zahl und Tauglichkeit zur Unterstützung in allen möglichen Arbeiten versehen. Wir aber haben hiernächst in unserer Darstellung zur Beschreibung der Wohnungen überzugehen.

KLEINIAS: Gut.

DER ATHENER: Überhaupt scheint auf das gesamte Bauwesen in einem neuen Staate und bisher unbewohnten Lande eine ganz besondere Sorgfalt verwandt werden zu müssen, wie die Stadt in allen ihren Teilen und zumal wie Tempel und Mauern anzulegen sind. Dies ist nun freilich ein Gegenstand, lieber Kleinias, der den Hochzeiten vorausgehen muß, indessen da wir jetzt Alles ja nur erst in Worten entwerfen, so geht es auch recht wohl an daß wir zur Zeit vielmehr so verfahren wie wir eben tun. So bald es jedoch tatsächlich in Ausführung gebracht werden soll, so müssen wir allerdings erst dies Alles, so Gott will, ins Werk gesetzt haben, bevor wir unsere Bürger zur Vermählung schreiten lassen. Und so wollen wir denn für jetzt lediglich mit raschen Zügen einen Umriß vom Bau unserer Stadt entwerfen.

KLEINIAS: Ich bin es zufrieden.

DER ATHENER: Die Heiligtümer zunächst muß man rings um den ganzen Markt und muß die ganze Stadt kreisförmig auf erhöhten Punkten anlegen sowohl der Sicherheit als auch der Reinlichkeit wegen, in der Nähe der Heiligtümer aber die Sitzungsgebäude der Behörden und der Gerichte, damit dergestalt hier an den heiligsten Orten der Stadt Recht erteilt und empfangen werde, teils weil sich die Rechtspflege auch über das Heilige erstreckt, teils weil sie von den heiligen Göttern eingesetzt ist. Namentlich soll hier auch der Gerichtshof tagen in welchem über Mord und andere todeswürdige Verbrechen die geziemenden Urteile gesprochen werden. Was aber die Ringmauern anlangt, so möchte ich für meinen Teil, lieber Megillos, mit Sparta darin übereinstimmen daß man sie in der Erde liegen und schlafen lasse und sie nicht aufrichte, und zwar aus folgenden Gründen. Mit Recht wird zunächst schon jenes Dichterwort über sie gefeiert, daß sie besser von Eisen und Erz als von Erde seien, wir aber dürften noch außerdem mit Fug und Recht höchlich verlacht werden, wenn wir jährlich unsere junge Mannschaft ins Land hinausschicken, um Wälle aufzuwerfen und Gräben zu ziehen und zum Teil auch feste Gebäude zu errichten, um dadurch die Feinde von den Grenzen abzuwehren, und uns nun trotzdem noch mit einer Ringmauer umgeben wollten, welche doch zunächst in Bezug auf die Gesundheit den Städten keineswegs zuträglich ist, sodann aber auch zur Verweichlichung der Gemüter ihrer Bewohner beizutragen pflegt, indem sie dieselben dazu auffordert innerhalb ihrer Zuflucht zu suchen, [779 St.] anstatt die Feinde abzuwehren, und nicht dadurch sich zu sichern daß beständig am Tage wie bei Nacht Wachen in der Stadt ausgestellt sind, sondern sich einzubilden, wenn sie sich hinter Mauern und Tore verschanzt hätten und dann selber schliefen, in Wirklichkeit genügende Anstalten für ihre Sicherheit getroffen zu haben, als wären sie nicht zur Arbeit geboren und wüßten nicht daß erst aus ihr die wahre Ruhe hervorgehen kann, während schimpfliche Ruhe und Gemächlichkeit, wie ich meine, im Gegenteil nur immer neue Mühe und Arbeit nach sich zieht. Wenn aber doch durchaus eine Mauer da sein soll, so gebe man von vorn herein den Privathäusern eine solche Anlage daß die ganze Stadt gleichsam Eine Mauer sei und alle Häuser durch ihre gleichartige Lage und Gestalt nach der Straße zu eine Schutzwehr bilden. Wird dies schon für den Anblick nicht unangenehm sein, wenn so die ganze Stadt das Aussehen eines einzigen Hauses trägt, so wird es namentlich die Bewachung derselben erleichtern und so in jedem Betracht für ihre Sicherheit vortrefflich sein. Für diese Einrichtung zu sorgen muß, so lange die ersten Gebäude stehen, den Einwohnern selbst am Meisten am Herzen liegen, überdies aber sollen die Stadtaufseher sie in ihre Obhut nehmen und den Nachlässigen durch Strafe hiezu nötigen, und sie haben für die Reinlichkeit aller Teile der Stadt und dafür zu sorgen daß kein Privatmann mit Bauten oder Gräben irgend ein Staatseigentum einnehme. Ebenso müssen sie auch dafür sorgen daß das Regenwasser einen guten Ablauf habe, und die geeignetsten Bauplätze im Innern und außerhalb der Stadt beschaffen. In diesen wie in allen übrigen Stücken sollen nun aber überdies in bezug auf das was der Gesetzgeber etwa übersehen mag die Gesetzverweser, nachdem sie es durch Erfahrung kennen gelernt haben, das Nötige gesetzlich feststellen. Sobald nun aber die genannten Gebäude und die um den Markt herum und die welche für die Leibesübungen und alle welche für den Unterricht dienen sollen und so bald die Theater erbaut sind und jene ihre Besucher, diese die Zuschauer erwarten, führt uns der Verlauf der Gesetzgebung zu den Dingen welche nach den Hochzeiten folgen.

KLEINIAS: So ist es.

DER ATHENER: Wir nehmen also an, Kleinias, die Hochzeiten seien vollzogen, und so wird denn zunächst davon zu reden sein, welche Lebensweise die jungen Eheleute nicht weniger als ein Jahr lang, ehe ihnen Kinder geboren sind, in einem Staate zu führen haben der sich vor der Masse der andern Staaten auszeichnen soll. Dieser sich jetzt zunächst anschließende Punkt ist nun eben nicht am Allerleichtesten zu behandeln, sondern wenn wir schon im Bisherigen auf nicht Weniges stießen was schwer bei der Menge Aufnahme findet, so gilt dies doch bei ihm am Allermeisten. Jedoch wir wollen deshalb nicht verschweigen, Kleinias, was uns recht und wahr zu sein scheint.

KLEINIAS: Gewiß nicht.

[780 St.] DER ATHENER: Wer nämlich die Ansicht hat, man müsse in den bürgerlichen Gesetzen nur Vorschriften für das Verhalten der Bürger im Staats- und öffentlichen Leben geben und daß es dagegen für das Privatleben auch nicht einmal der allernötigsten Gesetze bedürfe, sondern daß es hierin Jedermann frei gelassen werden müsse, Tag für Tag hinzubringen wie es ihm beliebt, und daß hier keineswegs Alles an eine bestimmte Ordnung gebunden zu sein brauche, und wer dann, nachdem er dasselbe durch kein Gesetz geregelt hat, glaubt, die Bürger würden trotzdem im Staats- und öffentlichen Leben den Gesetzen gehorchen, der ist sehr im Irrtum. Weshalb nun ich dies bemerke? Weil ich zu verordnen gedenke daß die Neuvermählten nicht anders und nicht minder als vor ihrer Hochzeit ihre tägliche Nahrung in den gemeinsamen öffentlichen Mahlzeiten einnehmen sollen. Man wird dies Verlangen seltsam finden, aber auch die Einrichtung dieser letzteren selbst erschien ja seltsam als sie zuerst in euren Heimatländern eingeführt ward, indem, was das Wahrscheinlichste ist, ein Krieg oder ein anderes eben so mächtiges Ereignis unter einer geringen Anzahl von Menschen die sich in harter Bedrängnis befanden sie gesetzlich anzuordnen nötigte, und doch fandet ihr, nachdem ihr einmal mit den gemeinschaftlichen Mahlzeiten den Versuch gemacht hattet und sie in Anwendung zu bringen gezwungen worden waret, daß sie in hohem Grade das Staatswohl beförderten, und es wurde in Folge dessen ihre Einrichtung stehend.

KLEINIAS: So scheint es wenigstens.

DER ATHENER: Ehedem erschien dieselbe wunderlich und schien es bedenklich für den Gesetzgeber sie anzubefehlen, heutzutage aber findet er nicht mehr in gleichem Maße Schwierigkeiten bei ihrer gesetzlichen Anordnung. Was aber aufs Engste damit zusammenhängt und, wenn einmal eingeführt, gewiß als mit Recht eingeführt erscheinen würde, dadurch würde, bloß weil es bis jetzt nirgends besteht, nahezu bewirkt werden daß der Gesetzgeber, wie man wohl im Scherze sagt, ins Wasser sät, oder was man sonst für andere tausenderlei unnütze Dinge treiben kann, und so wird es nicht leicht zu gebieten und, wenn einmal geboten, in Vollziehung zu bringen sein.

KLEINIAS: Was ist denn das, Freund, was du da zu sagen im Begriffe stehst und womit du doch so lange hinter dem Berge hältst?

DER ATHENER: Höret denn, damit wir uns nicht unnötiger Weise lange hierbei aufhalten. Alles was im Staate nach Gesetz und Ordnung geschieht bringt allen möglichen Segen, aber das gar nicht oder schlecht Geordnete bringt meistens einen Teil dieses Wohlgeordneten wieder in Verwirrung. Dies kommt auch bei Dem wovon jetzt die Rede ist in Betracht. Bei euch nämlich, Kleinias und Megillos, sind die gemeinschaftlichen Mahlzeiten der Männer mit Recht eingeführt, indem, wie gesagt, eine gottgesandte Notwendigkeit sie, die so seltsam erschienen, ins Leben rief, [781 St.] aber über die Weiber ist ganz mit Unrecht in dieser Beziehung keine gesetzliche Verfügung getroffen und die Einrichtung nicht ans Licht gefördert worden daß auch sie an den gemeinschaftlichen Mahlzeiten Teil haben sollten, sondern gerade dasjenige der Geschlechter von uns Menschen welches auch sonst in Folge seiner natürlichen Schwäche viel versteckter und schlauer ist, das weibliche, hat der Gesetzgeber, weil es schwer zu behandeln ist, aus falscher Nachgiebigkeit ganz ohne gesetzliche Regelung gelassen. Weil dies aber außer Acht gelassen worden, so ließ man vieles bei euch vorübergehen, worin es, wenn es Gesetze darüber gäbe, viel besser stehen würde als es jetzt steht. Denn indem das Leben der Weiber ungeordnet bleibt, so ist dabei nicht etwa, wie es scheinen könnte, nur die Hälfte übergangen, sondern mehr als das Doppelte, und zwar in dem Verhältnis als das weibliche Geschlecht hinter dem männlichen an Anlage zur Tugend zurücksteht. Diesen Punkt also nochmals vorzunehmen und dahin zu ergänzen daß alle Einrichtungen für Frauen und Männer gemeinsam angeordnet werden, würde für die Glückseligkeit des Staates besser sein. Gegenwärtig aber ist das Menschengeschlecht keineswegs so glücklich zu diesem Ziele geführt worden, so daß Jeder der bei Sinnen ist vielmehr besser daran tun wird in anderen Orten und Staaten, in denen die gemeinsamen Mahlzeiten überhaupt nicht in die Verfassung aufgenommen sind, diese Sache auch überall nicht in Erwähnung zu bringen. Wie lächerlich würde er sich daher erst machen wenn er es in der Tat unternähme die Weiber dazu zu zwingen daß man sie öffentlich ihre Speisen und Getränke zu sich nehmen sehe. Denn es gibt Nichts was dies Geschlecht schwerer ertragen würde. Ist es doch daran gewöhnt vielmehr verborgen und im Dunkel zu leben, und es würde daher, wenn man es mit Gewalt ans Licht hervorziehen wollte, dem Gesetzgeber allen möglichen Widerstand entgegensetzen und gewiß in diesem Kampfe Sieger bleiben. Es würde daher nach dem bisher Bemerkten anderswo diesen so vernünftigen Vorschlag nicht einmal aussprechen lassen, ohne den größten Lärm dagegen zu erheben, dort aber wo bereits für die Männer gemeinsame Mahlzeiten bestehen würde es dies vielleicht tun. Wenn es euch also scheint, so als bloße Rede sei unsere Auseinandersetzung über die gesamte Staatsverfassung nicht unglücklich ausgefallen, so will ich euch zeigen daß auch diese Einrichtung gut ist, falls ihr anders es hören wollt, wo nicht, so unterlasse ich es.

KLEINIAS: Nein, Freund, wir sind ganz erstaunlich begierig darauf es zu hören.

DER ATHENER: So höret denn. Wundert euch aber ja nicht, wenn ich dabei etwas weit auszuholen scheine, indem ich diese Sache in Angriff nehme. Wir erfreuen uns ja hinlänglicher Muße, und es ist Nichts vorhanden was uns drängte, so daß wir nicht jeden Punkt der Gesetzgebung auf jegliche Art und Weise ins Auge fassen könnten.

KLEINIAS: Du hast Recht.

DER ATHENER: Wir wollen also noch einmal auf das schon früher Bemerkte zurückgehen. So viel wird doch wohl Jedermann einsehen daß [782 St.] das Menschengeschlecht entweder überhaupt niemals einen Anfang genommen hat und nie ein Ende nehmen wird, sondern immer gewesen ist und immer sein wird, oder aber daß doch seit seiner Entstehung schon eine unermeßliche Zeit verstrichen ist.

KLEINIAS: Allerdings.

DER ATHENER: Wie also? Sind wir nicht der Ansicht daß Staaten gegründet wurden und wieder zerfielen, und daß sich verschiedenartige Einrichtungen des Lebens, geregelte sowie ungeregelte, und verschiedenartige Neigungen in Bezug auf Trank und Speise in jedem Betracht auf der ganzen Erde gebildet haben, und eben so vielfache Witterungsveränderungen entstanden, in Folge deren natürlich auch die lebendigen Wesen zahlreiche Umwandlungen erlitten?

KLEINIAS: Wie sollten wir nicht?

DER ATHENER: Und weiter, glauben wir nicht daß einst Weinstöcke zum Vorschein gekommen seien die es zuvor nicht gab, und ebenso Ölbäume und die Gaben der Demeter und Kora, und daß ein gewisser Triptolemos der Verteiler der letzteren unter die Menschen gewesen sei? Und müssen wir da nicht annehmen daß zu der Zeit als es dies Alles noch nicht gab die lebenden Wesen einander gegenseitig verzehrten, da dies ja selbst jetzt noch der Fall ist?

KLEINIAS: Gewiß.

DER ATHENER: Wir sehen ja auch daß noch jetzt unter vielen Menschen die Sitte besteht einander zu opfern, und wiederum hört man daß dagegen bei anderen eine Zeit bestanden habe in welcher man auch nicht einmal einen Ochsen zu kosten wagte und den Göttern keine Tiere zum Opfer darbrachte, sondern nur Kuchen und Früchte mit Honig benetzt und andere solche unblutige Opfer, wo man sich alles Fleisches enthielt, weil es für eine Sünde galt solches zu essen und die Altäre der Götter mit Blut zu beflecken, sondern vielmehr die damaligen Menschen die bei uns so genannte orphische Lebensweise führten und sich zu ihrer Nahrung nur an leblose Dinge hielten und sich dagegen alles dessen was Leben hatte enthielten.

KLEINIAS: Was du da sagst wird vielfach erzählt und verdient Glauben.

DER ATHENER: Zu welchem Zwecke nun aber, werdet ihr fragen, sagst du das Alles?

KLEINIAS: Ja mit Recht, Freund, legst du dir selber diese Frage vor.

DER ATHENER: Nun, lieber Kleinias, so will ich denn auch, soweit ich vermag, was weiter hieran sich anschließt zu entwickeln versuchen.

KLEINIAS: So sprich.

DER ATHENER: Ich sehe daß bei den Menschen Alles von dreierlei Bedürfnissen und Trieben abhängt, aus welchen bei richtiger Leitung Tugend und bei verkehrter Laster entspringt. Zwei dieser Bedürfnisse, das nach Speise und das nach Trank, regen sich gleich nach unserer Geburt, und es ist jedem lebendigen Wesen von Natur der Trieb zur Befriedigung derselben in ihrem ganzen Umfange eingepflanzt, so daß es denselben aufs Ungestümste empfindet und daher taub gegen die Vorstellung Dessen sein würde welcher ihm sagen wollte, man müsse etwas Anderes tun als durch Befriedigung seiner hierauf gerichteten Lüste und Begierden sich stets aller schmerzlichen Entbehrung entledigen. [783 St.] Das dritte und stärkste Bedürfnis und der heftigste aller Triebe aber regt sich zwar erst zuletzt in uns, aber es erhitzt die Menschen bei Weitem am Ungestümsten und bis zur Raserei und entbrennt bis zum äußersten Frevel, und es ist dies der Trieb nach der Fortpflanzung des Geschlechtes. Diese drei Regungen nun muß man dem was angeblich das Angenehmste ist zuwider auf das Beste zu lenken und durch die drei mächtigsten Zügel, Furcht, Gesetz und gesunde Vernunft, im Zaume zu halten suchen und muß überdies noch die Musen und die Schutzgötter der Leibesübungen zu Hilfe rufen, um Wachstum und Zufluß derselben zu hemmen.

Laßt uns denn also annehmen daß nach Abschließung der Ehen Kinder geboren werden, die dann aufzunähren und zu erziehen sind. Wenn unsere Darstellung in dieser Ordnung vorschreitet, so wird jedes Gesetz das wir zu Stande bringen uns allmählich bis zu den gemeinschaftlichen Mahlzeiten fortführen, wo wir denn, bei diesen Verbänden angelangt, vielleicht deutlicher erkennen mögen, indem wir sie dann ganz in der Nähe haben, ob sie bloß aus Männern oder auch aus Frauen zusammenzusetzen sind, und wir dergestalt Das was ihnen voraufgehen muß und noch durch kein Gesetz geregelt ist regeln und ihnen als Grundlage voraufgehen lassen und sodann, wie schon gesagt, ihre erforderliche Beschaffenheit viel genauer erkennen und demgemäß unsere Gesetze über sie angemessen und zweckmäßig einrichten werden.

KLEINIAS: Du hast ganz Recht.

DER ATHENER: So laß uns denn das eben zuvor Gesagte im Gedächtnis behalten, denn wir werden vielleicht nachher von dem Allem Gebrauch zu machen haben.

KLEINIAS: Was sollen wir den behalten?

DER ATHENER: Was wir mit den drei Worten bezeichneten: Speise, Trank und die heftige Begierde nach Liebesgenuß.

KLEINIAS: Gut, Freund, wir werden das über sie Bemerkte wohl im Gedächtnis behalten.

DER ATHENER: Gut denn, wir wollen also jetzt zu dem Leben der jungen Eheleute übergehen und sie belehren wie sie Kinder zu zeugen haben, und für den Fall daß unsere Vorstellungen bei Einigen kein Gehör finden, Gesetze geben die ihnen mit Strafe drohen.

KLEINIAS: Nun, und wie?

DER ATHENER: Mann und Frau müssen darauf denken dem Staate möglichst die schönsten und besten Kinder zu zeugen. Alle Menschen nun bringen eine gemeinsame Unternehmung allemal nur dann wenn sie ihren Sinn auf dieselbe und auf sich selber richten schön und gut zu Stande, während ihnen, wenn sie dies unterlassen oder überhaupt nicht bei Sinnen sind, das Gegenteil zu begegnen pflegt. Der Mann lasse sich daher seine Frau am Herzen liegen und richte seinen Sinn auf die Kinderzeugung, und die Frau handle entsprechend, und zumal so lange ihnen noch keine Kinder geboren sind. [784 St.] Die Aufsicht darüber sollen dazu erwählte Frauen von größerer oder geringerer Anzahl führen, sofern nämlich die Leiter des Staates die letztere genauer bestimmen sollen, so wie auch das Alter in welchem es ihnen erforderlich scheint sie hiemit zu beauftragen. Und zwar sollen sie täglich beim Tempel der Eileithyia zusammenkommen und bis nach Ablauf des dritten Teils vom Tage versammelt bleiben, um während dieser Frist einander Mitteilung davon zu machen, wenn eine von ihnen einen Ehemann oder auch eine Ehefrau in den zur Zeugung bestimmten Jahren entdeckt hat, die ihr Augenmerk auf alles Andere richten als auf das was ihnen unter den hochzeitlichen Opfern und heiligen Handlungen geboten wurde. Die Kindererzeugung aber und die Überwachung der Kindererzeugenden währe zehn Jahre und nicht länger, wenn anders die erstere gut von Statten gegangen ist. Sollte aber ein Ehepaar bis zu dieser Frist ohne Nachkommenschaft bleiben, so soll es mittelst einer gemeinsamen Beratung mit den Verwandten und den Aufseherinnen unter für beide Teile gleich vorteilhaften Bedingungen geschieden werden. Wenn aber dabei ein Streit entstehen sollte welche Bedingungen für den einen oder den anderen Teil angemessen und vorteilhaft seien, so sollen sie zehn von den Gesetzesverwesern wählen und dann bei dem stehen bleiben was diese bestimmen. Es sollen aber die Aufseherinnen die jungen Eheleute in ihren Häusern besuchen und den Irrtümern oder Fehltritten welche dieselben sich etwa zu Schulden kommen lassen teils durch Zureden, teils durch Drohungen abzuhelfen suchen, und gelingt ihnen dies nicht, so sollen sie sich dieserhalb an die Gesetzesverweser wenden und ihnen Anzeige hievon machen, und diese sollen dann hiegegen einschreiten. Hilft aber auch dies nicht, so sollen die Gesetzverweser es bei den Volksgerichten durch Einreichung einer Klageschrift und unter eidlicher Bekräftigung ihrer Aussage zur Anzeige bringen daß sie Diesen oder Jenen durchaus nicht auf einen besseren Weg zu leiten vermöchten, und der so Angeklagte soll dann, wenn er nicht vor den Richtern seine Ankläger siegreich zu bekämpfen vermag, folgendes Ehrenrechts verlustig gehen. Er soll fortan weder Hochzeiten noch die Opfer welche man nach der Geburt von Kindern feiert besuchen dürfen, und falls er dies dennoch tut, so soll einem Jeden erlaubt sein ihn körperlich zu züchtigen. Und eben dasselbe Gesetz gelte auch für die Frauen. Wenn nämlich eine solche um ihrer Fehltritte willen in gleicher Weise öffentlich angeklagt worden ist und sich gegen diese Anklage nicht zu rechtfertigen vermocht hat, so soll sie an den Festaufzügen der Weiber und an allen sonstigen Auszeichnungen dieses Geschlechts und an dem Besuche der Hochzeiten und Geburtsfeste von Kindern keinen Teil nehmen dürfen. Hat nun aber ein Ehepaar während der gesetzlichen Frist Kinder gezeugt und es läßt sich dann trotzdem noch der Mann mit einer andern Frau und die Frau mit einem andern Manne ein, so sollen sie, wenn die letzteren noch in zeugungsfähigem Alter sind, ganz von denselben Strafen betroffen werden wie sie so eben gegen die Fehltritte der Eheleute die sich noch in der zur Zeugung festgestellten Frist befinden bestimmt worden. Diejenigen Eheleute dagegen die nach Ablauf dieser Frist enthaltsam in diesen Dingen sind sollen alles mögliche Lob und alle mögliche Ehre dafür ernten, wer aber anders handelt soll im Gegenteil in Unehre verfallen. [785 St.] Und so lange der größere Teil des Volkes in diesen Stücken wohlgesittet lebt, lasse man die ganze Sache stillschweigend auf sich beruhen und gebe keine Gesetze darüber; ist aber das Gegenteil der Fall, dann gebe man die obigen Gesetze und verfahre nach ihnen.

Da das erste Jahr für einen Jeden der Anfang seiner Lebenszeit ist, so soll das Geburtsjahr eines jeden Knaben und Mädchens in den Heiligtümern ihres Geschlechts aufgezeichnet werden. In jeder Phratrie soll nämlich auf einer weiß angestrichenen Wand bei jedem Jahre der Name derjenigen obrigkeitlichen Person bemerkt werden nach welcher man dies Jahr rechnet, und daneben sollen dann immer die Geborenen in jeder Phratrie aufgezeichnet, die Abgeschiedenen dagegen wieder ausgelöscht werden. Die Zeit zur Ehe soll für ein Mädchen auf das sechzehnte bis spätestens zwanzigste Jahr, für den Mann aber auf das dreißigste bis fünfunddreißigste Jahr bestimmt sein, die zur Fähigkeit ein Amt zu bekleiden für das Weib auf das vierzigste, für den Mann auf das dreißigste, das kriegsfähige Alter des Mannes auf das zwanzigste bis sechzigste Jahr. Die Frauen aber sollen, so weit ihre Dienste im Kriege für notwendig erachtet werden, allerdings mit für denselben verwandt werden, aber erst nach Ablauf der für die Zeugung festgestellten Frist bis zum fünfzigsten Jahre, und es soll dabei Keiner Etwas aufgetragen werden was über ihre Kräfte reicht oder unschicklich für sie wäre.

Gesetze



SIEBENTES BUCH



[788 St.] DER ATHENER: Nachdem nun so Kinder männlichen und weiblichen Geschlechts geboren sind, dürften wir am Richtigsten wohl zunächst von ihrer Auferziehung und Heranbildung zu sprechen haben, ein Gegenstand welchen unbesprochen zu lassen zwar schlechterdings unmöglich ist, dessen Besprechung aber doch mehr auf Belehrung und Ermahnung hinauslaufen als wirklichen Gesetzen ähnlich sehen wird. Denn im Privatleben und im Innern des Hauses kommen mancherlei geringfügige und von den Meisten ganz übersehene Dinge vor, welche aber doch, eben weil in ihnen Jedermann sich von seiner eigenen Begierde und von dem was ihm Schmerz oder Lust bereitet leiten läßt, sich leicht ganz anders gestalten als es die Absichten des Gesetzgebers mit sich bringen und so leicht in den Sitten der Bürger Verschiedenheit und Widerstreit hervorrufen, die doch für die Staaten vom übel sind. Indessen wegen der Geringfügigkeit und Häufigkeit dieser Fälle würde es unangemessen und unziemlich sein Gesetze welche Strafen hiegegen androhen dieserhalb zu geben. Andererseits aber würde es auch den schon bestehenden schriftlichen Gesetzen Nachteil bringen, wenn die Leute sich daran gewöhnten in unbedeutenden und häufig vorkommenden Dingen ohne gesetzliche Ordnung zu handeln. Und so geht es denn einerseits schwer an hier Gesetze zu geben, und doch ist es andererseits auch unmöglich ganz dazu zu schweigen. Doch ich muß versuchen euch klar zu machen was ich eigentlich meine und euch meine Waren, so zu sagen, vors Schaufenster hängen, denn bis jetzt mag es ziemlich dunkel klingen.

KLEINIAS: Ja, darin hast du sehr Recht.

DER ATHENER: Nun, daß nur das eine richtige Erziehung sei welche im Stande ist Körper und Seele so gut und trefflich als möglich auszubilden, das darf man doch wohl mit Recht behaupten?

KLEINIAS: Wie anders?

DER ATHENER: Die Körper werden aber doch, meine ich, um mit dem Einfachsten anzufangen, dann am Schönsten wenn sei von frühester Jugend an so richtig als möglich aufwachsen?

KLEINIAS: Ganz gewiß.

DER ATHENER: Und wie? Wissen wir nicht daß der erste Aufwuchs eines jeden lebendigen Wesens bei Weitem der größte und stärkste ist, so daß sogar Viele dafür gestritten haben daß die menschliche Länge mit dem fünften Jahre ein Wachstum erreicht habe das in den nächsten zwanzig Jahren nicht auf das Doppelte steige.

KLEINIAS: Ganz richtig.

[789 St.] DER ATHENER: Und weiter, wissen wir nicht daß reichliches Wachstum in den Körpern tausenderlei Übel hervorzubringen pflegt, wofern man ihnen nicht in reichlichem Maße angemessene Anstrengungen auferlegt?

KLEINIAS: Ja wohl.

DER ATHENER: Folglich bedarf es dann der meisten Anstrengungen für die Körper wenn ihnen die meiste Nahrung zu Teil wird.

KLEINIAS: Wie, Freund? Sollen wir den Neugebornen und Säuglingen die meisten Anstrengungen auferlegen?

DER ATHENER: Nein, sondern sogar Denen die noch erst im Mutterleibe ernährt werden.

KLEINIAS: Was sagst du, Bester? Meinst du wirklich, den Embryonen?

DER ATHENER: Ja. Es ist aber auch gar kein Wunder daß ihr von der Gymnastik eines so zarten Alters Nichts wisset, und um so mehr möchte ich euch mit ihr bekannt machen, so seltsam die Sache auch klingen mag.

KLEINIAS: So tue es denn.

DER ATHENER: In meiner Heimat freilich würde man das Ding leichter begreifen in Folge der vielfachen Liebhabereien, mit denen sich mache Leute dort mehr abgeben als recht ist. Bei uns nämlich beschäftigen sich nicht allein Kinder, sondern auch manche ältere Leute mit der Vogelzucht und richten diese Tierchen zu Kämpfen mit einander ab. Diese Leute sind nun aber weit davon entfernt zu glauben daß dieselben in den Kämpfen, in welchen sie sie zu ihrer Übung gegen einander hetzen, bereits hinlängliche Arbeit und Anstrengung hätten, sondern sie gehen vielmehr außerdem mit den kleineren dieser Tiere in der Hand und den größeren unter dem Arme gar viele Stadien weit spazieren, zur Gesundheit nicht etwa ihrer eigenen Leiber, sondern der ihrer Tiere, und damit geben sie denn Jedem der zu beobachten weiß mindestens einen kleinen Beleg dafür daß alle nur nicht ermüdenden Erschütterungen und Bewegungen für jeglichen Körper vorteilhaft sind, nicht bloß die desselben durch sich selbst, sondern auch die in welche er durch Schaukeln, Schiffen, Fahren, Reiten oder überhaupt durch einen anderen irgendwie bewegten Körper gesetzt wird, und daß er hierdurch feste wie flüssige Nahrung bewältigt und so Gesundheit, Schönheit und Stärke empfängt.

Was werden wir also bei so bewandten Umständen als das Nächste bezeichnen was wir zu tun haben? Wollen wir denn allem Gelächter zum Trotz es zum ausdrücklichen Gesetze erheben: eine schwangere Frau soll fleißig spazieren gehen, dann aber wenn das Kind geboren soll die Mutter, so lange es noch zart ist, es zu bilden suchen wie weiches Wachs und es bis zum zweiten Jahre in Windeln halten? Und wollen wir ferner auch die Wärterinnen durch ein Gesetz bei Strafe dazu anhalten daß sie die Kinder auf das Feld, in die Tempel, zu ihren Verwandten oder irgend sonst wohin tragen, bis sie kräftig genug zum Stehen sind, und daß sie auch dann noch nicht bloß wohl darauf achten daß die Kinder, da sie noch immer allzu zart sind, sich nicht irgendwogegen stemmen und dadurch ihre Glieder verdrehen, sondern auch die Mühe des Tragens noch fortsetzen bis dieselben ihr drittes Jahr zurückgelegt haben, [790 St.] und daß man zu diesem Zwecke die stärksten Weiber und mehr als je Eine anstellen solle? Und wollen wir auf die Übertretung von jedem dieser Punkte eine Strafe setzen? Oder wollen wir lieber Nichts von dem Allem tun? Denn freilich das worauf ich so eben hindeutete dürfte uns sonst häufig und in reichem Maße begegnen.

KLEINIAS: Welches meinst du denn?

DER ATHENER: Daß wir vielleicht zum Gelächter werden würden. Und zudem würden die Wärterinnen, eben in ihrer Eigenschaft als Weiber und als Sklavinnen, nicht geneigt sein uns Folge zu leisten.

KLEINIAS: Nun, und warum sollten wir trotzdem dergleichen Bestimmungen treffen?

DER ATHENER: Darum weil sich von den Herren und freien Leuten im Staate erwarten läßt daß sie, wenn sie diese Grundsätze vernommen, mit uns zu der richtigen Überzeugung gelangen werden, es lasse sich, wenn nicht das Privatleben der Bürger richtig geregelt sei, auch von der Gesetzgebung für das gemeine Wesen keine Festigkeit erwarten, und daß sie somit in Erwägung dessen sowohl für ihre Person die so eben von uns vorgeschlagenen Gesetze in Anwendung bringen als auch eben damit zugleich ihr Hauswesen und den ganzen Staat aufs Glücklichste verwalten werden.

KLEINIAS: Das ist allerdings eine sehr wahrscheinliche Vermutung.

DER ATHENER: Und so wollen wir denn diesen Teil unserer Gesetzgebung nicht eher für vollendet ansehen als bis wir auch die für die Pflege der Seelen noch ganz junger und zarter Kinder dienlichen Einrichtungen ganz in derselben Weise entworfen haben in welcher wir begannen unsere Ansichten über die ihrer Leiber vorzutragen.

KLEINIAS: Ja wohl, so müssen wir es machen.

DER ATHENER: Wir wollen demnach annehmen daß die Wartung und eine, wo möglich, den ganzen Tag und die ganze Nacht fortdauernde Bewegung gleichsam das Grundelement der ersten Erziehung für beide Teile, Seele und Körper, und den Kindern überhaupt, um so mehr aber je jünger sie sind, zuträglich ist und daß dieselben, wenn es möglich wäre, stets wie in einem Schiffe wohnen müßten, so aber muß man wenigstens was dem möglichst nahe kommt beim Aufziehen neugeborener Kinder in Anwendung bringen. Man darf dies auch daraus schließen, weil nicht bloß die Kinderwärterinnen zu der Einsicht gekommen sind wie zuträglich dies sei, sondern auch die Frauen welche sich mit der Heilung von Leuten abgeben die am Korybantentaumel leiden. Denn wenn die Mütter Kinder welche schwer einschlafen in Schlummer bringen wollen, so halten sie dieselben nicht etwa ruhig, sondern setzen sie im Gegenteil in Bewegung, indem sie dieselben unaufhörlich auf den Armen schaukeln, und beobachten dabei auch nicht etwa Stillschweigen, sondern singen ihnen irgend eine Weise vor und bringen so die Kinder förmlich wie durch rauschende Musik in den Schlaf; und gerade so geschieht die Heilung der bacchischen Raserei durch Anwendung der Bewegung mittelst bacchischen Reigentanzes und bacchischer Musik.

KLEINIAS: Und was ist denn wohl eigentlich, Freund, die Ursache dieser Wirkungen?

DER ATHENER: Diese ist nicht eben schwer zu erkennen.

KLEINIAS: Nun, und welche ist es also?

DER ATHENER: Eine Art Furcht sind offenbar beiderlei Zustände, und Furcht entspringt immer aus irgend einer Fehlerhaftigkeit der Seele. [791 St.] Sobald daher Jemand diesen Zuständen eine Erschütterung von außen her entgegensetzt, so bemeistert diese äußere Bewegung die innere der Furcht und Raserei, bewirkt in Folge dessen Ruhe und Stille in der Seele und macht das beängstigende Herzklopfen aufhören und, indem sie so das Erwünschte gewährt, verhilft sie den Kindern zum Schlafe, den Rasenden aber im Wachen durch Tanz und Flötenspiel mit Hilfe der Götter, denen sie dieserhalb glückverheißende Opfer zu spenden haben, aus einem wahnsinnigen Zustande in einen vernünftigen. Das wäre denn in Kurzem die wahrscheinlichste Erklärung.

KLEINIAS: Ohne Zweifel.

DER ATHENER: Wenn nun aber die Bewegung einen derartigen Einfluß hat, so kommt für uns dabei ferner in Betracht daß jede Seele die von frühester Jugend an in Angst und Schrecken gelebt hat sich immer mehr daran gewöhnen wird in Furcht zu schweben, und das wird doch wohl Jedermann eine Übung in der Feigheit und nicht in der Tapferkeit nennen.

KLEINIAS: Gewiß.

DER ATHENER: Im Gegenteil aber werden wir das eine Übung in der Tapferkeit nennen wenn wir gleich von Jugend auf alle uns entgegentretenden Schrecknisse und Befürchtungen überwinden lernen.

KLEINIAS: Richtig.

DER ATHENER: Und folglich werden wir auch mit Grund behaupten daß auch die Gymnastik der ganz zarten Kinder, welche lediglich darin besteht daß man ihnen Bewegung macht, eins von den Mitteln ist welche viel zu einem Teile der Tugend beitragen.

KLEINIAS: Allerdings.

DER ATHENER: Aber auch davon, wahrlich, ob Behagen oder Mißbehagen in der Seele Platz greift wird es nicht zum geringsten Teile abhängen ob sie gedeihen oder mißraten soll?

KLEINIAS: Wie anders?

DER ATHENER: Und so müssen wir denn jetzt wohl so gut als wir selber es wissen anzugeben versuchen, auf welche Weise wohl gleich dem neugeborenen Kinde die wünschenswerte von beiden Gemütsverfassungen eingepflanzt werden könne?

KLEINIAS: Versteht sich.

DER ATHENER: So spreche ich denn meine Ansicht dahin aus daß Verzärtelung die Gemüter der Kinder unzufrieden, jähzornig und höchst empfindlich über Kleinigkeiten, und im Gegenteil wiederum eine harte und strenge Behandlung und sklavische Unterdrückung sie niedrigen und sklavischen Sinnes, menschenfeindlich und so zu jedem Verkehr und jeder Gemeinschaft untüchtig mache.

KLEINIAS: Aber auf welche Weise soll denn der gesamte Staat diejenigen erziehen die noch nicht sprechen können und überhaupt aller Bildung unfähig sind?

DER ATHENER: So etwa. Ein jedes Geborene pflegt doch sofort durch Geschrei seine Empfindungen kundzugeben und nicht zum Wenigsten ein Menschenkind, ja außer dem Geschrei ist dieses vor anderen Geschöpfen voraus auch noch mit der Fähigkeit zum Weinen ausgerüstet.

KLEINIAS: So ist es.

DER ATHENER: Wenn nun die Wärterinnen wissen wollen wonach das Kind begehrt, [792 St.] erschließen sie dies eben hieraus, indem sie ihm Dies und Jenes bringen, wenn nämlich das Kind in Folge dessen was ihm gebracht wird schweigt, so wissen sie daß dies das Rechte ist, wenn es aber fortfährt zu weinen und zu schreien, das Unrechte. So sind denn für die Kinder Weinen und Geschrei eine Kundgebung dessen was sie lieben und hassen, und das sind eben keine glücklichen Zeichen. Und die Zeit, während welcher es so hergeht beträgt nicht weniger als drei Jahre, wahrlich kein so unbeträchtlicher Teil des Lebens daß es gleichgültig wäre ob man ihn besser oder schlechter zugebracht hat!

KLEINIAS: Du hast Recht.

DER ATHENER: Scheint euch nämlich nicht Weinerlichkeit und ein beständiges Übermaß von Wehklagen, wie es sich für keinen wackeren Menschen geziemt, das Zeichen eines mißmutigen und gar nicht heiteren Sinnes zu sein?

KLEINIAS: Mir scheint es wenigstens so.

DER ATHENER: Wie nun? Wenn eine Wärterin diese drei Jahre hindurch jegliches Mittel anwendete, von ihrem Zögling Schmerz, Furcht und jede Beschwerde nach Möglichkeit fern zu halten, glaubst du da nicht daß sein Gemüt froher und heiterer gestimmt werden würde?

KLEINIAS: Ganz offenbar, und namentlich wohl, lieber Freund, wenn sie ihm dabei recht viel Vergnügen verschaffte.

DER ATHENER: Darin, Bester, kann ich denn doch dem Kleinias nicht mehr folgen. Eben in einem solchen Verfahren liegt vielmehr für uns der allergrößte Verderb, denn gerade auf diesen Anfang der Erziehung kommt das Allermeiste an. Doch sehen wir zu ob ich Recht habe.

KLEINIAS: Nun, so sprich dich näher hierüber aus.

DER ATHENER: Über etwas nicht Geringes ist jetzt zwischen uns Beiden die Rede, drum gib auch du Acht, Megillos, und sei dann unser Schiedsrichter. Meine Ansicht ist nämlich diese, daß man, um das rechte Leben zu führen, weder allen Genüssen nachjagen, noch auch schlechterdings jeden Schmerz fliehen, sondern vielmehr jenem mittleren Gemütszustand nachtrachten müsse welchen ich so eben als Heiterkeit bezeichnete, eine Gemütsverfassung welche wir Alle mit Recht, der Seherstimme unseres Inneren folgend, auch der Gottheit beilegen. Ihr, behaupte ich, müsse daher auch Jeder von uns nachgehen welcher der Gottheit ähnlich werden will, und er darf daher weder für seine Person auf lauter Freuden erpicht sein, da er doch nicht einmal ein auch nur schmerzenfreies Leben führen wird, noch auch es ruhig mit ansehen daß sich andere Leute, alt oder jung, Männer oder Weiber, eben diesem uns so gewöhnlichen Hange ergeben, am Allerwenigsten aber, soweit er es nur irgend hindern kann, ein erst jüngst geborenes Kind. Denn am Festesten wurzelt gerade in diesem Lebensalter bei allen Menschen eine jede Gemütsverfassung durch die Macht der Gewohnheit ein. Ja ich möchte sogar, wenn ich nicht fürchten müßte man werde es für bloßen Scherz halten, behaupten, man müsse auch die Schwangeren unter allen Frauen am Meisten während des ganzen Jahres ihrer Schwangerschaft in Obhut nehmen, und dafür sorgen daß sie während dieser Zeit weder viele und heftige Freuden noch auch Schmerzen empfinden, sondern dieselbe in dem steten Bestreben sich einen heiteren, sanften und milden Sinn zu erhalten verleben.

[793 St.] KLEINIAS: Freund, du brauchst gar nicht erst den Megillos zu fragen, wer von uns Beiden Recht hat, sondern ich selber gebe dir zu daß Jedermann ein Leben voll ununterbrochener Freude so wie voll ununterbrochenen Schmerzes meiden und vielmehr stets eine gewisse Mittelstraße einschlagen müsse. Du hast also sehr richtig gesprochen und vernimmst daher mit Recht meinen Beifall.

DER ATHENER: Freilich, ganz mit Recht, Kleinias. Laß uns alle Drei nun aber zu Diesem noch Folgendes in Betracht ziehen.

KLEINIAS: Nun, was?

DER ATHENER: Daß dies Alles was wir so eben abgehandelt haben zu dem gehört was man insgemein ungeschriebene Gesetze nennt, und auch was man als erbliches Herkommen bezeichnet ist nichts Anderes als alle solche und ähnliche Bräuche. Und so hat denn auch der Satz, der sich uns bereits vorhin aufdrängte daß man sie zwar nicht zu förmlichen Gesetzen erheben, aber auch eben so wenig mit Stillschweigen übergehen dürfe, seine Richtigkeit. Denn sie sind die Bänder der ganzen Verfassung und bilden die Vermittelung zwischen den bereits bestehenden und schriftlich aufgezeichneten Gesetzen und denen welche noch neu gegeben werden, recht eigentlich als uralte und von den Vätern überkommene Gebräuche, welche, wenn sie nur das Richtige enthalten und sich durch Gewohnheit eingelebt haben, auch den alsdann schriftlich gegebenen Gesetzen in jeder Art eine feste Verkleidung gewähren und dagegen, wenn sie fehlerhaft sind und aus dem Kreise des Nichtigen heraustreten, dem weichenden Fundamente eines Hauses gleich bald selber in sich zusammenstürzen und in ihrem Falle auch alles Andere mit begraben was später noch so gut auf ihren Grundlagen erbaut ist, so daß Alles drüber und drunter geht, nachdem einmal jenes Alte selber zerfallen ist. In Erwägung dessen, Kleinias, müssen wir dir deinen Staat, da er noch neu ist, in allen seinen Teilen wohl verbinden und zu diesem Zwecke, so weit wir es vermögen, Nichts, weder Großes noch Kleines, außer Acht lassen von dem was man Gesetze oder Sitten und Gebräuche nennt. Denn das Alles sind die Dinge welche den Staat zusammenbinden, ohne einander aber haben weder die geschriebenen noch die ungeschriebenen Gesetze Bestand, und wir wollen uns daher nicht darüber wundern wenn unsere Gesetzgebung unter dem Zufluß vieler unbedeutend scheinender gesetzlicher Bräuche oder herkömmlicher Gewohnheiten anschwellen sollte.

KLEINIAS: Du hast ganz Recht, wir müssen dies in Erwägung ziehen.

DER ATHENER: Wenn man also das Dargelegte bei Knaben wie bei Mädchen bis zum Alter von drei Jahren sorgfältig in Ausübung bringt und nicht bloß beiläufig Gebrauch davon macht, so wird es den jungen Zöglingen von nicht geringem Nutzen sein. Für ein dreijähriges, auch vier-, fünf- und noch sechsjähriges Kindergemüt sodann bedarf es der Spiele, und dies ist zugleich das Alter in welchem man aufhören muß die Kinder zart zu behandeln, sondern sie vielmehr züchtigen muß, nur aber nicht auf schimpfliche Weise, sondern eben das was ich vorher in Betreff der Sklaven bemerkt habe, man müsse weder seinen Übermut bei ihrer Bestrafung auslassen und so den Zorn der Bestraften erregen, [794 St.] noch auch sie stets straflos lassen und dadurch verwöhnen, ist auch hier bei den Freien in Anwendung zu bringen. Gewisse Spiele sind den Kindern von diesem Alter so natürlich daß sie dieselben, sobald sie nur zusammengelassen werden, sich selber erfinden, und daher bedarf es nur dessen daß man sie alle vom dritten bis zum sechsten Jahre, soweit sie aus derselben Kome sind, regelmäßig an Einem und demselben Ort, und zwar bei den Heiligtümern ihrer Kome, zusammenkommen lasse. Nur aber sollen dabei die Wärterinnen die Aufsicht darüber führen daß sie nicht, wie es von Kindern dieses Alters zu fürchten steht, sich allzu mutwillig, sondern vielmehr artig betragen. Die Oberaufsicht über die Wärterinnen selbst aber und die gesamte Kinderschar soll für jede Phyle je einer von zwölf Frauen auf ein Jahr übertragen werden, welche von den Aufseherinnen der Eheleute je eine aus jeder Phyle, und zwar von gleichem Alter mit ihnen, zu erwählen sind, während die vorerwähnten Wärterinnen selber von den Gesetzverwesern ernannt werden sollen. Jede zu dieser Oberaufsicht bestellte hat ihr Amt dadurch zu verwalten daß sie täglich die Heiligtümer besucht und Jeden der sich ungeziemend beträgt bestraft, und zwar so daß sie diese Strafe gegen Sohn oder Tochter eines Sklaven oder Fremden selbst durch öffentliche Sklaven vollziehen läßt, das Kind eines Bürgers aber, wenn hinsichtlich der verdienten Strafe desselben sich Zweifel und Widerspruch erheben könnte, vor die Stadtaufseher zur gerichtlichen Entscheidung führt, wo dagegen die Sache unzweifelhaft steht, gleichfalls die Strafe selber zur Ausführung bringt.

Nach erreichtem sechstem Jahre sodann trenne man bereits die beiden Geschlechter und lasse Knaben mit Knaben und Mädchen mit Mädchen Umgang haben und halte von jetzt ab beide Teile zum Lernen an. Und zwar schicke man die Knaben zu den Lehrern im Reiten, Bogen-, Speer- und Schleuderschießen, aber, wenn sie irgend sich dazu anlassen, auch die Mädchen, wenigstens bis zur theoretischen Erlernung und zwar vornehmlich des Gebrauches der Waffen. Und zwar wird dabei ein jetzt in Bezug hierauf herrschender Übelstand fast von jedermann übersehen.

KLEINIAS: Und der wäre?

DER ATHENER: Daß Rechts und Links in Anbetracht der Hände zum Behufe einer jeden Tätigkeit von Natur an uns verschieden sein soll, während doch in Betreff der Füße und überhaupt der untern Glieder kein gleicher Unterschied hervortritt, sondern beide sich zu jeder Anstrengung gleich stark erweisen. Aber an den Händen sind wir Alle durch den Unverstand unserer Mütter und Wärterinnen gleichsam hinkend geworden, und während von Natur diese beiden Glieder so ziemlich von gleicher Stärke sind, haben wir selbst, indem wir in Folge der herrschenden Gewohnheiten sie nicht richtig gebrauchen lernten, sie verschieden gemacht. Bei vielen Dingen, ob man die Lyra in der linken Hand hält und das Plektron sodann mit der rechten gebraucht oder umgekehrt macht dies freilich nicht viel aus, aber solche Beispiele auch als Muster für andere Fälle in ganz ungehöriger Weise anwenden zu wollen, das ist so gut wie barer Unverstand. [795 St.] Das lehren uns die Skythen, bei denen es nicht Sitte ist bloß mit der Linken den Bogen von sich wegzuhalten und mit der Rechten den Pfeil abzudrücken, sondern das Eine wie das Andere eben so gut mit jeder von beiden Händen zu tun. Und noch gar viele ähnliche Beispiele in Betreff des Haltens der Zügel und anderer Dinge lassen sich anführen, aus denen man annehmen kann daß der Natur Gewalt angetan wird wenn man die Rechte schwächer als die Linke macht. Bei hörnernen Plektren und ähnlichen Instrumenten nun, wie gesagt, hat dies nicht viel zu bedeuten, aber im Kriege, wo man eiserne Werkzeuge zu gebrauchen hat, und überhaupt bei der Handhabung von Bogen und Wurfspieß und Allem was dahin gehört, ist es von großem Belange und zumal wenn man Waffen gegen Waffen führen soll. Da ist ein großer Unterschied ob man es gelernt hat beide Hände zu gebrauchen oder ob man es nicht gelernt hat, und zwischen Dem der darin geübt worden und Dem der darin ungeübt ist. Denn gleichwie ein im Pankration oder im Faustkampf oder Ringen vollständig Geübter nicht unvermögend ist auch links zu kämpfen und nicht hinkt oder fehlerhaft die Glieder nachschleppt, falls Einer von dieser Seite ihn angreift und ihn dadurch zwingt in sie seine Kraft zu legen, eben so, meine ich, muß man auch im Kampfe mit Waffen es für das Richtige erklären daß der mit zwei Gliedern, mit denen er sich sowohl verteidigen als auch Andere angreifen kann, versehene Mensch nach besten Kräften keins von beiden schlaff und ungeschickt lasse, und ähnlich hat man auch hinsichtlich aller andern Verrichtungen zu urteilen. Ja, wenn Einer mit einer Ausstattung wie Geryones oder Briareos von der Natur versehen wäre, so müßte er mit seinen hundert Händen hundert Geschosse entsenden lernen. Auf diesen Punkt müssen daher die weiblichen und männlichen Obrigkeiten ihre Aufmerksamkeit richten, jene indem sie bei der ersten Auferziehung und den Spielen der Kinder, diese indem sie beim Unterricht darauf sehen daß alle Knaben und Mädchen ihre Hände und Füße gleichmäßig gebrauchen lernen und, so weit es möglich ist, nicht durch Gewohnheiten Schaden nehmen an den Fähigkeiten ihrer Natur.

Man darf nun wohl behaupten daß alle Unterrichtsgegenstände sich in zwei Klassen verteilen lassen, indem alle die welche es mit dem Körper zu tun haben der Gymnastik, und alle die welche mit der Vervollkommnung der Seele, der musischen Kunst zuzurechnen sind. Von der Gymnastik nun gibt es wiederum zwei Teile, den Tanz und das Ringen.

Der Tanz hat wiederum zwei Arten, die eine welche die Worte der Muse nachahmt und dabei Würde und die einem freien Manne geziemende Haltung bewahrt, und die andere welche das Wohlverhalten oder mit anderen Worten die Behendigkeit und Schönheit aller Glieder und Teile des Körpers an sich zum Zwecke hat und demgemäß einem jeden von ihnen die angemessene Biegung und Dehnung beibringt, so daß eine rhythmische Bewegung sich richtig durch den ganzen Tanz verteilt und denselben begleitet. Was sodann das Ringen anlangt, [796 St.] so ist das was aus unnützem Ehrgeiz Antäos und Kerkyon in ihren Künsten, oder im Faustkampf Epeios und Amykos eingeführt haben, im gemeinsamen Kriege unbrauchbar und daher einer ehrenvollen Erwähnung unwert. Die Anstrengungen im aufrechten Ringen dagegen, jene Herauswindung des Halses, der Arme und Seiten welche mit einem geziemenden Ehrgeiz und einer geziemenden Anstrengung im Interesse der Stärke und Gesundheit des Körpers halber unternommen werden, diese zu Allem nützlichen Stücke darf man nicht liegen lassen, sondern, sobald wir auf diesen Punkt in den Gesetzen kommen, den Schülern und Denen die sie unterrichten sollen gebieten, diesen daß sie alle diese Dinge mit Eifer mitteilen, jenen daß sie diese Mitteilungen dankbar annehmen. Und ein Gleiches gilt auch von den Reigentänzen mimischer Art welche der Aufführung würdig sind, hier zu Lande von den Waffenspielen der Kureten und in Sparta der Dioskuren. Und auch bei uns hat die Jungfrau, unsere Schutzherrin, da sie an der Lustbarkeit des Reigentanzes sich erfreuen wollte, nicht gedacht mit leeren Händen, sondern im Schmucke ihrer vollen Waffenrüstung denselben auszuführen. Und so wird es denn auch gleich sehr Knaben und Mädchen geziemen dies Beispiel durchaus nachzuahmen, um so zu ehren was der Göttin gefällt, sowohl zum Gebrauche des Krieges als auch bei festlichen Gelegenheiten. Auch sollen die Kinder gleich von erster Jugend an, so lange sie noch nicht Kriegsdienste tun, allen Göttern zu Ehren zu Roß und in Waffen Prozessionen und Festaufzüge halten und dabei ihre Gebete zu Göttern und Göttersöhnen verrichten, indem sie zu diesem Zwecke die Bewegungen des Marsches und Tanzes bald beschleunigen und bald hemmen. Eben so sind auch Wettkämpfe und Vorübungen, wenn zu irgend einem Zwecke, so zu keinem andern anzustellen, auch sie werden im Kriege wie im Frieden dem Staate wie den einzelnen Häusern von Nutzen sein. Alle andern Leibesübungen aber, seien sie Spiele oder von ernster Natur, schicken sich nicht für freie Leute, lieber Megillos und Kleinias.

Und so habe ich denn jetzt mein zuerst geäußertes Vorhaben, die Gymnastik abzuhandeln, wohl so ziemlich erfüllt und sie vollständig abgehandelt. Solltet ihr aber etwas Besseres wissen, so tretet damit hervor.

KLEINIAS: Es dürfte nicht leicht sein, Freund, Anderes und Besseres über Gymnastik und Wettkämpfe zu sagen, so daß man dies liegen lassen könnte.

DER ATHENER: Gehen wir also zu dem zunächst sich Anschließenden, zu den Gaben der Musen und des Apollon über, so meinten wir zwar vorhin schon alles hierher Gehörige abgehandelt und nur noch die Bestimmungen über die Gymnastik übrig gelassen zu haben, jetzt aber wird es erst klar wie viel wir noch übergangen haben und daß dies gerade zuerst Allen hätte gesagt werden müssen. Gehen wir es also jetzt der Reihe nach durch.

KLEINIAS: Tun wir das.

[797 St.] DER ATHENER: Hört mich denn an, obwohl ihr freilich schon bisher mich immer aufmerksam angehört habt, allein bei etwas gar zu Seltsamem und Ungewöhnlichem muß sich der Sprecher erst wohl besinnen ob er auch reden, und der Hörer, ob er ihn auch anhören soll, und so steht es denn auch jetzt. Ich habe euch nämlich jetzt eine Ansicht vorzutragen welche mir viel Bedenken macht, dennoch aber will ich Mut fassen und nicht davon ablassen.

KLEINIAS: Nun, und die wäre, Freund?

DER ATHENER: Ich behaupte nämlich, daß noch Niemand in irgend einem Staate es richtig erkannt hat welch ein wichtiges Ding die Spiele für die Gesetzgebung sind, in so fern es im höchsten Grade von ihnen abhängt ob die Gesetze Bestand haben werden oder nicht. Denn wenn sie ihre bestimmte Ordnung haben und es festgesetzt ist daß dieselben Leute auch allezeit und in stets gleicher Art dieselben Spiele spielen und an denselben Lustbarkeiten sich ergötzen, so werden auch die gesetzlichen Verordnungen über ernsthafte Dinge unangetastet bleiben, werden dagegen sie beständig verändert und geneuert und ein steter Wechsel mit ihnen vorgenommen, so wird ja eben damit auch nie den jungen Leuten Dasselbe gefallen in Bezug auf die Haltung ihres Körpers und die gesamte Ausstattung ihrer Person, so daß hierin Ein für alle Male feststände was anständig und unanständig ist, sondern vielmehr der Jüngling welcher etwas Neues aufbringt und von dem Gewöhnlichen Abweichendes an der Haltung des Körpers oder der Farbe der Kleider und allem Dergleichen einführt wird sich einer besonderen Auszeichnung zu erfreuen haben, und so dürfen wir wohl mit guten Grund behaupten daß ein größeres Unheil einem Staate nicht widerfahren kann. Denn dies muß unvermerkt die Sitten der Jugend umwandeln und ihr alles Bestehende als wertlos und jede Neuerung als wünschenswert erscheinen lassen, und einen größeren Schaden, ich wiederhole es, kann es für keinen Staat geben als wenn solche Sprechweise und Denkart zur Geltung käme. Doch laßt mich näher erörtern wie groß mir dies Übel erscheint.

KLEINIAS: Du meinst, wenn man in einem Staate das Hergebrachte eben als solches tadelt?

DER ATHENER: Freilich.

KLEINIAS: Da wirst du bei dieser deiner Auseinandersetzung an uns keine unaufmerksame Zuhörer haben, sondern so geneigte als möglich.

DER ATHENER: Die Sache verdient es auch.

KLEINIAS: Nun, so sprich nur.

DER ATHENER: Wohlan denn, so laßt uns diesem Gegenstande eine größere Aufmerksamkeit zuwenden als wir sonst gewohnt sind, und Folgendes mit einander in Betracht ziehen. Daß nämlich Nichts so sehr alles Mögliche in Gefahr bringt, nur das Schlimme nicht, als die Veränderung, das zeigt sich an Wind und Wetter, an der körperlichen Lebensweise wie an der Gemütsart, kurz an allen Dingen, nur, wie gesagt, an den schlechten nicht. Ziehen wir den Körper in Betracht, wie er sich allmählich an jede Speise, an jeden Trank und an jede Anstrengung gewöhnt, wie er Anfangs zwar von ihnen angegriffen wird, mit der Zeit jedoch aus ihnen Fleisch und Blut in sich erzeugt welches ihnen entsprechend ist, [798 St.] und wie er dann, wenn er so mit dieser ganzen Lebensweise bekannt, vertraut und befreundet geworden ist, in Bezug auf Annehmlichkeit wie auf Gesundheit bei ihr am Besten fährt, wie er dagegen, wenn er einmal gezwungen wird eine solche ihm zusagende Lebensweise zu ändern, sofort von Krankheiten angegriffen wird und nur mit Mühe hergestellt werden kann, indem er allmählich auch an die neue Lebensweise sich wieder gewöhnt. Und eben dasselbe, muß man annehmen, gilt auch von der Denkweise und Gemütsart: an den Gesetzen in welchen eine jede Seele auferzogen ist und die sich durch eine glückliche Fügung der Gottheit viele und lange Zeit unverändert erhalten haben, so daß sich Niemand dessen erinnert oder auch nur davon gehört hat daß es jemals andere als diese gegeben hat, an den so bestehenden Gesetzen fürchtet und scheut sie sich irgend Etwas zu verändern. Und so muß denn der Gesetzgeber irgendwie ein Mittel ausfindig machen, durch welches dem Staate dieser Zustand zu Teil wird. Ich für meine Person finde dies nun in Folgendem. Insgemein sieht man, wie eben bemerkt, die Veränderungen in den Spielen der Jugend in der Tat als eine bloße Spielerei an und glaubt nicht daß der ernsteste Schaden aus ihnen hervorgehe, und so hält man dieselbe denn auch nicht hievon zurück, sondern gibt ihr nach und läßt sie gewähren, ohne zu bedenken daß notwendig Kinder welche andere Spiele spielen auch andere Männer werden als die früheren und, wenn sie dies geworden, notwendig auch einer anderen Lebensweise nachtrachten und, weil sie dies tun, auch andere Gesetze und Einrichtungen wünschen müssen, und Niemand besorgt daß so schließlich das eintreten werde was wir so eben als das größte Übel für die Staaten bezeichnet haben. Geringer nun aber dürften dabei die Schäden sein welche im Übrigen durch jene Veränderungen, wie in Bezug auf die körperliche Haltung, hervorgerufen werden, die häufigen Veränderungen dagegen in dem Urteil über die Sitten nach Seiten des Lobes und Tadels sind meines Erachtens die allerbedenklichsten und diejenigen welche man am Meisten verhüten muß.

KLEINIAS: Wie sollten sie nicht?

DER ATHENER: Wie nun? Glauben wir noch unseren früheren Erörterungen, daß die Rhythmen und die musische Kunst überhaupt Nachahmungen der Sitten besserer oder schlechterer Menschen seien? Oder sind wir jetzt anderer Ansicht?

KLEINIAS: Nein, unsere frühere Ansicht hat sich in keiner Weise geändert.

DER ATHENER: Werden wir folglich nicht behaupten daß kein Mittel unversucht bleiben dürfe, um es dahin zu bringen daß weder unsere Kinder es sich gelüsten lassen nach der Aufführung anderer Tänze und Gesänge, noch auch Jemand sie durch Befriedigung aller ihrer Lüste dazu verleitet?

KLEINIAS: Du hast ganz Recht.

[799 St.] DER ATHENER: Weiß nun Einer von uns hiezu ein besseres Mittel als das von den Ägyptern in Anwendung gebrachte?

KLEINIAS: Und was für ein Mittel ist dies?

DER ATHENER: Alle Tänze und alle Gesänge zu heiligen. Es werden nämlich zuerst alle Feste angeordnet und für das ganze Jahr berechnet welche zu dieser und welche zu jener Zeit und diesem oder jenem Gotte, Göttersohne oder Dämon veranstaltet werden sollen. Darauf aber wird zunächst von einzelnen dazu bestellten Bürgern festgesetzt welchen Gesang man bei dieser und welchen bei jener Opferfeierlichkeit singen und durch welche Reigentänze man sie verherrlichen soll, und wenn dies so festgestellt ist, dann sollen alle gemeinsam nach einem den Moiren und allen anderen Göttern dargebrachten Opfer einem jeden der Götter und götterähnlichen Wesen durch feierliche Trankspende seinen besonderen Gesang weihen. Und wenn sodann Jemand zu Ehren irgend eines Gottes andere Gesänge oder Chorreigen in Ausführung zu bringen sucht, so sollen die Priester und Priesterinnen in Gemeinschaft mit den Gesetzesverwesern nach heiligem Recht und bürgerlichem Gesetz ihn ausschließen, und wenn er diesem Ausspruche nicht gutwillig sich fügt, so soll jeder beliebige Bürger befugt sein ihn sein Leben lang wegen Frevels gegen die Götter vor Gericht zu ziehen.

KLEINIAS: Recht so.

DER ATHENER: Da wir nun aber einmal auf diesen Punkt zu sprechen gekommen sind, so wollen wir es dabei auch so machen wie es sich für Leute von unserem Alter ziemt.

KLEINIAS: Nun, wie meinst du denn eigentlich?

DER ATHENER: Selbst ein junger, geschweige denn ein alter Mann wird doch wohl, wenn er etwas ganz Fremdartiges und noch ganz Ungewohntes sieht oder hört, nicht gleich so beim ersten Anlauf dasselbe, wenn es zur Frage kommt, billigen, sondern vielmehr gleich wie Einer der an einen Kreuzweg kommt und nicht recht weiß welcher Weg nun der richtige ist und der daher zunächst Halt machen und, je nachdem er allein oder in Gesellschaft reist, mit sich selbst oder den Andern zu Rate gehen und nicht eher seine Wanderung fortsetzen wird bevor er sich in seiner Nachforschung vergewissert hat, wohin der Weg ihn führt. Ganz eben so müssen auch wir in dem gegenwärtigen Falle es machen: da jetzt ein von allem Gewohnten abweichender Gesetzvorschlag in Anregung gebracht ist, so müssen wir notwendigerweise uns die Sache erst genau überlegen und als Männer von unserem Alter nicht so leichthin uns einbilden daß wir über so wichtige Dinge gleich auf der Stelle eine klare und sichere Entscheidung zu treffen vermöchten.

KLEINIAS: Du hast vollkommen Recht.

DER ATHENER: Wir wollen uns daher Zeit lassen und erst nach hinlänglicher Prüfung der Sache unsere Endentscheidung über dieselbe fällen. Damit wir jedoch nicht unnötigerweise die Ausführung der sich zunächst an die jetzt vorliegenden Gesetze anschließenden Reihe verzögern, so wollen wir erst diese letztere zu Ende bringen, und mit Gottes Hilfe wird vielleicht eben diese Ausführung wenn sie ganz zu Ende gebracht ist, uns auch über diesen jetzt noch zweifelhaften Punkt zu hinlänglicher Klarheit verhelfen.

KLEINIAS: Dein Vorschlag ist gut, Freund, und so wollen wir es machen.

DER ATHENER: So möge denn dieses Seltsame beschlossen und die Gesänge für uns zu Gesetzen erhoben sein, gleichwie die Alten gewisse Gesänge zur Kithara Gesetzesweisen nannten, [800 St.] so daß vielleicht auch schon sie nicht so weit von unserm so eben angenommenen Satze entfernt gewesen sein mögen, sondern auch damals schon hie und da Einer wie im Schlafe oder auch selbst schon im vollen Wachen eine träumende Ahnung hievon hatte. Doch wie es damit auch stehen möge, folgendermaßen laute dieser unser Beschluß: Andere Gesänge oder andere Tanzbewegungen als die bei unseren jungen Leuten öffentlich eingeführten und geheiligten soll eben so wenig irgend Jemand in Ausführung bringen dürfen als irgend einem andern Staatsgesetze zuwiderhandeln. Und wer demgemäß handelt, den trifft keine Strafe, wer aber nicht gehorcht, den sollen in der so eben bezeichneten Weise die Gesetzesverweser, Priester und Priesterinnen dafür büßen lassen. Soll dies also in unserm Verfassungsentwurf als Gesetz feststehen?

KLEINIAS: Das soll es.

DER ATHENER: Wie aber soll man es anfangen um sich nicht vor aller Welt lächerlich zu machen wenn man ein solches Gesetz gibt? Ziehen wir also in Betreff dieses Punktes noch Folgendes in Betracht, ob es nämlich nicht das sicherste Mittel wäre wenn man die Sache den Leuten erst an einigen gebildeten Beispielen vorstellt. Ich denke mir unter andern etwa an folgendem Beispiel: Gesetzt, es vollbrächte jemand ein Opfer und hätte gerade die Opfergaben nach den Bräuchen des Gesetzes verbrannt, und da träte nun auf eigene Faust ihm irgend Jemand, sei es sein Sohn oder Bruder, zum Altar und zu den Opfern heran und ergösse sich in allen möglichen gottlosen Reden, würden wir da nicht behaupten daß er durch sie seinem Vater oder Bruder und allen übrigen Verwandten Betrübnis einflößen und ihrem Opfer ein böses Zeichen und eine schlimme Vorbedeutung bringen würde?

KLEINIAS: Wie anders?

DER ATHENER: Und doch begegnet das in unsern Landen geradezu fast allen Staaten. Denn wenn eine Behörde von Staatswegen ein Opfer dargebracht hat, so kommt darauf nicht Ein Chor, sondern eine ganze Menge von Chören, die nicht etwa fern vom Altare stehen bleiben, sondern sich unmittelbar in seine Nähe stellen und nicht selten mit allen möglichen unheiligen Reden das Opfer entweihen, indem sie mit den kläglichsten Worten, Rhythmen und Weisen die Gemüter der Zuhörer zu rühren suchen, und der von ihnen welcher die ganze opfernde Gemeinde auf der Stelle am Meisten zu Tränen gebracht hat, der trägt den Siegespreis davon. Wollen wir also diesen Gebrauch nicht abschaffen? Und wenn doch einmal die Bürger Zuhörer solcher Klagegesänge sein müssen, wollen wir da nicht lieber Dies auf diejenigen Tage beschränken welche nicht rein, sondern Unglückstage sind, und uns dann nicht lieber von auswärts gemietete Sängerchöre kommen lassen, gleich denen die zu den Leichenbegängnissen gemietet werden, um mit karischer Muse die Verstorbenen zu Grabe zu geleiten? Gerade so Etwas dürfte sich doch auch wohl für die Gesänge dieser Art schicken, und ebenso schickt sich zu Klagegesängen ein langes Trauerkleid und nicht Kränze und goldener Schmuck, überhaupt gerade das Gegenteil, um es kurz zu sagen und nur möglichst schnell von diesem Gegenstande abzukommen. Nur so viel will ich uns selbst noch einmal fragen, ob es uns hiernach gefalle aus dem obigen Beispiel zunächst folgendes Muster für unsere Gesänge zu entnehmen?

KLEINIAS: Nun?

DER ATHENER: Den Gebrauch von Worten guter Vorbedeutung; [801 St.] soll so auch unser Gesang durchaus und in jeder Weise von Allem fern gehalten werden was eine üble Vorbedeutung hat? Oder brauche ich nicht erst zu fragen, sondern kann dies so feststellen?

KLEINIAS: Gewiß, denn dies Gesetz geht mit Stimmeneinheit durch.

DER ATHENER: Welches wird nun nächst der guten Vorbedeutung das zweite Gesetz für unsere Muse sein? Nicht dies daß unsere Gesänge allemal Gebete zu den Göttern seien welchen wir gerade opfern?

KLEINIAS: Ohne Frage.

DER ATHENER: Das dritte Gesetz aber, denke ich, ist dies daß unsere Dichter zu bedenken haben wie Gebete Bitten sind welche man an die Götter richtet, und daher stets wohl darauf achten müssen daß sie nicht unvermerkt etwas Übles als etwas Gutes erbitten. Denn es wäre doch, sollte ich denken, lächerlich wenn man solche Gebete verrichtete.

KLEINIAS: Freilich.

DER ATHENER: Haben wir nämlich nicht eben zuvor durch unsere Erörterung uns davon überzeugt daß Silber- oder Goldes-Reichtum keinen festen Wohnsitz im Staate gewinnen dürfe?

KLEINIAS: Allerdings.

DER ATHENER: Worauf bringt uns nun aber dies? Doch wohl darauf daß es nicht aller Dichter Art ist zu unterscheiden was ein Gut und was es nicht ist? Wenn nun also ein Dichter und Tonsetzer in den Worten oder auch in der Tonweise hiergegen sich verfehlen sollte und verkehrte Gebete dichtete, so würde er damit bewirken daß unsere Bürger das Gegenteil erbitten, und das in einer so bedeutenden Sache. Gewiß, wie gesagt, wir würden nicht viele Fehler finden die größer sind als dieser. Wollen wir also auch dies als eins der Gesetze und Musterbilder für die Muse aufstellen?

KLEINIAS: Welches? Sprich dich deutlicher aus.

DER ATHENER: Dies daß der Dichter nichts Anderes als was dem vom Staate als gesetzlich, gerecht, schön und gut Anerkannten entspricht in seine Dichtungen aufnehmen und daß es ihm nicht gestattet sein soll dieselben irgend einem Privatmann früher mitzuteilen, als bevor sie den eigens zu diesem Zwecke eingesetzten Richtern und Gesetzverwesern mitgeteilt sind und ihre Billigung erhalten haben. Jene eigens dazu verordneten Richter aber werden bei uns wohl dieselben Personen sein mit Denen welche wir bereits zu Gesetzgebern im Gebiete der musischen Kunst erwählt haben und zum Vorsteher des Erziehungswesens. Wie also? Ich frage abermals, soll dies als drittes Gesetz und leitendes Muster und Vorbild bei uns feststehen? Oder wie scheint es euch?

KLEINIAS: Gewiß, es soll. Wie könnten wir anders darüber denken.

DER ATHENER: Demnächst wird es sich gebühren den Göttern in Verbindung mit den Gesetzen auch Hymnen und Lobgesänge zu singen, und nächst den Göttern auf dieselbe Weise auch den Dämonen und Heroen Gebete und Lobgesänge, wie sie sich für diese alle ziemen.

KLEINIAS: Allerdings.

DER ATHENER: Sodann aber wird sich sofort auch dies ohne alle Mißgunst zum Gesetze erheben lassen: daß es sich zieme auch einen jeden Bürger welcher mit Leib oder Geist rühmliche und mühevolle Taten vollbracht und den Gesetzen treulich gehorcht hat nach erreichtem Lebensende mit Lobgesängen zu ehren.

KLEINIAS: Freilich.

[802 St.] DER ATHENER: Dagegen die noch Lebenden mit Lobgesängen und Hymnen zu verherrlichen ist unsicher, denn man kann nicht wissen ob jemand seinen gesamten Lebenslauf auch mit einem rühmlichen Ende krönen wird. Im Übrigen aber soll diese Ehre Frauen und Männern die durch Tugend geglänzt gemeinschaftlich sein.

Die Gesänge und Tänze sollen nun hiernach folgendermaßen bestellt werden. Es gibt viele schöne alte Dichtungen und Musikstücke und eben so für den Körper Tänze, aus welchen sich das Angemessene und Passende für den neu zu begründenden Staat ohne Schwierigkeit auswählen läßt. Diese Auswahl aber soll eine zu einer solchen Prüfung eigens gewählten Kommission vornehmen, deren Mitglieder nicht unter fünfzig Jahren sein dürfen, und was ihr unter den alten Dichterwerken hiezu geeignet erscheint, das soll sie aufnehmen, was aber als ganz ungeeignet, das schlechterdings verwerfen, was endlich als mangelhaft, das soll sie von Neuem in die Hand nehmen und umgestalten, indem sie tüchtige Dichter und Musiker hinzuzieht, um von der poetischen Begabung derselben Gebrauch zu machen, den Liebhabereien und Neigungen derselben aber außer einigen wenigen keinen Einfluß gestatten, sondern ihnen einfach die Absichten des Gesetzgebers ausdeuten und dergestalt Tanz, Gesang und Chorreigen möglichst nach ihrer eigenen Einsicht gestalten. Denn wenn eine zuvor nicht hinlänglich geregelte Schöpfung der Muse der Regel und Ordnung teilhaftig gemacht wird, so wird es tausendmal vortrefflicher als wenn ihr zugleich auch die den Sinnen schmeichelnde Muse beigegeben wird, denn ein angenehmer Eindruck kann dennoch gleich sehr von beiden Arten ausgehen. Wenn nämlich Jemand von Kindheit auf bis in sein gesetztes und verständiges Alter lediglich mit der maßvollen und wohlgeregelten Muse Verkehr gepflogen hat, so wird er eben so gut, wenn er die entgegengesetzte hört, widrig von ihr berührt werden und sie als pöbelhaft bezeichnen, als wie Der welcher umgekehrt bei der dem großen Haufen zusagenden und den Sinnen schmeichelnden aufgewachsen ist jene andere frostig und reizlos nennt, so daß also, wie gesagt, in bezug auf das Angenehme oder Unangenehme keine von beiden Etwas voraus hat, wohl aber zwischen ihnen der Unterschied obwaltet daß die eine die durch sie Gebildeten veredelt, die andere aber verdirbt.

KLEINIAS: Wohl gesprochen.

DER ATHENER: Ferner nun wird es erforderlich sein nach einem festen Muster Gesänge welche für das weibliche und solche welche für das männliche Geschlecht sich eignen zu unterscheiden und demgemäß auch Harmonie und Rhythmos ihnen anzupassen. Denn es wäre ein arger Fehler wenn die ganze Harmonie und der ganze Rhythmos eines Lieder in der Art verfehlt wäre daß in ihnen der Charakter des Geschlechtes, wie er sich in jedem Liede aussprechen soll, nicht zum Ausdrucke käme. Es ist daher nötig auch hierfür bestimmte Formen vorzuschreiben, und zwar ist es nicht genug sie beiden Geschlechtern so zuzuteilen wie sie notwendigerweise ihnen anhaften, sondern man muß die dem weiblichen geziemenden aus jenem Naturunterschiede beider Geschlechter noch besonders deutlich machen. Wenn daher eine erhabene Musik, welche Mut und Tapferkeit atmet, dem männlichen Charakter entspricht, so ist nicht bloß gesetzlich festzustellen, sondern auch den Bürgern noch besonders auseinanderzusetzen daß eben hiernach diejenige welche mehr zum Ausdrucke der Sittsamkeit und Besonnenheit neigt auch mehr dem weiblichen angemessen ist. [803 St.] So viel also über diese Anordnung.

Demnächst ist nun über den musischen Unterricht und die Überlieferung der musischen Fertigkeit, über Lehrart, Schüler und die Zeit dieser Unterweisung zu sprechen. Gleichwie nun ein Schiffbaumeister den Anfang seines Baues mit Kiel und Rippen macht, um so zunächst dem Schiffe seine Form im Umriß vorzuzeichnen, ähnlich scheine auch ich mir in der Tat den Kiel unseres Lebensfahrzeuges zu zimmern, indem ich die verschiedenen Formen die unser Leben nach unsern verschiedenen Gemütsarten annimmt festzustellen versuche. Und so will ich denn sorgfältig in Betracht ziehen, welches Verhalten und welche Gemütsart uns am Besten durch die See dieses Lebens dahingleitet. Freilich sind die Angelegenheiten der Menschen eines großen und ernsten Eifers nicht wert, aber gleichwohl muß man ihn auf dieselben verwenden, wenn dies auch nichts Beglückendes für uns hat; und da wir einmal auf diesen Gegenstand geführt sind, so dürfte es uns ziemen ihn auch in angemessener Weise durchzuführen. Vielleicht aber möchte man mich nicht ohne Ursache fragen, was ich eigentlich meine.

KLEINIAS: Ja freilich.

DER ATHENER: Ich wollte nur sagen, man müsse ein ernstes Bemühen nur ernsten Dingen zuwenden, nicht aber solchen die es nicht sind, nach der Natur der Dinge aber sei demgemäß der Gott allein aller ernsten und beseligenden Beschäftigung wert, und der Mensch dagegen, wie wir schon einmal bemerkt haben, sei nur ein kunstreiches Spielwerk welches der Gott sich gebildet, ja in Wahrheit bestehe eben hierin sein Vorzug. Dieser Eigenschaft gemäß sollte also jeder Mensch, so Mann wie Weib, sein ganzes Leben zu einer ununterbrochenen Kette der schönsten Spiele machen, und so innerhalb desselben ganz anderen Grundsätzen folgen als es jetzt geschieht.

KLEINIAS: Wie so?

DER ATHENER: Jetzt geht man von dem Grundsatze aus, man müsse ernste Dinge der Spiele wegen betreiben, denn man sagt ja, das Kriegswesen, als ein ernstes Ding, müsse um des Friedens willen wohl bestellt sein. In Wahrheit aber hat uns der Krieg noch nie zu einem Spiele werden oder eine Bildung mit sich bringen wollen die der Rede wert wäre, weder vorzeiten noch jetzt, noch auch wird es in der Zukunft anders sein, und doch sind Spiel und Bildung nach dem eben Bemerkten für uns der einzige wahrhaft ernste Gegenstand; und so muß vielmehr ein Jeder, so viel und so gut es ihm möglich ist, im Frieden seine Lebenszeit zubringen. Was ist also das Richtige? Daß man sein Dasein durchlebt unter dem Spielen gewisser Spiele, unter Opfer, Gesang und Tanz, so daß man die Götter sich geneigt machen, die Feinde aber abzuwehren und im Kampfe zu besiegen im Stande ist. Von welcher Beschaffenheit aber diese bestimmten Gesänge und Tänze sein sollen, um diesen doppelten Erfolg zu haben, dafür sind teils im Obigen die Muster angegeben und gleichsam der Weg hiezu gebahnt, teils muß man indem man diesen verfolgt, dem Worte des Dichters vertrauen:

[804 St.] "Anderes wird dein Herz, Telemachos, selber dir sagen,

Anderes dir eingeben ein Himmlischer. Ohne der Götter

Huld nicht bist du geboren, noch ohne sie, denk' ich, erzogen."

In derselben Gesinnung denn sollen auch unsere Zöglinge die bisher gegebenen Regeln für hinlänglich halten, indem sie im Übrigen darauf bauen daß ein Dämon oder Gott ihnen eingeben werde welche Opfer und Chorreigen sie diesem oder jenem Gotte und wann sie dieselben in festlichem Spiele darzubringen haben, um sich so die Huld der Himmlischen zu erwirken und ihr Leben der Natur gemäß hinzubringen, eingedenk dessen daß sie wenig Anderes als bloße Marionetten sind, die am wahrhaften Sein nur geringen Anteil haben.

MEGILLOS: Aber, Freund, du setzest uns ja das Menschengeschlecht ganz und gar herab.

DER ATHENER: Wundere dich darüber nicht, Megillos, sondern halte mir das zu Gute, denn indem ich das Menschengeschlecht gegen Gott hielt und von diesem Eindrucke ganz überwältigt ward sprach ich mich so aus wie ich es getan habe. Mag denn unser Geschlecht, wenn du meinst, nicht so ganz gering zu schätzen, sondern einiges Ernstes wert sein.

Doch fahren wir fort. Es ist bereits gesagt worden daß Turnanstalten und öffentliche Schulen an drei Orten in der Mitte der Stadt erbaut werden sollen, und ebenso an drei andern außerhalb der Stadt Reitschulen und geräumige Plätze, auf denen die Jugend Bogenschießen und das Werfen der anderen Geschosse erlernen und einüben soll, und wenn dieser Gegenstand vorhin noch nicht hinlänglich abgehandelt sein sollte, so soll es jetzt geschehen und zugleich Gesetze darüber gegeben werden. Für jedes dieser Fächer sollen fremde Lehrer gegen Besoldung in Dienst genommen werden, um sich in unserer Stadt niederzulassen und in allen Gegenständen welche sich auf den Krieg und auf die musische Kunst beziehen die Schüler zu unterrichten. Und zwar soll es nicht etwa dem Vater freigestellt sein seine Kinder die Schule besuchen zu lassen oder nicht, so daß diejenigen bei denen dies nicht der Fall ist ohne die in ihr mitgeteilte Bildung verbleiben, sondern man behauptet ganz mit Recht daß die Kinder mehr dem Staate als ihren Eltern angehören und daß derselbe daher Erwachsene sowie Kinder zwingen darf sich möglichst diejenige Bildung anzueignen welche er für erforderlich hält. Und eben das was mein Gesetz über das männliche, das ist es geneigt auch über das weibliche Geschlecht zu verordnen, so daß auch dieses ganz die gleichen Übungen durchzumachen hätte. Und ich werde mich dabei nicht vor dem Einwande fürchten daß Reiten und Turnen doch nur für Männer und nicht für Weiber sich schickten. Vielmehr bin ich nach alten Sagen eines Anderen überredet und weiß ja auch geradezu daß es auch jetzt noch Weiber am Pontos von zahlloser Masse gibt, Sauromatinnen geheißen, welche ganz in gleicher Weise wie die Männer dazu angehalten und [805 St.] darin geübt sind gemeinsam mit diesen nicht bloß die Rosse zu besteigen, sondern auch den Bogen und alle anderen Waffen zu handhaben. Ich halte mich aber nicht bloß an diese Beispiele sondern auch an folgende Überlegung. Wenn anders doch die Sache wirklich ausführbar ist, so kann Nichts törichter sein als daß, wie es doch überall bei uns zugeht, nicht alle Männer und alle Weiber einmütig und mit aller Macht denselben Beschäftigungen sich zuwenden. Denn auf diese Weise bleibt in Folge der Vernachlässigung gleicher Leistungen und Anstrengungen beinahe die Hälfte der im Staate vorhandenen Gesamtkraft ungenützt, und es könnte das Doppelte von dem erreicht werden was jetzt erreicht wird; und das ist doch ein merkwürdiger Fehler in der Gesetzgebung.

KLEINIAS: So scheint es freilich, aber es streitet das was du da sagst doch gar zu sehr wider die bestehenden Gewohnheiten.

DER ATHENER: Ich sagte ja bereits, du solltest mich nur ruhig meinen Entwurf zu Ende führen lassen, und wenn ich glücklich damit fertig geworden, dir dann auswählen was dir am Besten gefällt.

KLEINIAS: Du hast ganz Recht, und ich mache mir jetzt selber Vorwürfe darüber daß ich dir diesen Einwurf gemacht habe. Fahre also weiter fort, wie es dir genehm ist.

DER ATHENER: Ja, wenn, wie schon gesagt, die Ausführbarkeit jener Sache nicht durch Tatsachen hinlänglich bewiesen wäre, dann möchte man diesem meinem Vorschlage Manches entgegensetzen können, so aber müßte Der andere Gründe ausfindig machen welcher ihn verwerfen wollte, bis dahin aber gehe ich nicht von der Vorschrift ab daß an der Bildung und Beschäftigung des männlichen Geschlechts auch das weibliche möglichst bei uns Teil haben soll. Denn man kann nicht wohl anders als folgendermaßen hierüber denken: gesetzt, dieselbe Lebensweise soll nicht in allen Stücken den Weibern mit den Männern gemeinschaftlich sein, so müssen wir ihnen doch wohl eine andere bestimmte Lebensordnung vorschreiben?

KLEINIAS: Notwendigerweise.

DER ATHENER: Welche von den Lebensordnungen die jetzt für sie bestehen sollen wir nun also jener Gemeinschaftlichkeit vorziehen welche wir so eben ihnen vorschrieben? Etwa die welche bei den Thrakern und vielen andern Völkern den Weibern zugewiesen ist, daß sie das Land bebauen, Rinder und Schafe hüten und überhaupt geradeswegs Sklavendienste verrichten müssen? Oder die wie sie bei uns Athenern und allen Bewohnern unseres Landes besteht, indem wir es bekanntlich folgendermaßen mit ihnen machen? Wir tragen Alles was wir besitzen, so zu sagen, auf Einen Haufen zusammen und übergeben dann den Weibern die Aufsicht hierüber, so wie das Regiment über den Webstuhl und alle Wollarbeit. Oder wollen wir, Megillos, die lakonische Sitte, welche zwischen diesem Beiden die Mitte hält, [806 St.] in unserm Staate einführen? Sollen die Mädchen also an den gymnastischen und musischen Übungen Teil nehmen und die Frauen keineswegs mit Wollarbeit beschäftigt sein, aber dennoch ein tätiges, und zwar ein nicht in niedrigen Geschäften tätiges, Leben führen, vielmehr am Dienste der Götter und an der Verwaltung des Hauses so wie an der Kindererziehung, man darf wohl sagen, den halben Anteil haben, dagegen aber von allen Kriegsübungen gänzlich ausgeschlossen sein, so daß sie auch nicht einmal dann wenn die Not sie dazu treibt für ihr Vaterland und ihre Kinder zu kämpfen Bogen und Wurfgeschoß gleich den Amazonen in Gemeinschaft mit den Männern kunstgerecht zu handhaben verstehen, noch auch Schild und Speer nach dem Muster ihrer Göttin zu ergreifen und so der Verheerung ihrer Heimat tapfer zu widerstehen und dem Feinde, wenn nichts Schlimmeres, so wenigstens Furcht beizubringen, wenn derselbe sie so in guter Ordnung aufziehen sähe? Und die Sauromatinnen vollends würden sie, wenn sie auf diese Weise lebten, ganz und gar nicht nachzuahmen wagen, vielmehr würden diese, mit ihnen verglichen, wie Männer gegen Weiber erscheinen. Wer also eure Gesetzgeber in diesem Punkte loben will, der mag es tun, meine Ansicht wird nicht anders lauten: wer ein Gesetzgeber sein will sei es nicht halb, sondern ganz, und sehe wohl zu daß er nicht, indem er für das männliche Geschlecht zwar in allen Stücken Sorge trägt, die Lebensweise des weiblichen aber an keine Gesetze bindet und so dasselbe ruhig dem Aufwand und der Zügellosigkeit sich hingeben läßt, dem Staate nur die Hälfte des Glückes welches er ihm sonst gewähren könnte verschafft.

MEGILLOS: Was tun wir, Kleinias? Sollen wir es dulden daß uns der Gast so gegen Sparta zu Felde zieht?

KLEINIAS: Ja, denn da wir ihm einmal Redefreiheit zugestanden haben, so müssen wir ihn nun auch erst seine ganze Gesetzgebung ruhig zu Ende führen lassen.

MEGILLOS: Du hast Recht.

DER ATHENER: So wird es denn jetzt meine Sache sein weiter fortzufahren?

KLEINIAS: Allerdings.

DER ATHENER: Was für eine Lebensweise sollen denn nun Leute führen die mit allem Notwendigen genügend versehen sind und daher Künste und Gewerbe Anderen zu treiben überlassen und den Anbau ihrer Ländereien Sklaven übertragen haben, welche von dem Ertrag desselben immer zuerst ihnen so viel zu liefern verpflichtet sind als für ein mäßiges Leben hinreicht, bei denen ferner gemeinschaftliche Mahlzeiten eingerichtet sind, an besonderen Tischen für die Männer und an anderen nahe dabei für ihre Familien, für Mütter und Töchter, obrigkeitliche Personen männlichen und weiblichen Geschlechts aber das Amt haben täglich dabei über das Ganze die Aufsicht zu führen, das Betragen der Tischgenossen zu überwachen und zuletzt die Tafel aufzuheben, [807 St.] worauf sie denn zusamt der ganzen Tischgesellschaft nach einem den Göttern denen gerade die Nacht und der Tag geheiligt sind dargebrachten Trankopfer sich nach Hause begeben? Ist nach dieser Einrichtung keine weitere Tätigkeit übrig die für solche Leute erforderlich und angemessen wäre? Oder würden sie nicht vielmehr sonst in ihrem Leben doch nur den Tieren gleichen die auf der Weide gemästet werden? Und das kann man ihnen doch nicht wünschen, wenn man Recht und Ehre vor Augen hat, so wie denn auch wer also lebt seinem natürlichen Schicksale nicht entgehen kann. Das natürliche Schicksal eines trägen und in sorgloser Faulheit sich mästenden Geschöpfes aber pflegt zu sein daß es die Beute eines anderen Geschöpfes wird welches tapferen Sinnes aufreibende Mühen und Anstrengungen nicht gescheut hat. Wollten wir nun freilich hierbei unsere Zwecke, so wie wir bisher den Anlauf dazu genommen haben, mit äußerster Konsequenz weiter verfolgen, so dürften wir damit schwerlich zum Ziele gelangen, so lange noch Weiber, Kinder, Häuser und alle sonstigen Besitztümer abgesondertes Privateigentum bleiben, wenn indessen auch nur die Forderungen wie wir sie jetzt aufstellen, die dem zunächst kommen, bei uns erfüllt werden, so mag auch das schon in hohem Grade befriedigen. Wir also behaupten daß für Leute von solcher Lebensweise eine Beschäftigung übrig bleibt welche keineswegs die geringfügigste und verächtlichste, sondern vielmehr die allerbedeutendste und daher von einem gerechten Gesetze ihnen vorgeschrieben ist. Denn wenn schon das Leben Dessen der nach dem pythischen und olympischen Siege trachtet durchaus keine Muße für alle anderen Geschäfte darbietet, so gilt vollends ein Gleiches in verdoppeltem, ja in noch größerem Maße von dem Leben Dessen von dem man mit vollen Recht sagen darf daß er alle seine Sorge auf die Vervollkommnung seines Leibes und seiner Seele richtet. Denn ein Solcher darf sich durch keine Nebenbeschäftigung hindern lassen seinem Körper die erforderliche Pflege und Übung zu gewähren und seiner Seele die erforderlichen Kenntnisse und Sitten beizubringen, und der Tag und die ganze Nacht sind fast nicht hinreichend, wenn man eben lediglich dies zu seiner Aufgabe macht, es hierin zur Vollendung und zu einem wirklich befriedigenden Ziele zu bringen. Unter so bewandten Umständen muß daher allen freien Bürgern eine Anordnung gegeben werden, wie sie die ganze Zeit fast von einem Morgen und Sonnenaufgang ununterbrochen bis zum anderen hin tagtäglich verwenden sollen. Wollte darum freilich ein Gesetzgeber alle jene kleinen und stets sich wiederholenden Vorkommenheiten in der Verwaltung des Hauswesens herzählen und namentlich darüber Verfügungen treffen wie weit es für Leute welche unablässig und mit aller Sorgfalt für das Wohl des ganzen Staates wachen sollen sich geziemt ihre nächtliche Ruhe zu verkürzen, so würde er ungebührlich verfahren. Es genügt vielmehr zu sagen, es müsse von Allen für schimpflich und eines freien Mannes unwürdig gehalten werden wenn irgend einer der Bürger, wer er auch sein möge, irgend einmal die ganze Nacht schlafend zubringen und [808 St.] sich nicht allem Hausgesinde gegenüber stets als der Erste welcher erwacht und aufsteht zeigen wollte, mag man nun dies zu einem förmlichen Gesetz oder aber nur zu einem festen Brauche erheben. Und eben so auch daß die Hausfrau von ihren Dienerinnen sich wecken lasse, anstatt selbst alle Anderen zu wecken, das muß für sie vor Sklaven und Sklavinnen wie vor ihren Kindern, ja, wo möglich, vor dem ganzen Hause als beschimpfend gelten. Und indem sie so einen Teil der Nacht wachend zubringen, sollen Alle denselben dazu benutzen um mancherlei Stücke der bürgerlichen und häuslichen Geschäfte abzumachen, nämlich die obrigkeitlichen Personen die ersteren, die Hausherren und Hausfrauen aber die letzteren. Denn viel Schlaf taugt seiner Natur nach weder für Leib noch Seele und ist für alle deren Verrichtungen hinderlich. Hat man doch von einem Schlafenden nicht mehr als von einem Toten. Wem daher sein Leben und der Gebrauch seiner Vernunft von Wert sind, der wacht so lange als möglich und genießt nur so viel des Schlafes als es zu seiner Gesundheit erforderlich ist, das aber ist eben nicht viel, wenn man seine Natur nur richtig gewöhnt, und Obrigkeiten welche des Nachts im Staate wachen sind den Bösen, Feinden wie Bürgern, ein Schrecken, den Gerechten und Besonnenen dagegen ein Gegenstand der Bewunderung und Ehrfurcht und so sich selbst und dem ganzen Staate zum Nutzen.

Eine so zugebrachte Nacht flößt aber zu allem Angeführten auch noch den Gemütern aller im Staate Lebenden Mut und Tapferkeit ein. Wenn nun aber dann der Morgen graut und der Tag wieder anbricht, müssen bereits die Knaben sich in die Schule begeben. Denn so wenig Schafe oder anderes Herdenvieh ohne Hirten, ebenso wenig dürfen Sklaven ohne Herren und Kinder ohne Aufseher gelassen werden, und das um so weniger weil kein Tier so schwer zu leiten ist als ein Knabe. Denn gerade weil ein Quell vernünftigen Denkens in ihm sprudelt, ist er in dem Maße in welchem das Wasser desselben noch nicht in feste Bahnen geleitet ist hinterlistiger, heftiger und übermütiger als jedes Tier. Daher muß er auch auf mehr als Eine Weise im Zaume gehalten werden, erstens, sobald er nicht mehr unter der unmittelbaren Obhut der Mutter und Wärterin steht, durch den Sklaven den man ihm zum Aufseher gibt, um ihn nicht bei seiner unmündigen Kindheit sich selbst zu überlassen, sodann aber durch die Lehrer jedes Faches und durch die Unterrichtsgegenstände selbst, sofern er eines freien Mannes Kind ist, sofern es sich aber dabei um Sklaven handelt, so soll noch überdem jeder freie Mann welcher darüber zukommt das Recht wie die Pflicht haben ein solches Sklavenkind so wie einen Aufseher, ja er soll auch dies haben einen Lehrer zu züchtigen, wenn einer von ihnen einen Fehltritt begeht. [809 St.] Und sollte er diese verdiente Züchtigung nicht erteilen, so soll nicht allein seine bürgerliche Ehre im höchsten Maße darunter leiden, sondern wer in solchem Falle bestrafen sollte und doch nicht bestraft oder es nicht auf die gehörige Weise tut, der soll überdies noch unter die besondere Aufsicht desjenigen unter den Gesetzverwesern gestellt werden welcher zur obersten Leitung der Jugend gewählt ist und ein Mann sein muß welcher einen scharfen Blick besitzt und sich die Erziehung der Knaben aufs Äußerste angelegen sein läßt, um so ihre Natur zu bilden und sie stets auf den Weg des Guten nach der Anleitung des Gesetzes zu lenken. Aber nun diesen Mann selbst wie wird ihn das Gesetz uns hinreichend erziehen? Denn bis jetzt hat es ja hierüber noch Nichts gesagt was einen klaren Gesamtüberblick und befriedigenden Abschluß gewährte, sondern zum Teil hat es wohl das Nötige angegeben, zum Teil aber auch noch nicht, und es muß doch nach Möglichkeit für ihn Nichts zurücklassen, sondern ihn in allen Stücken unterrichten, damit er es wieder allen Andern verkünden und ihr Erzieher werden möge. Es wurde nämlich zwar wohl bereits auseinandergesetzt, nach welchen Mustern Chorreigen, Lieder und Tänze ausgewählt, verbessert und geheiligt werden sollen, aber über diejenigen Schriften welche in ungebundener Rede abgefaßt sind, und darüber welche und auf welche Weise die Zöglinge sie durch dich, bester Aufseher der Knaben, in die Hände bekommen sollen, haben wir noch nicht gesprochen. Und ebenso weißt du aus unserem Entwurfe bereits was sie in Absicht auf den Krieg zu erlernen und einzuüben haben, aber nicht so steht es mit Dem was erstlich den Unterricht im Schreiben und Lesen und sodann den im Leierspiel und ferner in der Rechenkunst, soweit wir dieselbe als notwendig erachten, anlangt, so wie mit alle Dem was ein Jeder zum Zwecke der Haus- und Staatsverwaltung und als Vorbereitung auf die Kriegswissenschaften sich aneignen müsse, und mit Dem was zu eben diesem Zwecke brauchbar ist von der Kenntnis von den Umläufen der Himmelskörper, Sonne, Mond und Sterne, nämlich damit was in Ansehung von dem Allem in einem jeden Staate angeordnet werden muß. Du verstehst doch was ich unter dem zuletzt Erwähnten meine? Nämlich die Verteilung der Tage in die Zeiträume der Monate und der Monate in jedes einzelne Jahr, so daß die Jahreszeiten, die Opfer und Feste alle in der ihnen zukommenden Weise bestimmt und der Ordnung der Natur gemäß gefeiert werden und so den Staat beständig in Leben und Regsamkeit erhalten und durch dies Alles teils den Göttern ihre gebührende Ehre erwiesen, teils die Kenntnisse der Menschen auf diesem Gebiete vermehrt werden. Dies Alles ist dir, Freund, noch nicht hinlänglich vom Gesetzgeber erörtert worden. Merke also auf und höre was wir dir zunächst zu sagen haben.

Indem wir zunächst behaupteten daß wir in Betreff der Schrift und des Unterrichtes im Schreiben und Lesen dich nicht genügend aufgeklärt hätten, welchen Vorwurf wollten wir uns wohl damit machen? Den, dir noch nicht auseinandergesetzt zu haben ob man, um ein Bürger wie er sein soll zu werden, diesen Unterricht vollständig durchmachen soll oder umgekehrt sich gar nicht mit demselben zu befassen braucht. Und das Gleiche gilt von dem Unterricht im Leierspiel. Wir setzen demnach jetzt fest daß man sich mit diesen Gegenständen zu beschäftigen hat. Und zwar soll die Unterweisung der Knaben im Lesen und Schreiben mit dem zehnten Jahre beginnen und etwa drei Jahre dauern, [810 St.] und sodann ist das zurückgelegte dreizehnte Jahr die rechte Zeit um mit dem Leierspiel den Anfang zu machen, und dies ist dann weitere drei Jahre fortzusetzen und es soll weder dem Schüler selbst gestattet sein den Gesetzen zuwider, sei es aus Lernbegier eine längere oder aus Abneigung eine kürzere Zeit auf die Beschäftigung mit diesen Gegenständen zu verwenden, noch auch seinem Vater sie ihn darauf verwenden zu lassen, und wer dawider handelt, der soll von den bald hernach zu erwähnenden Knabenehren ausgeschlossen werden. Was ist es nun eigentlich was die Knaben während dieser Zeit zu lernen und ihre Lehrer sie zu lehren haben? Das merke jetzt zuerst. Mit den Übungen im Lesen und Schreiben muß es so weit gebracht werden bis jeder Schüler Beides kann, jedoch es zu einer besonderen Geläufigkeit und Schönheit hierin zu bringen, darauf muß bei Knaben verzichtet werden welchen die Natur das Talent versagte binnen der für diese Fächer bestimmten Jahre so weit zu kommen. Was nun aber die schriftstellerischen Erzeugnisse anlangt welche nicht für musikalische Begleitung bestimmt und teils noch in Versmaßen abgefaßt, teils sogar ohne rhythmische Abschnitte sind und daher mit Recht Schriften in ungebundener Rede heißen, so fern sie ja der Harmonie und des Rhythmos entbehren: so sind von manchen aus der großen Zahl gefährlicher Schriftsteller viele gefährliche Schriften dieser Art auf uns gekommen. Was wollt ihr nun mit diesen Schriften machen, ihr trefflichsten aller Gesetzverweser? Oder was soll euch der Gesetzgeber mit ihnen zu machen vorschreiben, wenn er anders das Richtige verordnen will? Ich glaube daß er dieserhalb nicht wenig in Verlegenheit sein wird.

KLEINIAS: Du willst damit wohl sagen, Freund, daß du selber dieserhalb in Verlegenheit bist.

DER ATHENER: Du hast richtig vermutet, Kleinias, und da ihr ja meine Mitarbeiter an dem Werke der Gesetzgebung seid, so darf ich euch nicht vorenthalten was mir an demselben leicht und was schwer zu beseitigen scheint.

KLEINIAS: Wie nun? Warum bist du denn hier der ausgesprochenen Ansicht und was ficht bei dieser Sache dich an?

DER ATHENER: Ich will es euch sagen. Es ist gewiß nicht leicht tausend und aber tausend Stimmen entgegen zu reden.

KLEINIAS: Aber wie? Scheint es dir denn nur Unbedeutendes und Weniges zu sein was in der bisher von uns festgestellten Gesetzgebung den Ansichten der großen Menge zuwider läuft?

DER ATHENER: Sehr richtig bemerkt. Du ermunterst mich also, wie ich glauben muß, den bisher eingeschlagenen Weg, der Vielen verhaßt, aber auch, und vielleicht nicht Wenigeren, Anderen lieb geworden, und sind diese Anderen die geringere Zahl, so sind es doch sicherlich nicht die Schlechteren, allen Gefahren trotzend und zuversichtlich eben jenen Weg der Gesetzgebung, wie er in den gegenwärtigen Reden verzeichnet ist, weiter zu verfolgen und nicht nachzulassen.

KLEINIAS: Allerdings.

DER ATHENER: Gut, so werde ich auch nicht nachlassen. Und so bringe ich es denn zur Sprache daß Tausend und aber Tausend behaupten, es gehöre mit zur richtigen Erziehung der jungen Leute daß man sie mit den Werken unserer zahlreichen Dichter, die in Hexametern und Trimetern und allen möglichen sonstigen Versmaßen teils Ernstes, teils Komisches gedichtet haben, nähre und sättige, [811 St.] indem man sie häufig dem Vortrage derselben zuhören und Vieles aus ihnen, ja ganze Dichter auswendig lernen lasse. Und Andere wieder haben auserlesene Stellen und auch einige ganze Stücke zusammengestellt und behaupten nun daß man diese auswendig lernen und dem Gedächtnis einprägen müsse, wenn anders man einen Schatz von Kenntnissen und Erfahrungen sammeln und so zur Weisheit und Tugend gelangen wolle. Heißest du mich also diesen Leuten jetzt freimütig sagen worin sie Recht haben und worin nicht?

KLEINIAS: Allerdings.

DER ATHENER: Wie soll ich mich also über dies Alles befriedigend erklären, ohne doch viele Worte zu machen? Ich denke etwa so, und das wird mir wohl auch Jedermann zugeben, daß jeder dieser Dichter Vieles enthält was Lob, Vieles aber auch was Tadel verdient. Und wenn sich die Sache so verhält, so darf ich wohl behaupten, die allzu große Belesenheit in ihnen sei gefährlich für die Jugend.

KLEINIAS: Und was würdest du daher dem Gesetzverweser raten?

DER ATHENER: Worin meinst du?

KLEINIAS: Darin, was er sich denn zum Muster nehmen soll um nach ihm der Jugend Dies zu lesen erlauben und Jenes zu verbieten. Sprich und sage deine Ansicht hierüber ohne Scheu.

DER ATHENER: Mein bester Kleinias, ich glaube da einen glücklichen Fund gemacht zu haben.

KLEINIAS: Nun, in wie fern?

DER ATHENER: In so fern ich nicht so ganz um ein solches Muster in Verlegenheit bin. Wenn ich nämlich die Reden die wir vom frühen Morgen an bis zu diesem Augenblick geführt haben überblicke, so scheinen sie mir nicht ohne einen Anhauch göttlicher Begeisterung und durchaus einer Dichtung ähnlich zu sein. Und vielleicht ist es gar kein Wunder daß diese meine eigenen Reden, indem ich sie in ihrer Gesamtheit mit Einem Blicke überschlage, mir gar sehr gefallen. Denn unter Allem was ich in ähnlicher Weise in Versen oder in Prosa ausgedrückt gelesen oder gehört habe ist mir Nichts begegnet was mir so passend und für junge Leute zu hören geeignet erschienen wäre. Und so weiß ich denn auch dem Gesetzesverweser welcher zugleich Knabenaufseher ist kein besseres Muster als dies zu empfehlen, dergestalt daß er den Lehrern anbefehle den Knaben teils eben dieses selbst vorzutragen, teils auch was ihm beim Lesen der Dichter und Prosaiker etwa damit Verwandtes oder dem Ähnliches aufstößt, und daß er auch wenn ihm in mündlicher Unterredung Etwas vorkommt was von dem gleichen Geiste mit diesen Reden und noch nirgends in schriftlicher Aufzeichnung zu finden ist es nicht außer Acht lasse, sondern dafür sorge daß es der Schrift übergeben wird. Und so soll er denn zunächst die Lehrer dazu anhalten dies Alles erst selber zu lernen und sodann ihren Schülern zu empfehlen, und diejenigen Lehrer welche keinen Geschmack hieran finden soll er nicht als Gehilfen beim Unterricht und der Erziehung der Jugend zulassen, sondern nur solche die über den Wert jener Dinge mit ihm gleich denken zu diesem Zwecke verwenden und ihnen die Jugend anvertrauen. [812 St.] Also mag meine Rede über die Lehrer im Lesen und Schreiben und über den Gebrauch der Schriftwerke selber lauten und hiermit beschlossen sein.

KLEINIAS: Halten wir uns an die von uns zu Grunde gelegten Ansichten, so tritt meines Erachtens keine dieser Bestimmungen gegen sie in Widerspruch, ob wir aber überhaupt auf dem richtigen Wege sind, das mag sich schwerlich mit Gewißheit sagen lassen.

DER ATHENER: Nun, lieber Kleinias, das eben wird natürlich erst dann deutlicher werden wenn wir, wie schon mehrmals gesagt, zum Ende unserer ganzen Gesetzgebung gelangt sind.

KLEINIAS: Freilich.

DER ATHENER: Nachdem wir nun so von dem Schreib- und Leselehrer gehandelt haben, wird jetzt wohl vom Zitherlehrer zu reden sein.

KLEINIAS: Ja wohl.

DER ATHENER: Diesen Lehrern werden wir nun, denke ich, eingedenk dessen was wir bereits in einem früheren Teile unserer Unterredung ausgemacht haben, das ihnen Zukommende in bezug auf ihre Lehrtätigkeit und überhaupt ihr ganzes Erziehungsfach zuweisen.

KLEINIAS: In welchem Teile meinst du denn?

DER ATHENER: Ich denke doch, wir sagten daß die sechzigjährigen Sänger des Dionysos ein ganz besonders feines Gefühl sowohl für die Rhythmen als auch für die verschiedenen Tonarten haben müßten, um unterscheiden zu können ob eine musikalische Nachahmung gelungen oder nicht gelungen ist und ob sie die Stimmungen eines edlen oder eines unedlen Gemütes zur Darstellung bringt, und sodann die der letzteren Art zu verwerfen und dagegen die der ersteren unter die öffentlich anerkannten Musikstücke aufzunehmen, durch welche die Gemüter der Jugend gleichsam besprochen und dazu angereizt werden jenen Greisen im Streben nach der Tugend nachzufolgen und nachzueifern.

KLEINIAS: Ja, so ist es.

DER ATHENER: Deshalb soll also der Zitherlehrer sowohl wie sein Zögling, um den deutlichen Klang der Saiten nicht zu verdunkeln, die Töne der Leier so anwenden daß sie mit denen der Stimme dieselben sind. Was dagegen die Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit des Leierspiels hervorbringt, indem die Saiten und der Sänger verschiedene Weisen vortragen oder auch indem man Verkleinerung der Intervalle mit Vergrößerung derselben und Schnelligkeit mit Langsamkeit und Höhe mit Tiefe im Unisono und in der Oktave verbindet oder endlich mannigfache Abwechselungen in den Rhythmen mit den Tönen der Leier verknüpft, alles Das soll man jungen Leuten nicht vorbringen welche binnen drei Jahren in aller Schnelligkeit das Nötigste aus der musischen Kunst erlernen sollen. Denn solche einander widerstrebenden und verwirrenden Dinge erschweren das Lernen, während man dasselbe den jungen Leuten vielmehr möglichst erleichtern muß, denn es sind der Lehrgegenstände nicht wenige und sie sind nicht von geringem Umfang welche ihnen unentbehrlich sind und die wir daher ihnen vorschreiben müssen, wie sie der weitere Verlauf unserer Auseinandersetzung denn auch demgemäß darlegen wird. Dies also soll die Sorge sein welche in Betreff der musischen Kunst bei uns dem Erzieher obliegt. Welches und von welcher Art aber die Texte und Melodien sein müssen welche die Chorlehrer einüben sollen, [813 St.] das Alles ist gleichfalls schon im Früheren von uns festgesetzt worden, indem wir bestimmten daß für jedes Fest ein besonderer, demselben entsprechender Gesang geheiligt werden solle, um so der Bürgerschaft einen heilsamen Genuß und eben damit wahrhaften Nutzen zu verschaffen.

KLEINIAS: Auch das ist ganz richtig.

DER ATHENER: Und als vollkommen richtig soll demnach der für die musische Kunst erwählte obrigkeitliche Leiter auch diese Lehren von uns empfangen und sich zu Herzen nehmen, und möge das Glück ihm hold sein! Wir aber haben jetzt in Betreff des Tanzes und der gesamten Leibesübungen dem früher Gesagten noch Einiges hinzuzufügen, und zwar, gleichwie wir die noch rückständigen Vorschriften über den Unterricht in der musischen Kunst nachlieferten, eben so wollen wir jetzt auch in Betreff der Gymnastik verfahren. Knaben und Mädchen also sollen tanzen und turnen lernen. Nicht wahr?

KLEINIAS: Ja.

DER ATHENER: Und folglich werden die Knaben Tanzmeister und die Mädchen Tanzmeisterinnen haben müssen, wenn anders ihre Übungen wirklich zweckmäßig vor sich gehen sollen?

KLEINIAS: Freilich werden sie das müssen.

DER ATHENER: Und wiederum müssen wir den Vorsteher des Erziehungswesens zu Hilfe rufen, einen Mann der so freilich viel zu tun haben und, indem er so zu der Sorge über das Musikwesen auch noch die über das Turnwesen übernimmt, nicht viel Muße behalten wird.

KLEINIAS: Aber wie wird er denn überall als ein Mann von höherem Alter einer so umfänglichen Tätigkeit nachzukommen im Stande sein?

DER ATHENER: Leicht, Freund. Denn das Gesetz hat ihn ermächtigt und soll ihn ermächtigen zur Unterstützung bei derselben von seinen Mitbürgern und Mitbürgerinnen hinzuzuziehen wen er will. So viel aber wird er selbst wissen, welche von ihnen er hiezu wählen muß, und sich schon hüten hierbei sich zu vergreifen, denn er ist ja ein Mann von Einsicht, welcher die Wichtigkeit seines Amtes zu ermessen weiß und Ehrfurcht vor derselben besitzt und daher stets den Gedanken festhält daß, wenn die Jugend wohl erzogen ist und wird, auch alles Andere für uns wohl von Statten geht, und daß dagegen, wo dies nicht der Fall ist, es sich gar nicht sagen läßt, die daher auch wir nicht ausdrücklich angeben wollen, weil wir in Betreff unseres neuen Staates die Ansicht Derer ehren welche gar nicht genug auf Vorbedeutungen achten können. Vieles nun ist von uns auch in Betreff des Tanzes und der gymnastischen Übungen bereits festgestellt worden, denn zu den letzteren gehören meiner Ansicht nach auch alle militärischen Leibesübungen, so die Übungen im Bogenschießen und in der Handhabung von allen möglichen Arten von Wurfgeschoß, ferner in der Schildführung und im Kampfe mit voller Waffenrüstung, ferner im Manövrieren in Schlachtordnung, in jeder Art Marschbewegung und im Aufschlagen von Lagern, so wie in Allem was man zu lernen hat um ein guter Reiter zu werden. Zu diesem Allem aber braucht es öffentliche, vom Staate besoldete Lehrer, und nicht bloß die Knaben und Männer der Stadt müssen ihre Schüler, sondern auch die Mädchen und Frauen dürfen dieser Dinge nicht unkundig sein. Vielmehr müssen sie, so lange sie noch Mädchen sind, jede Art von Waffentanz und Kampfspiel lernen, [814 St.] als Frauen aber in den Manövern, Märschen und Heeresaufstellungen und im Niederlegen und Ergreifen der Waffen geübt werden, wenn aus keinem anderen Grunde, so doch um, wenn einmal die ganze Mannschaft die Stadt verlassen und auf einen auswärtigen Feldzug ausrücken müßte, sie wenigstens dazu geschickt wären ihre Kinder zu schützen und die Stadt zu bewahren. Oder auch den entgegengesetzten Fall angenommen, denn man darf Nichts verschwören, es rückte von auswärts ein Heer von gewaltiger Macht und Stärke gegen uns an, seien es nun Griechen oder Nichtgriechen, und versetzte uns in die Notwendigkeit für unsere Stadt selbst zu kämpfen, da wäre es doch wohl der größte Mangel unserer Staatseinrichtungen wenn dann unsere Weiber so schmählich erzogen sind daß sie nicht einmal den Vögeln gleichkommen, die für ihre Jungen auch gegen die stärksten Tiere den Kampf aufzunehmen und zu sterben und für sie überhaupt jede Gefahr zu ertragen bereit sind, sondern daß sie vielmehr gleich zu den Heiligtümern hinstürzen und sich um die Altäre und Tempel drängen und so das Menschengeschlecht in den Ruf bringen daß es von Natur feiger als jedes Tier ist.

KLEINIAS: Beim Zeus, Freund, dergleichen ist nicht bloß ein Nachteil, sondern auch eine Schande für jeden Staat in dem es so hergeht.

DER ATHENER: Wollen wir also das Gesetz geben daß die Weiber wenigstens bis so weit die kriegerischen Übungen nicht versäumen, sondern daß alle Staatsgenossen, Bürgerinnen wie Bürger, sich dieselben angelegen sein lassen sollen?

KLEINIAS: Ich für meinen Teil stimme dir bei.

DER ATHENER: Über das Ringen nun haben wir zum Teil schon gesprochen, was aber meines Erachtens gerade das Wichtigste ist haben wir noch nicht bestimmt, und es ist auch nicht leicht es bloß mit Worten klar zu machen und ohne daß man es zugleich mit dem Körper vormachte. Und so wollen wir uns denn auch ein entscheidendes Urteil darüber ersparen, bis die Ausführung selbst unsere Rede begleiten kann. Dann wird sie auch das bereits zuvor von ihr Mitgeteilte näher bestimmen und namentlich zeigen daß ein Ringen wie sie es verlangte unter allen Bewegungen am Meisten mit der des Kampfes im Felde verwandt ist und daß man jenes um dieses und nicht diesen um jenes willen üben müsse.

KLEINIAS: Da hast du ganz Recht.

DER ATHENER: So lassen wir es denn also in Betreff der Geschicklichkeit im Ringen bei dem bisher Gesagten für jetzt bewenden. Was nun aber die sonstigen Bewegungen des gesamten Körpers anlangt, deren größten Teil man unter dem Namen des Tanzes zusammenfassen darf, so hat man zwei Arten, die eine welche die Bewegungen der schöneren Körper veredelnd, und die andere welche die der häßlicheren verzerrend nachahmt, und wiederum sowohl von dieser letzteren, komischen, als auch von jener ersteren, ernsten Gattung zwei Unterarten anzunehmen. Von der ersteren leiht nämlich die eine Unterart den Regungen einer tapferen, die andere denen einer besonnenen Seele, die in maßvoller Ruhe sich ihres Glücks freut, wie sie in den Bewegungen schöner Körper sich darstellen, Ausdruck, dort also dergestalt daß diese letzteren als im Kampfe begriffen oder in gewaltsame Anstrengungen verwickelt erscheinen. Will man die letztere Art nach ihrem Wesen bezeichnen, [815 St.] so muß man sie die friedliche nennen, für die entgegengesetzten kriegerischen Tänze aber wird Pyrrhiche die richtige Bezeichnung sein, und sie ist somit eben so wohl die Nachahmung aller jener vorsichtigen Bewegungen, durch welche man allen Schlägen und Würfen bald durch ein Ausbiegen nach der Seite und bald nach rückwärts, bald wieder durch Springen, sei es in die Höhe, sei es mit Niederbücken, auszuweichen sucht, als auch der entgegengesetzten, wie sie zu den Stellungen erforderlich sind die man beim Bogenschießen oder beim Schleudern der Wurfgeschosse annimmt, oder wie man sie macht wenn man Streiche aller Art zu führen sucht. Die aufrechte und straff angespannte Stellung nun wird dabei, so fern eine Nachahmung edelgearteter Körper und Seelen stattfinden soll, welche meistens in der natürlichen Richtung der Glieder des Körpers auszuführen ist, auch die rechte sein und diejenige die verkehrte bei welcher das Gegenteil eintritt. Und eben so ist bei jenem Tanze friedlicher Art bei einem jeden der ihn ausführt darauf zu sehen ob man sich seiner in einer Weise wie sie für den Reigen vorzüglich gesetzlicher und wohlgesitteter Männer sich ziemt und somit richtig und schön ist fortwährend befleißige oder dies wider die Natur vernachlässige. Von diesen Tänzen von bestimmtem und unzweifelhaftem Charakter muß man nun aber vor allen Dingen die von ungewissem trennen. Welches sind nun diese letztern und wie hat man sie von jenen ersteren zu unterscheiden? Alle die bacchisch oder von ähnlicher Art sind und in denen Personen unter dem Namen von Nymphen, Panen, Silenen und Satyrn auftreten und als trunken dargestellt werden, desgleichen die Tänze in denen Sühnungs- und Reihungszeremonien ausgeführt werden, diese ganze Klasse von Tänzen ist weder friedlicher noch kriegerischer Art, ja es ist überall schwer zu bestimmen welches ihre eigentliche Absicht sei. Doch scheint mir so viel sicher zu sein daß wir sie von den friedlichen wie von den kriegerischen Tänzen ausscheiden und sie eben damit für eine Art erklären dürfen mit welcher der Staat nichts zu tun hat, folglich aber auch sie hier bei Seite zu lassen und wieder zu jenen beiden andern Klassen, die zweifelsohne in unsern Bereich gehören, zurückzukehren haben. Diejenige von diesen nun welche der unkriegerischen Muse eignet und eine Reihe von Tänzen umfaßt die man zu Ehren der Götter sowie Göttersöhne aufführt ist, unter dem Gesichtspunkt daß diese alle dem Gefühl eines glücklichen Zustandes ihren Ursprung verdanken, als eine einzige Gesamtgattung zu betrachten; doch läßt sich dieselbe wiederum in zwei Arten zerlegen, indem ein Teil dieser Tänze das Gefühl von Leuten ausdrückt welche aus Not und Gefahren sich in glückliche Verhältnisse gerettet haben, was die Äußerung einer lebhafteren Freude erfordert, ein anderer aber das von solchen bei denen ihre bisherige Wohlfahrt fortbesteht oder auch noch gewachsen ist, wobei der Ausdruck einer gemäßigteren Freude am Orte sein wird, und zwar wird in solchen Lebenslagen bei Jedermann die stärkere Freude sich auch in stärkeren und die minder starke auch in minder starken Bewegungen des Körpers ausdrücken, so jedoch daß der Gemäßigtere und in Tapferkeit Geübte einen minder heftigen, [816 St.] der Feige aber und an Maßhalten nicht Gewöhnte einen stärkeren und heftigeren Wechsel der Bewegungen zu Tage treten lassen wird. Überhaupt aber wird Niemand beim mündlichen Vortrag, sei es nun Gesang oder Rede, seinen Körper ganz und gar in Ruhe zu halten im Stande sein, und in dieser Nachahmung des Gesprochenen oder Gesungenen durch die Körperbewegungen liegt der Ursprung der Tanzkunst, nur aber daß diese Bewegungen bei dem einen Menschen angemessen, bei dem andern dagegen unangemessen sind. Wer nun die Benennungen betrachtet welche die Dinge schon von Alters her haben, der muß viele von ihnen bezeichnend und naturgemäß finden und sie dieserhalb loben, und so steht es denn auch mit Einer welche die Tänze von Leuten bezeichnet die sich in glücklicher Lage befinden und dabei ihre Freude zu mäßigen wissen: wer immer der Erfinder dieser Namen gewesen sein mag, der hat jedenfalls den Namen Emmeleia so wohl und den Gesetzen der musischen Kunst so entsprechend als nur irgend möglich gewählt und so vernunftgemäß als nur irgend möglich jener ganzen Klasse von Tänzen beigelegt und demgemäß zwei Gattungen der schönen Tänze unterschieden und beiden einen geziemenden und passenden Namen, den kriegerischen den der Pyrrhiche und den friedlichen den der Emmeleia zuerteilt. Alle diese Dinge nun soll der Gesetzgeber in Mustern darlegen und der Gesetzverweser aufsuchen, und wenn er dergestalt alles Nötige aufgefunden, so soll er den Tanz mit der musischen Kunst in Verbindung setzen und so für alle Feste, ja für jedes Opfer den angemessenen Gesang und Tanz verordnen und so diesem Allem eine feste und geheiligte Ordnung geben, dann aber in der Folge sich weder mit dem was zum Tanze, noch mit dem was zum Gesange gehört die geringste Veränderung mehr erlauben, sondern die Gemeinde soll im gleichen Genusse der gleichen Freuden stets unverändert dieselbe bleiben und alle Bürger und in möglichster Gleichheit ein gutes und glückseliges Leben führen.

Damit wären denn nun die Bestimmungen vollständig getroffen, wie diejenigen Tänze beschaffen sein müssen in denen ein schöner Körper und eine edle Seele sich darstellt. Was nun aber die komische Darstellung unschöner Körper und Gemüter und lächerlicher Zerrbilder derselben in Rede und Gesang oder Tanz oder in irgend einer andern Weise anlangt, so ist es zwar nötig dieselben kennen zu lernen und ihnen zuzuschauen, denn ohne das Lächerliche kann man auch das Ernste nicht begreifen, so wie sich überhaupt eine Einsicht in das Entgegengesetzte immer nur aus dem Entgegengesetzten gewinnen läßt, aber Beides selbst in Ausübung zu bringen wird eben so wenig zulässig sein, wenn anders man auch nur einen geringen Grad von Tugend zu erreichen gedenkt. Vielmehr ist gerade deswegen auch die Kenntnis des Lächerlichen notwendig, um nicht selber aus Unwissenheit in Rede oder Tat etwas Lächerliches zu begehen, wo es doch gar nicht nötig wäre, und daher sind die Darstellungen desselben vielmehr Sklaven oder gemieteten Fremdlingen aufzutragen, wogegen ein ernstes Bemühen nie auch nur im Geringsten darauf verwandt werden und kein freier Bürger und keine freie Bürgerin sich je dabei betreten lassen soll Unterricht in den Künsten dieser Art zu nehmen. Alle Nachahmungen dieses Schlages müssen ihnen vielmehr immer als etwas ganz Neues erscheinen. [817 St.] Das sei denn also unser Gesetz und Urteil über alle die Spiele welche auf Lachen ausgehen und die wir insgemein mit dem Namen der Komödie zu benennen pflegen.

Wenn aber von den Dichtern der Tragödie in unseren Landen, die man ja als erste Dichtung zu bezeichnen pflegt, irgend welche in unsere Stadt kommen und die Anfrage an uns richten sollten: liebe Fremdlinge, dürfen wir eure Stadt und euer Gebiet betreten oder nicht? Und dürfen wir unsere Dichtungen einbringen und euch vorführen? Oder wie habt ihr bei dergleichen zu verfahren beschlossen? Was würden wir darauf wohl diesen gottbegeisterten Männern richtig erwidern? Mir scheint, Folgendes, ihr trefflichsten Fremdlinge, wir selbst sind Dichter eines Dramas welches, so weit wir vermögen, das schönste und beste werden soll. Unsere ganze Staatsverfassung besteht nämlich in der Nachahmung des schönsten und besten Lebens, und eine solche soll eben nach unsern Begriffen das wahrhafte Drama sein. So sind wir denn Beide Dichter in dem gleichen Fache, und ihr habt uns als Nebenbuhler in der Kunst und als Mitbewerber um den Preis des schönsten Dramas anzusehen. Ein solches ist nämlich allein eine wahrhafte Gesetzgebung ins Werk zu setzen geeignet, und wir sind der Hoffnung daß sie uns dies leisten werde. Wähnet daher nicht daß wir es euch je ohne Weiteres gestatten werden eure Schaubühnen auf unserem Markte aufzuschlagen und eure Schauspieler, die mit ihren schönen Stimmen die unsrigen übertönen würden, auftreten und öffentlich zu Knaben und Weibern und zum ganzen Volke reden und über dieselben Einrichtungen nicht die gleiche Ansicht wie wir verkündigen zu lassen, sondern meistens und in den meisten Dingen das gerade Gegenteil. Vielmehr müßten ja wohl wir und der ganze Staat vollständig von Sinnen sein wenn wir euch dies Alles zu tun verstatteten und nicht vielmehr zuvor durch die Behörde prüfen ließen ob ihr Schickliches gedichtet habt und was sich ziemt öffentlich vorgetragen zu werden. Drum, ihr Söhne und Sprößlinge der schmeichelnden Musen, werden wir erst eure Gesänge neben den unsrigen unsern Staatshäuptern zur Prüfung übergeben, und erst wenn diese finden daß die euren gleiche oder sogar noch bessere Grundsätze enthalten euch einen Chor zur Aufführung bewilligen, im entgegengesetzten Falle aber, liebe Freunde, werden wir dazu nicht vermögend sein.

Dies Alles also soll bei uns in Ansehung des gesamten Chorreigens und der Einübung desselben die vom Gesetz geheiligte Sitte ein, dergestalt daß eine andere für die Sklaven, eine andere für die freien Bürger besteht, wenn es anders auch euch so gefällt.

KLEINIAS: Wie sollte es uns denn anders gefallen?

DER ATHENER: Nun sind für die Freien noch drei Unterrichtsgegenstände übrig: einer nämlich ist das Rechnen und die Zahlenkunde, und wiederum als einer muß zweitens die Kunst Länge, Breite und Tiefe zu messen betrachtet werden, [818 St.] und der dritte ist endlich die Lehre vom Umlauf der Gestirne in ihrem durch die Natur geordneten gegenseitigen Verhältnis desselben. Doch braucht dies Alles nicht in seiner vollen Genauigkeit von der großen Mehrzahl durchgemacht zu werden, sondern nur von einigen Wenigen, und wer diese sind, wollen wir im weiteren Verlauf am Schlusse ausführen, weil es so am Zweckmäßigsten sein wird. Vielmehr was für den täglichen Gebrauch hievon notwendig ist und wie Dies am Richtigsten zu bestimmen ist, das nicht zu wissen ist für Jedermann eine Schande, daß er aber Alles mit Genauigkeit durchforsche ist nicht leicht, ja sogar unmöglich ins Werk zu setzen. Jenes Notwendige hievon läßt sich aber andererseits auch gar nicht bei Seite werfen, vielmehr scheint der welcher zuerst jenes Sprichwort erfand, mit der Notwendigkeit kämpfe selber ein Gott nicht, eben dies im Sinne gehabt zu haben, denn doch wohl nur von solchen Notwendigkeiten welche göttlicher Natur sind, denke ich, kann dabei die Rede sein, und in Betreff derer von menschlicher Art, welche die Leute gewöhnlich bei der Anwendung dieses Satzes ins Auge fassen, ist derselbe das Einfältigste was sich sagen läßt.

KLEINIAS: Was für Zweige des Wissens, Freund, tragen denn nicht eine bloß menschliche, sondern göttliche Notwendigkeit an sich?

DER ATHENER: Diejenigen, meine ich, ohne deren Ausübung und Bekanntschaft keines jener höheren Wesen den Menschen je ein Gott oder Dämon oder Heros sein könnte welcher der Sorge für sie mit ernstem Streben obzuliegen fähig wäre. Und wie weit ist nun nicht ein Mensch davon entfernt in solcher gottähnlichen Weise zu wirken der nicht weiß was Eins und Zwei und Drei und überhaupt was Gerade und Ungerade ist, der überall nicht zu zählen und Tag und Nacht nicht zu berechnen versteht und des Laufes der Sonne, des Mondes und der übrigen Gestirne unkundig ist! Daß also dies Alles nicht notwendige Lerngegenstände für Denjenigen sein sollten der auch nur irgend Etwas von dem Herrlichsten was wir wissen können kennen lernen will, Das auch nur zu denken würde ja große Torheit sein. Was man aber hievon im Einzelnen und wie viel und wann man es lernen müsse, und was man hievon in Verbindung mit einander oder gesondert von einander zu erlernen habe, so wie überhaupt der gesamte Zusammenhang dieser Dinge, Das ist es was man zuerst richtig erfaßt haben muß bevor man zu anderen Studien übergeht und sie nach Anleitung dieser betreibt. Denn so hat es naturgemäß die Notwendigkeit festgestellt, von welcher wir behaupten daß keiner der Götter weder jetzt mit ihr kämpft noch je mit ihr kämpfen wird.

KLEINIAS: Es scheinen mir, Freund, diese deine Behauptungen allerdings richtig und naturgemäß zu sein.

DER ATHENER: Die Sache verhält sich auch sicher nicht anders, lieber Kleinias. Wohl aber ist es schwer über jenes in dieser Weise Voranzustellende die gesetzlichen Bestimmungen zu treffen, und so wollen wir denn, wenn es dir recht ist, die genauere Ausführung derselben auf eine andere Zeit verschieben.

KLEINIAS: Ich glaube, Freund, du fürchtest unsere mit unserer Lebensgewohnheit gegebene Unerfahrenheit in solchen Dingen. Daran tust du aber nicht recht. Versuche nur dich zu erklären und halte um dieser Sorge willen Nichts zurück.

[819 St.] DER ATHENER: Ich fürchte freilich auch das was du da jetzt anführst, weit mehr aber noch scheue ich solche Leute welche eben diese Studien betrieben, aber nicht auf die rechte Weise betrieben haben. Denn eine gänzliche Unwissenheit ist gar nicht so bedenklich und schlimm und keineswegs das größte Übel, sondern die bloße Gelehrsamkeit und Vielwisserei ohne richtige Methode ist ein weit größerer Schaden.

KLEINIAS: Du hast Recht.

DER ATHENER: So viel also von jeder dieser Wissenschaften, werden wir behaupten, müssen alle Freien lernen als auch die große Masse der Kinder in Ägypten gleich mit den Buchstaben lernt. Denn was zuerst das Rechnen anlangt, so gibt es ja allerlei einfach erfundene Lehrmittel für die Kinder, um sie spielend lernen zu lassen und ihnen das Lernen zur Freude zu machen: man läßt die Kinder Äpfel oder Kränze unter sich, und zwar bald unter mehrere bald unter wenigere von ihnen, dergestalt verteilen daß jeder eine gleiche Zahl bekommt; man läßt sie bei ihren Faustkämpfen und ihrem Ringen sich gegen einander abpaaren und den dabei Übrigbleibenden zurückstellen, so daß alle dabei wechselseitig mit einander, und zwar in der gewöhnlich dabei beachteten Ordnung an die Reihe kommen; man läßt sie ferner spielend Trinkschalen von Gold, von Erz, von Silber und von anderen Massen unter einander mischen oder auch ihre ganze Anzahl auf irgend eine Weise verteilen, kurz sie, wie gesagt, so die für den täglichen Gebrauch notwendige Anwendung der Zahlen aus ihren Spielen durch die Anpassung derselben an diese entnehmen, und so sind dann diese Spiele den Lernenden eine nützliche Vorübung für die Aufgabe ein Heer in Reihen und Züge zu ordnen und ins Feld zu führen und wiederum das Hauswesen zu verwalten, und machen überhaupt die Menschen sich selbst nützlicher und aufgeweckter. Außerdem aber entledigen sie sich auch hinsichtlich der Messungen von Allem was Länge, Breite und Tiefe hat einer in allen Menschen von Natur vorhandenen eben so lächerlichen als schmählichen Unwissenheit.

KLEINIAS: Welche und was für eine meinst du denn?

DER ATHENER: Mein lieber Kleinias, habe ich doch selber erst spät davon gehört und mich dann nicht wenig darüber verwundert wie es mit uns in diesem Betracht bestellt ist, nämlich meiner Ansicht nach nicht wie es Menschen, sondern vielmehr wie es Schweinen geziemt, und ich schämte mich daher nicht bloß über mich selbst, sondern auch für alle Griechen.

KLEINIAS: Nun, weswegen denn? So sage uns doch was du meinst, Freund.

DER ATHENER: Ich will es dir sagen. Oder vielmehr ich will dich frageweise darauf hinführen. Beantworte mir nur einige wenige Fragen. Du weißt doch wohl was Länge ist?

KLEINIAS: Freilich.

DER ATHENER: Und ferner auch, was Breite?

KLEINIAS: Gewiß.

DER ATHENER: Und doch auch daß dies Zweierlei ist und das Dritte dazu die Tiefe?

KLEINIAS: Wie sollte ich nicht?

DER ATHENER: Dünkt dir nun nicht dies Alles gegeneinander meßbar zu sein?

KLEINIAS: ]a.

DER ATHENER: Es dünkt dich nämlich, denke ich, [820 St.] daß es möglich sei Länge gegen Länge und Breite gegen Breite und ebenso auch die Tiefe ihrer Natur nach zu messen.

KLEINIAS: Ja, gar sehr.

DER ATHENER: Wenn es nun aber einige Fälle gibt in denen dies nicht gar sehr, ja nicht einmal gar schwer, sondern über überhaupt ganz und gar nicht möglich ist, und es also vielmehr nur in gewissen Fällen angeht, in andern aber nicht, und du dennoch von allen es glaubst, wie meinst du daß es da mit dir in bezug hierauf bestellt sei?

KLEINIAS: Offenbar schlecht.

DER ATHENER: Und nun ferner, denken wir Griechen nicht alle daß Länge und Breite gegen Tiefe oder Länge und Breite gegeneinander irgendwie meßbar sei?

KLEINIAS: Durchaus.

DER ATHENER: Wenn dies nun aber wiederum auf keine Weise möglich ist und die Griechen doch, wie gesagt, alle denken daß es möglich sei, hat man da nicht Grund sich in ihrer Aller Namen zu schämen und ihnen zu sagen: Ihr trefflichsten Griechen, das ist da eins von jenen Dingen von denen wir sagten daß die Unkunde in ihnen schmählich sei und daß die Kenntnis von etwas Notwendigem noch gar kein besonderes Lob verdient?

KLEINIAS: Wie anders?

DER ATHENER: Und dazu gibt es dann noch andere hiermit verwandte Dinge, in denen uns wiederum viele Irrtümer begegnen, die mit den eben erwähnten verschwistert sind.

KLEINIAS: Und welche sind das?

DER ATHENER: Welche Beschaffenheit Etwas haben muß um gegen einander meßbar und welche um es nicht zu sein. Denn entweder muß man Beides gründlich zu unterscheiden verstehen oder aber man ist durch und durch ein Pfuscher, und es müssen sich daher noch die Greise beständig gegenseitig hierauf bezügliche Aufgaben vorlegen und so in ihrer würdigen Beschäftigungen mit einander wetteifern und ihre Zeit mit Etwas zubringen das viel edler ist als das Brettspiel.

KLEINIAS: Mag wohl sein, dünkt doch auch das Brettspiel und diese Studien mir gar nicht so weit auseinander zu liegen.

DER ATHENER: Gut denn, Kleinias, in ihnen also müssen nach meiner Behauptung die jungen Leute unterwiesen werden. Sind sie doch weder schädlich noch schwierig, und wenn die Unterweisung in denselben gleich mit ihren Spielen verknüpft wird, so werden sie ihnen Nutzen und unserem Staate keinen Schaden bringen. Wenn aber Jemand anderer Meinung ist, so wollen wir ihn anhören.

KLEINIAS: Freilich.

DER ATHENER: Und wenn es sich dann herausstellt daß es sich dennoch so verhält, so werden wir diese Verfügungen aufnehmen, wo aber nicht, sie verwerfen.

KLEINIAS: Gewiß, wie sollten wir es anders machen? Und so mag es denn feststehen, Freund, daß diese Unterrichtsgegenstände zu den notwendigen gehören, damit nicht unsere Gesetzgebung eine Lücke behalte.

DER ATHENER: Es mag feststehen, als ein Pfand das wieder ausgelöst werden kann wenn die übrigen Teile der Verfassung es verlangen, sei es daß es mich, der ich Gesetze gebe, oder auch euch, die ihr sie erhaltet, nicht mehr ansprechen sollte.

KLEINIAS: Du machst einen billigen Vorschlag.

DER ATHENER: Laß uns also nach diesem die Sternkunde als Lerngegenstand für junge Leute ins Auge fassen und siehe zu ob uns recht scheint was man von ihr sagt oder gerade das Gegenteil.

KLEINIAS: Sprich nur.

DER ATHENER: Freilich, es kann dies wohl nicht anders als höchst wunderlich und auf keine Weise erträglich erscheinen.

[821 St.] KLEINIAS: Was denn nur?

DER ATHENER: Man dürfe, so heißt es gewöhnlich bei uns, über den höchsten Gott und das Weltall keine Forschungen anstellen und müsse sich des Vorwitzes enthalten die Ursachen ergründen zu wollen, denn das verletze die Scheu vor dem Heiligen. Und doch scheint es richtig wenn man gerade das Gegenteil tut.

KLEINIAS: Wie so denn?

DER ATHENER: Auffallend mag die folgende Behauptung sein und man könne glauben daß sie einem Greise nicht zieme: wenn man einen Zweig des Wissens für schön und wahr, dem Staate zuträglich und der Gottheit durchaus genehm hält, so ist es auf keine Weise mehr möglich diese seine Meinung zu verhehlen.

KLEINIAS: Du sprichst wie es sich gebührt. Aber wie werden wir finden daß es mit der Sternkunde wirklich eine solche Bewandtnis hätte?

DER ATHENER: Ach, ihr Guten, wir Griechen reden jetzt, ich darf wohl sagen, alle Lügen von den großen Göttern, von der Sonne eben so wie vom Monde.

KLEINIAS: Nun, was für eine Lüge denn?

DER ATHENER: Wir behaupten daß sie und einige andere Sterne mit ihnen niemals die gleiche Bahn durchwandeln und nennen sie alle daher Wandelsterne, Planeten.

KLEINIAS: Beim Zeus, Freund, das ist auch ganz richtig. Denn oft in meinem Leben habe ja auch ich selber es schon beobachtet wie sowohl der Morgen- als der Abendstern und noch einige andere Gestirne niemals in der gleichen Bahn fortlaufen, sondern überall hin umherirren, daß aber doch auch Sonne und Mond dies tun wissen wir Alle.

DER ATHENER: Das ist es nun gerade, Megillos und Kleinias, warum ich jetzt eben behaupte daß unsere Bürger und ihre Jugend wenigstens so weit über die Götter am Himmel unterrichtet werden müssen daß sie nicht Lästerungen über dieselben aussprechen, sondern mit frommer Verehrung von ihnen in Opfer und Gebet geziemend über sie reden.

KLEINIAS: Das ist ganz gut, wenn es vor allen Dingen nur möglich ist was du da sagst zu lernen, ist dies aber der Fall, dann gebe auch ich, wenn anders wir jetzt etwas Verkehrtes von ihnen behaupten und dagegen nach empfangener Belehrung die richtige Ansicht gewinnen werden, dir zu daß eine Belehrung von solcher Beschaffenheit und bis zu diesem Grade wirklich notwendig ist. Daß sich dies also wirklich so verhalte versuche dir uns auf alle Weise klar zu machen, und wir werden uns bemühen deiner Belehrung zu folgen.

DER ATHENER: Es ist das was ich meine nun allerdings nicht leicht zu lernen, doch andererseits auch nicht allzuschwer und erfordert keinen großen Zeitaufwand, wie daraus erhellt daß ich über diesen Gegenstand keineswegs bereits in meiner Jugend, vielmehr erst vor nicht langer Zeit unterrichtet worden bin, und auch wohl im Stande sein dürfte ihn euch deutlich zu machen, ohne daß ich lange Zeit dazu brauche, während ich doch, wenn die Sache wirklich so schwierig wäre, überhaupt nicht dazu vermögend sein würde in meinem Alter sie Männern von eben so hohem Alter begreiflich zu machen.

KLEINIAS: Das ist sehr wahr. Aber nun bezeichne uns denn auch den Inhalt dieses Wissens näher, [822 St.] auf welches du einen so wunderbar hohen Wert legst und dessen Erlernung du als schon der Jugend zukommend bezeichnest, während du doch uns noch dasselbe absprichst. Versuche uns wenigstens das Notwendigste davon so deutlich als möglich auseinanderzusetzen.

DER ATHENER: Wohl, ich muß es versuchen. Nicht ist nämlich, meine Besten, jene Meinung über Mond und Sonne und die anderen Gestirne richtig daß sie jemals in der Irre umherwandelten, vielmehr findet gerade das Gegenteil statt. Denn jedes derselben durchwandelt stets dieselbe Bahn und nicht viele, sondern hat stets seinen Einen Kreislauf, und es scheint nur so als ob es in vielerlei Bahnen sich bewege, und eben so gilt dasjenige von ihnen welches das schnellste ist mit Unrecht nach dem äußeren Anschein für das langsamste und umgekehrt. Wenn also dies die wahre Beschaffenheit der Sache ist, wir aber nicht so über sie urteilen, so würden wir doch wohl, falls wir über die in Olympia wettlaufenden Pferde oder Männer eben so dächten und den schnellsten Renner als den langsamsten, den langsamsten aber als den schnellsten bezeichneten und demgemäß mit Lobgesängen den Besiegten als den Sieger priesen, diese Lobgesänge weder richtig angebracht haben, noch auch so daß sie den Wettläufern, so fern dies Menschen sind, genehm sein könnten; und nun, da wir in Bezug auf die Götter eben denselben Fehler begehen, glauben wir da doch nicht daß das was dort, wenn es je geschehen wäre, dann auch lächerlich und verkehrt gewesen sein würde hier und in Bezug auf sie keineswegs lächerlich sei? Und doch ist es gewiß auch den Göttern nicht genehm wenn wir ihnen lügenhafte Loblieder singen.

KLEINIAS: Sehr wahr, wenn anders dies sich wirklich so verhält.

DER ATHENER: Demnach, wenn ich zu zeigen vermag daß es sich wirklich so verhält, ist dies Alles wenigstens bis zu diesem Grade hin als Lehrgegenstand aufzunehmen, wenn ich es aber nicht vermag, ist er dagegen aufzugeben? Nicht wahr, so wollen wir dies festsetzen?

KLEINIAS: Ja wohl.

DER ATHENER: Gut, so dürfen wir denn sagen daß wir jetzt mit unsern Bestimmungen über die zur Bildung gehörigen Unterrichtsgegenstände zu Ende sind. Was nun ferner die Jagd und alles dahin Einschlagende anlangt, so gilt auch hierüber die schon vorher gemachte Bemerkung daß die Aufgabe des Gesetzgebers weiter reichen dürfte als daß sie mit der bloßen Abfassung von Gesetzen bereits ihr Ziel erreicht hätte, daß es vielmehr noch Etwas außer den Gesetzen zu geben scheint welches seiner Natur nach die Mitte zwischen Gesetz und Ermahnung hält, wie dies denn auch schon öfters in unsern Unterredungen zum Vorschein kam, wo wir von der ersten Erziehung der kleinen Kinder sprachen. Dort behaupteten wir nämlich, es gebe Dinge die zwar nicht unausgesprochen bleiben dürften, die es aber doch große Torheit sein würde, indem man sie ausspräche, eben damit auch schon zu förmlichen Gesetzen erheben zu wollen. Wenn also einst unser ganzer Verfassungsentwurf und alle unsere Gesetze schriftlich aufgezeichnet sein sollten, so wird das Lob eines ausnehmend tugendhaften und tüchtigen Bürgers noch nicht vollkommen sein wenn man von ihm sagt daß er den Gesetzen am Besten untertänig sei und ihnen am Meisten gehorche, nicht Das ist also ein wahrhaft guter Bürger, sondern das vollkommenere Lob wird Dessen und es wird dies Der sein welcher nicht bloß den förmlichen gesetzlichen Vorschriften des Gesetzgebers gehorcht, [823 St.] sondern auch nach dessen bloßem Lob und Tadel unverfälscht sein ganzes Leben einrichtet. Dies also erst ist das wahrhaft gerechte Lob eines Bürgers, und der Gesetzgeber muß in Wahrheit nicht bloß eigentliche Gesetze schreiben, sondern auch was er für löblich und für tadelnswert hält in nicht eigentlich gesetzlicher Form doch mit in seine Gesetze verweben, auf daß der tüchtige Bürger dies nicht minder treu beobachten könne als das von den Gesetzen unter Androhung von Strafen Anbefohlene. Zur Bestätigung dessen dient uns nun gerade der jetzt zu besprechende Punkt, und er wird noch deutlicher machen was ich meine. Was man nämlich unter diesem Einen gemeinsamen Namen Jagd zu begreifen pflegt ist eine gar vielfältige Beschäftigung. Man macht Jagd auf die Tiere im Wasser, Jagd auch auf die Tiere in der Luft, am Meisten aber auf die Bewohner des Landes, und zwar nicht Tiere allein, sondern auch die Jagd auf Menschen verdient Beachtung, ich meine aber damit auch nicht bloß den Krieg, sondern auch die Freundschaft macht Jagd auf ihren Gegenstand, eine Jagd die bald Lob und bald Tadel verdient, und auch Diebe und Straßenräuber sind Jäger, so gut wie Heere welche dem Feinde nachjagen. Da geht es nun nicht an daß der Gesetzgeber bei den Jagdgesetzen sich nicht über diese verschiedenen Arten ausspreche, andererseits aber auch eben so wenig daß er für Alles besondere Gesetze und Verordnungen mache und Strafen androhe. Und was bleibt ihm also zu tun übrig? Er seinerseits muß lediglich loben oder tadeln was er in Ansehung auf die Übungen und Anstrengungen der Jugend von den verschiedenen Arten der Jagd ersprießlich oder verderblich findet; eben so muß auch jeder Jüngling für sein Teil diesen Ermahnungen sein Ohr leihen und ihnen Folge leisten und weder durch Lust noch durch Beschwerde sich davon abhalten lassen, vielmehr es sogar für höher anschlagen das in Ausführung zu bringen was nur auf dem Wege lobender Empfehlung als was durch ein förmliches Gesetz unter Androhung von Strafen ihm vorgeschrieben ist. An diese Vorrede mag sich denn nun das Lob und der Tadel der Jagd selber anschließen, so wie sich beides gebührt, nämlich so daß man diejenige welche die Seelen der Jünglinge veredelt empfiehlt und dagegen vor derjenigen welche das Gegenteil bewirkt warnt.

Wir wollen also folgendermaßen in Form eines Wunsches den Jünglingen unsere Ansicht aussprechen: Liebe Freunde, möchtet ihr doch immer frei bleiben von dem Hang und der Liebhaberei zur Jagd auf der See, zum Angeln und überhaupt zum Fang der Wassertiere, bei welcher man sich selber untätig verhält und Netze und Reusen im Schlaf wie im Wachen für sich arbeiten läßt! Möge auch niemals euch das Gelüste beschleichen Seeraub und Menschenfang zu treiben und so zu grausamen und gesetzlosen Jägern zu werden, und eben so an Diebstahl, sei es auf dem Lande oder in der Stadt, Teil zu nehmen möge euch nie auch nur im Entferntesten in den Sinn kommen! Und auch die Liebe zu dem hinterlistigen und wenig edelsinnigen Vogelstellen möge nie sich eines Jünglings bemächtigen! [824 St.] Und so bleibt denn allein für unsere Kämpfer das Jagen und Fangen der Landtiere übrig, aber auch dabei ist die sogenannte Nachtjagd, bei welcher man sich wechselsweise schlafen legt, nur für träge Leute angemessen keines Lobes würdig, und eben so wenig die bei welcher man mit Garnen und Schlingen und nicht mit dem siegreichen Mut einer Seele die keine Anstrengungen scheut die wilde Stärke der Tiere bezwingt und eben so viel Ruhe als Arbeit hat. Und so bleibt denn nur Eine Art von Jagd für Alle übrig, und sie ist die beste, nämlich die Jagd auf vierfüßige Tiere mit Pferden und Hunden und eigener Körperkraft, bei welcher dieselben durch Lauf und Stoß und Schuß überwindet und eigenhändig erjagt wem es um die Übung wahrhafter Tapferkeit zu tun ist.

So also mag Lob und Tadel in dieser Sache, das förmliche Gesetz aber folgendermaßen lauten: Jene wahrhaft geweihten Jäger soll Niemand hindern zu jagen wo und wie sie nur immer wollen, einem Nachtjäger aber und einem Solchen der sich auf Garne und Schlingen verläßt soll nirgends zu jagen verstattet sein. Den Vogeljäger lasse man auf Brachland und Bergen sein Wesen treiben, auf angebauten Feldern oder auf heiligem wilden Boden aber wehre ihm Jeder wer darüber zukommt. Den Fischer endlich lasse man in allen Gewässern mit Ausnahme von Häfen oder heiligen Flüssen, Teichen oder Seen fischen, jedoch unter der Bedingung daß er sich nicht eines Gemisches von betäubenden Säften dazu bedient.

Nun dürfen wir endlich sagen daß wir mit den gesetzlichen Bestimmungen über das Erziehungswesen zu Ende gelangt sind.

KLEINIAS: So ist es.

ACHTES BUCH



[828 St.] DER ATHENER: Hieran schließt es sich nun zunächst an daß wir mit Hilfe des delphischen Orakels die Feste ordnen und gesetzlich bestimmen welchen Göttern und was für Opfer ihnen darzubringen für unsern Staat heilsam und ersprießlich ist, und so dürfte es uns denn geziemen über ihre Zeit und Zahl wenigstens Einiges festzusetzen.

KLEINIAS: Mindestens über ihre Zahl gewiß.

DER ATHENER: Gut, so wollen wir denn zunächst ihre Zahl bestimmen. Es sollen ihrer nicht weniger als dreihundert und fünfundsechzig sein, damit tagtäglich wenigstens Eine Behörde irgend einem von den Göttern oder Dämonen für den Staat sowie für seine Bürger und ihre Habe opfere. Das aber was dabei der Gesetzgeber zu übergehen nicht umhin konnte sollen die Ausleger, Priester, Priesterinnen und Wahrsager mit den Gesetzverwesern in gemeinsamer Sitzung feststellen, und gerade das eben zu erkennen worin dies Übergangene besteht soll die Aufgabe dieser nämlichen Behörden sein. Das Gesetz wird nämlich befehlen daß den zwölf Göttern, nach denen die zwölf Phylen benannt sind, zwölf Feste gefeiert werden, dergestalt daß jeden Monat einem jeden derselben Opfer mit Chören und Wettkämpfen, teils musischen und teils gymnastischen, dargebracht werden, und zwar sind diese Wettkämpfe so zu verteilen wie sie für jede Gottheit und für jede Jahreszeit am angemessensten sind, und auch Weiberfeste anzuordnen, teils solche welche mit Ausschluß der Männer und teils solche welche in Gemeinschaft mit ihnen zu begehen sind. Auch ist dabei das Geschlecht der unterirdischen Götter mit denjenigen welche man die himmlischen zu nennen hat und allen die ihnen verwandt sind nicht zu vermischen, sondern beide auseinander zu halten, indem man den ersteren in dem Monat des Pluton, dem zwölften des Jahres, laut dem Gesetze besonders die ihnen zukommenden Feste feiert, und kriegerische Männer müssen gegen einen Gott dieser Art keine Abneigung hegen, sondern ihn vielmehr als einen steten Wohltäter des Menschengeschlechtes verehren. Denn die Vereinigung von Seele und Körper ist in keiner Weise besser als ihre Trennung; das ist mein aufrichtiger Ernst.

Sodann müssen Die welche eine vollkommene Anordnung dieser Verhältnisse machen wollen auch noch dies im Auge behalten daß unser Staat hinsichtlich der Muße an Zeit und des Besitzes von allem Notwendigen ein solcher ist wie jetzt wohl kaum ein zweiter gefunden werden dürfte, daß er aber auch um so mehr, gerade so gut wie ein Einzelner, glücklich sein muß.

[829 St.] Die vornehmste Grundlage eines glückseligen Lebens aber ist dies daß man weder Unrecht tut noch von Anderen Unrecht erleidet. Hievon ist nun das Erstere nicht so gar schwer zu erreichen, wohl aber so viel Macht zu erwerben daß man sich gegen jedes Unrecht zu sichern vermag, und es ist unmöglich auf eine andere Weise vollkommen zu derselben zu gelangen als dadurch daß man selber vollkommen tüchtig dasteht. Und eben so ergeht es auch einem Staate: ist er tüchtig, so wird ihm ein friedliches Leben zu Teil, ist er es nicht, so bedrängt ihn Fehde von innen und außen. Steht es aber so damit, so muß sich Jeder nicht erst im Kriege, sondern schon in Friedenszeiten auf den Krieg einüben, und darum muß eine verständige Bürgerschaft in jedem Monat nicht weniger als einen Tag Kriegsdienste tun, wohl aber noch mehrere, wenn es den Behörden nötig erscheint, und dabei weder Frost noch Hitze scheuen. Und zwar muß sich dies nicht bloß auf die Männer erstrecken, sondern die ganze Bürgerschaft oder auch einzelne Abteilungen derselben, je nachdem es die Behörden für gut finden, muß mit Weibern und Kindern ausrücken. Und außerdem müssen alle Opfer mit schönen Kampfspielen verbunden sein, so daß festliche Kämpfe ausgeführt werden welche so treu als möglich die wirklichen Kämpfe im Kriege nachahmen. Und an die Sieger in diesen Kämpfen sollen Preise und Belohnungen der Tapferkeit verteilt werden, und alle Bürger sollen ihr Lob und ihren Tadel gegen einander bei diesen Gelegenheiten äußern, je nach dem Verhalten welches ein Jeder in diesen Kämpfen so wie in seinem ganzen übrigen Leben an den Tag gelegt hat, so daß also wer sich als trefflich bewährt hat Ehrenbezeugungen, und wer es nicht hat Tadel empfängt. Solche Lob- und Spottlieder soll aber nicht ein Jeder zu dichten befugt sein, sondern fürs Erste Keiner unter fünfzig Jahren und sodann Keiner der zwar poetische oder musische Gaben in sich trägt, aber noch nie selber eine rühmliche und hervorstechende Tat vollbracht hat. Vielmehr aller Derer welche selbst tüchtig und im Staate geschätzt sind, weil sie bereits rühmliche Werke vollführt haben, aller derer Dichtungen sollen gesungen werden, auch wenn es keine poetische und musikalische Meisterstücke sein sollten. Und zwar soll die Entscheidung darüber, wessen Werken dergestalt allein das Vorrecht zugestanden und wem dergestalt allein die Freiheit gewährt werden soll mit seinen musischen Schöpfungen bei solcher Gelegenheit aufzutreten, bei dem Vorsteher des Erziehungswesens und den übrigen Gesetzverwesern sein, und Niemand soll die Erlaubnis dazu haben oder sich dessen unterfangen ein Lied vorzutragen welches die Gesetzverweser nicht geprüft oder bei ihrer Prüfung mißbilligt haben, und wenn es anmutiger wäre als die Gesänge eines Thamyras und Orpheus. Vielmehr nur von den Dichtungen soll öffentlicher Gebrauch gemacht werden welche für heilig erklärt und den Göttern geweiht wurden oder welche von tugendhaften Männern zum Lobe oder Tadel von irgend Jemandem gedichtet und als passend hiezu befunden sind.

Alle diese Bestimmungen nun über den Kriegsdienst, so wie darüber wem die Freiheit zu dichten zustehe, sollen von Weibern und Männern in gleicher Weise gelten. Doch muß der Gesetzgeber dies Alles noch wiederholt in Erwägung ziehen und mit sich selbst besprechen: wohlan, was für Leute will ich durch meine ganze Staatseinrichtung erziehen? [830 St.] Nicht Leute die den größten aller Wettkämpfe, in denen es Tausende von Gegnern gibt, gewachsen sind? So ist es in der Tat, wird die richtige Antwort lauten. Wie nun, wenn wir Faustkämpfer oder Pankratiasten oder überhaupt Leute welche in Kämpfen dieser Art auftreten sollen zu bilden hätten, würden wir sie wohl im öffentlichen Wettkampfe auftreten lassen, wenn sie sich nicht zuvor täglich mit Jemandem im Kampfe geübt hätten? Oder wenn wir selbst Faustkämpfer wären, würden wir nicht viele Tage lang vor dem öffentlichen Kampfe Unterricht nehmen und uns die größte Mühe geben alles das nachzuahmen und uns einzulernen wovon wir hernach beim Kampfe um den Preis Gebrauch machen müßten? Ja, würden wir nicht, um der Wirklichkeit so nahe als möglich zu kommen, statt der Boxriemen uns Bälle um die Hände binden, um so in dem Führen wie im Parieren von Schlägen möglichst eingeübt zu werden? Und wenn wir etwa allzu großen Mangel an Leuten hätten die sich mit uns übten, würden wir da nicht dreist und um das Gelächter Unverständiger unbekümmert uns eine leblose Puppe hinhängen, um an ihr uns zu üben, ja in gänzlicher Ermangelung von lebendigen wie von leblosen Gegnern mit uns selbst und unserm eigenen Schatten fechten? Oder sind etwa die Übungen in Hand- und Armbewegungen und Körperstellungen nicht so Etwas?

KLEINIAS: Gewiß sind sie es.

DER ATHENER: Wie also? Soll denn das Kriegsvolk unseres Staates schlechter vorbereitet als solche Wettkämpfer zu jeder Zeit sich in den wichtigsten aller Kämpfe wagen, in welchem für das Leben und die Kinder, für Hab und Gut und für das Vaterland gestritten wird? Und soll also der Gesetzgeber aus Furcht davor, es könnten die Übungen unserer Bürger unter einander einigen Leuten lächerlich vorkommen, solche Übungen nicht gesetzlich anordnen und nicht gebieten daß die Bürger auch im Frieden Kriegsdienste tun und namentlich kleinere Übungen ohne Waffen Tag für Tag anstellen, und soll er nicht gleichzeitig die Chöre und die ganze Gymnastik auf den gleichen Zweck einrichten? Soll er nicht ferner verordnen, auch bewaffnete größere und kleinere Übungen mindestens einmal in jedem Monat vorzunehmen, bei welchen das Volk im ganzen Land Scheinkämpfe mit einander ausführt, Plätze angreift und verteidigt, sich in Hinterhalte legt, kurz geradezu die ganze wirkliche Kriegführung nachahmt und demgemäß sich auch mit Kugeln und Wurfgeschossen bewirft welche den wirklich im Kriege gebrauchten und gefährlichen möglichst gleichkommen müssen, damit dieses gemeinsame Spiel nicht so ganz ohne Gefahr sei, sondern wirklich Furcht einflößen könne und so bis zu einem gewissen Grade den Beherzten und den Zaghaften erkennen lasse und der Gesetzgeber so, indem er Jenem Auszeichnungen, Diesem aber Beschimpfungen zuerkennt, [831 St.] den ganzen Staat für den wirklichen Kampf fortwährend richtig und erfolgreich vorbereitet habe? Und sollte Jemand bei dieser Gelegenheit sein Leben verlieren, muß da nicht, da dieser Totschlag ein unvorsätzlicher ist, festgesetzt werden daß die Hände des Totschlägers, nachdem er die vom Gesetze vorgeschriebenen Reinigungen an sich vollzogen hat, für unbefleckt gelten sollen, in Erwägung dessen daß, wenn nur nicht allzu viele Menschen sterben, ja immer neue wieder geboren werden die nicht schlechter als jene Gestorbenen sind, wogegen, wenn bei dergleichen Übungen alle Furcht gleichsam tot wäre, eben damit auch jeder Prüfstein wegfiele die Herzhaften und die Zaghaften zu unterscheiden, was doch für den Staat ein weit größeres Übel wäre?

KLEINIAS: Wir sind ganz deiner Meinung, Freund, daß der Staat gesetzliche Bestimmungen dieser Art treffen und mit Sorgfalt aufrecht erhalten müsse.

DER ATHENER: Kennen wir nun auch wohl Alle die Ursache weshalb doch gegenwärtig in den Staaten solche Reigentänze und Kampfspiele entweder gar nicht oder doch nur sehr unbedeutende angestellt werden? Sollen wir etwa sagen es sei die Unwissenheit des Volkes und seiner Gesetzgeber hieran Schuld?

KLEINIAS: Vielleicht.

DER ATHENER: Nicht doch, mein trefflicher Kleinias! Es sind vielmehr zwei andere und zwar gar triftige Ursachen hiervon anzunehmen.

KLEINIAS: Und die wären?

DER ATHENER: Die erste ist die Sucht nach Reichtum, denn sie raubt dem Menschen jederzeit alle Muße sich um etwas Anderes als um die eigene Habe zu bekümmern, und wenn an diese ein jeder Bürger sein ganzes Herz hängt, so kann er für nichts Anderes Sinn haben, als Tag für Tag Gewinn zu machen, und alle Kenntnisse und Fertigkeiten welche hiezu förderlich sind wird ein jeder auf eigene Hand zu erlernen und einzuüben höchst bereitwillig sein, alle andern aber verlachen. Dies also wäre Eins und die eine Ursache, und so kommt es daß der Staat weder die eben besprochene noch irgend eine andere löbliche und gute Beschäftigung anzuordnen sich ernsthaft angelegen sein läßt, sondern daß vielmehr Jedermann aus unersättlicher Gier nach Geld und Gut kein Gewerbe und keine Handgriffe verschmäht, gleichviel ob sie mehr ehrenhafter oder mehr schimpflicher Art, wenn sie nur eben dazu geeignet sind ihn reich zu machen, und zu jeder Handlungsweise, gleichviel ob sie erlaubt ist oder unerlaubt, ja noch so schändlich, bereit ist und sich vor Nichts scheut, wofern er nur im Stande ist seiner tierischen Lust alles Mögliche zu essen und zu trinken und seinen tierischen Liebesgelüsten in jeder Weise Genüge zu tun.

KLEINIAS: Du hast Recht.

DER ATHENER: Dies also, wie gesagt, ist als die eine Ursache anzusehen welche daran hindert daß die Staaten den Betrieb wie irgend welcher anderen ehrenvollen Übungen so auch der kriegerischen anordnen, und vielmehr aus denjenigen Bürgern welche von zahmerer Natur sind Kaufleute, Schiffsreeder und überhaupt Leute von niedrigem und dienstbarem Lebensberuf macht, aus den tapferen Naturen aber Räuber und Diebe, die selbst Heiligtümer ausplündern, [832 St.] Feinde der Gesellschaft oder Tyrannen, welche oft Männer von hohen Gaben, aber dabei doch unglückselige Menschen sind.

KLEINIAS: In wie fern meinst du das?

DER ATHENER: Wie sollte ich sie denn nicht in jedem Betracht für unglückselig erklären welche gezwungen sind ihr ganzes Leben in immerwährendem geistigen Hunger zuzubringen!

KLEINIAS: Das ist nun also die eine Ursache. Worin findest du denn aber die andere?

DER ATHENER: Gut daß du mich daran erinnerst.

MEGILLOS: Dies also, sagst du, ist die eine Ursache, nämlich diese unersättliche, durch das ganze Leben fortdauernde Begierde, indem sie den Bürgern alle Zeit wegnimmt hindert sie sie daran daß sie die erforderlichen Kriegsübungen in der richtigen Weise vornehmen. Sei es denn so. Welches ist denn die andere?

DER ATHENER: Meint ihr etwa ich sei in Verlegenheit dieselbe anzugeben und zaudere deshalb?

MEGILLOS: Das nicht, sondern es will uns bedünken als ob du in deinem Hasse gegen eine derartige Sinnesweise deine doch beiläufige Tadelrede derselben etwas über die Gebühr ausgedehnt hättest.

DER ATHENER: Mit vollem Recht, meine Freunde, tadelt ihr mich. Und so sollt ihr denn gleich das Weitere hören.

KLEINIAS: So sprich denn.

DER ATHENER: Nun, ich meinerseits behaupte daß diese zweite Ursache in jenen Unverfassungen liege deren ich in unserer bisherigen Unterredung schon mehrmals gedacht habe, der Demokratie, der Oligarchie und der Tyrannenherrschaft. Keine von diesen nämlich verdient wirklich den Namen einer Verfassung, sondern alle würden am Richtigsten bloße Parteiherrschaft heißen. Denn in keiner von ihnen findet freie Übereinstimmung zwischen Herrschenden und Gehorchenden statt, sondern die ersteren allein üben frei und unbeschränkt ihren Willen über die letztern ohne deren freie Zustimmung und daher stets mit Anwendung von mehr oder weniger Gewalt aus. Wenn aber der Herrschende den Beherrschten fürchten muß, so wird er freiwillig ihn niemals schön, reich, stark, tapfer und überhaupt kriegstüchtig werden lassen. Dies sind nun so ziemlich von allen politischen Übelständen die beiden Hauptursachen, ganz vorwiegend aber doch von den eben genannten. Der Staat aber dessen Gesetzgebung wir jetzt entwerfen hat sie beide vermieden. Denn einerseits gewährt er seinen Bürgern ja die vollkommenste Muße, und andererseits stehen sie in ihm frei einander gegenüber, der Geldsucht aber ist durch Gesetze wie die unsrigen auf das Nachdrücklichste gewehrt. Und darüber wird denn von einem so angeordneten Staate allen jetzt bestehenden gegenüber allein die Aufnahme der eben dargestellten Erziehung und der so eben von uns in unserer Unterredung vollständig abgehandelten kriegerischen Spiele vernunft- und naturgemäß zu erwarten sein.

KLEINIAS: Du hast Recht.

DER ATHENER: Nicht wahr, nun muß es doch wohl das Nächste sein daß wir überhaupt alle gymnastischen Kampfübungen von dem Gesichtspunkte aus in Betracht ziehen ob sie wirklich zur Kriegstüchtigkeit beitragen oder nicht, um die ersteren anzuempfehlen und Siegespreise für dieselben auszusetzen, die letzteren aber fahren zu lassen? Und da wird es denn wohl das Beste sein von Anfang an Alles was hierher gehört durchzugehen und darnach unsere gesetzlichen Bestimmungen zu treffen. Und fürs Erste werden doch alle Übungen im Laufen und überhaupt in der Schnelligkeit hierher zu rechnen sein?

KLEINIAS: Freilich.

DER ATHENER: Denn gewiß ist doch im Kriege die Behendigkeit des Leibes überhaupt, sowohl der Füße als der Hände, die allervorteilhafteste Sache, und zwar die erstere beim Fliehen und Verfolgen, [833 St.] während der Kampf im Handgemenge oder gegen einen einzelnen Gegner der Kraft und Stärke bedarf.

KLEINIAS: Wie anders?

DER ATHENER: Jedoch hat keine von beiden ohne Waffen ihren vollen Nutzen.

KLEINIAS: Gewiß nicht.

DER ATHENER: Den Läufer in der Rennbahn soll uns also zuerst in den Wettkämpfen, wie es ja auch jetzt üblich ist, der Herold aufrufen, dieser soll aber in Waffen die Bahn betreten, und einem unbewaffneten Wettläufer soll kein Preis in unserem Staate zuerkannt werden. Zuerst also betrete die Rennbahn Derjenige welcher nur einmal im Wettlaufe dieselbe durchmessen will, dann wer den Doppellauf, zum Dritten wer die Länge des Pferdelaufes, zum Vierten endlich wer den Langlauf zurücklegen will. Der Fünfte sodann sei der Erste den wir in schwerer Rüstung aussenden wollen, und zwar soll er dergestalt eine Länge von 6o Stadien bis zu einem Heiligtume des Ares durchmessen, dann folge ein Anderer, noch schwerer Bewaffneter, zu einem Wettlauf auf ebnerem Wege von gleicher Länge, und dann bleibt schließlich noch der Bogenschütze, welcher in voller Schützenrüstung einen Weg von 100 Stadien entlang bis zu einem Heiligtume des Apollon und der Artemis über Berge und jede Art von Land einen Wettlauf anstellt. Und nachdem wir den Wettkampf angeordnet haben, wollen wir warten bis die Bewerber von ihm zurückkehren und dann dem Sieger in jeder Art den für dieselbe bestimmten Preis zuerteilen.

KLEINIAS: Recht so.

DER ATHENER: Ferner wollen wir nun aber diese Wettläufer in drei Klassen einteilen, Knaben, noch unbärtige Jünglinge, und Männer, und wollen für die Wettkämpfe der unbärtigen Jünglinge zwei Dritteile des Laufes, für die Knaben aber nur die Hälfte dieses Maßes bestimmen, aber auch diese sollen bereits als Bogenschützen und Schwerbewaffnete diesen Wettstreit bestehen. Was aber das weibliche Geschlecht anlangt, so sollen die noch nicht mannbaren Mädchen in bloßen Unterkleidchen im einfachen, Doppel-, Pferde- und Langlauf, aber eben nur im Laufe und ohne Waffen mit einander wetteifern, die aber welche das dreizehnte Jahr überschritten haben sollen in diese Wettläufe nur mit einer angemessenen Bekleidung eintreten, und zwar soll diese ihre Kampfgenossenschaft nur bis zu ihrer Verheiratung, spätestens bis zum zwanzigsten und frühestens bis zum achtzehnten Jahre, dauern.

Dies also mögen die gesetzlichen Bestimmungen über den Wettlauf für Männer und für Weiber sein. Was aber die Wettstreite in der Stärke anbetrifft, so wollen wir statt des Ringens und der übrigen derartigen Übungen welche jetzt für schwere gelten, den Kampf in schwerer Bewaffnung einführen, sei es daß Einer gegen Einen oder Zwei gegen Zwei oder Zehn gegen Zehn in einem solchen auftreten. Und gleichwie gegenwärtig die Meister im Ringen selber festgesetzt haben was gut und was schlecht gerungen heißt, so müssen auch wir zur Entscheidung der Frage, was Einer nicht getan oder erlitten haben darf oder in wie weit nicht, um Sieger zu werden, die im Waffenkampfe Ausgezeichneten herbeirufen und auffordern in Gemeinschaft mit uns gesetzlich festzustellen was ebenso hierin und wer darnach wiederum in diesen Kämpfen mit Recht als Sieger zu gelten habe und [834 St.] was andererseits die entscheidenden Kennzeichen der Niederlage seien, und dieselben gesetzlichen Bestimmungen sollen auch für die unverheirateten Weiber bestehen. An die Stelle des Pankration ferner wollen wir alle Arten des Kampfes in leichter Bewaffnung setzen, mit Bogen und kleinen Schilden, mit Wurfspießen, mit Steinen aus freier Hand und mit Schleudern, und wiederum auch hierfür Gesetze feststellen und Dem welcher am Meisten diesen gesetzlichen Bestimmungen genügt den Sieg zuerkennen und den Preis erteilen.

Das hieran sich zunächst Anreihende dürfte dies sein daß wir auch über die Pferderennen gesetzliche Verfügungen treffen. Hier zu Lande nun, in Kreta, macht man weder von vielen Pferden Gebrauch noch auch überhaupt vielen Gebrauch von Pferden, so daß notwendigerweise auch der Eifer für Pferdezucht und Pferderennen ein geringerer ist. Ein Wagengespann hält daher hier Niemand, und es wird demgemäß auch wohl in unserem Staate schwerlich bei irgend Einem ein besonderer Ehrgeiz in Bezug hierauf sich entwickeln, und so würde es weder Sinn haben noch Sinn zu haben scheinen wenn wir der Landessitte zuwider Wagenrennen einrichten wollten. Aber wenn wir für einzelne Pferde und zwar sowohl für Füllen welche noch nicht die Zähne gewechselt haben als auch für Pferde von mittlerem Alter zwischen ausgewachsenen und Füllen und endlich für vollständig ausgewachsene selbst, Kampfpreise aussetzten, so würden wir damit ein der Natur des Landes wohl angemessenes Reiterspiel stiften. Es möge also teils gesetzlich verfügt werden solche Pferde für sich allein im Laufen mit einander wetteifern und wettkämpfen zu lassen, teils sollen Waffenkämpfe zu Pferde gehalten und den Phylarchen und Hipparchen gemeinsam die Entscheidung über alle diese Kampfspiele übertragen werden.

Für Unbewaffnete aber werden wir so wenig wie in den eigentlichen gymnastischen so auch in diesen Übungen Wettkämpfe einrichten, um nicht unrichtige gesetzliche Bestimmungen zu reffen. Bogen und Speerschützen zu Pferde sind dagegen in Kreta keine unbrauchbare Leute, und daher sollen zur Ergötzlichkeit auch von ihnen Kampfspiele angestellt werden. Das weibliche Geschlecht durch Gesetze und Verordnungen zur Teilnahme zu zwingen wäre unziemlich, sollte aber in Folge ihrer Gewöhnung an jene vorerwähnten Übungen ihre Natur auch diesen Stand zu halten vermögen und ihnen nicht widerstreben, so soll man auch halberwachsene Mädchen und schon erwachsene Jungfrauen ruhig an ihnen Teil nehmen lassen und sie nicht dieserhalb tadeln.

So wären wir denn nun mit den gymnastischen Kämpfen und der Unterweisung im Turnen, so wie mit Allem was in jenen so wie tagtäglich in den Turnschulen zu üben sei, vollständig zu Ende, und gleichermaßen ist auch der größte Teil der musischen Kunst bereits abgehandelt worden. Wettkämpfe von Rhapsoden aber und ähnlichen Leuten so wie die nötigen Wettgesänge von Chören an den Festen sollen angeordnet werden sobald wir erst den Göttern und den ihnen zunächst stehenden Wesen ihre Monate, Tage und Jahre bestimmt haben, mögen wir nun demgemäß ihre Feste auf jedes dritte oder jedes fünfte Jahr festsetzen oder welcher Zeit und [835 St.] Art ihrer Anordnung uns immer die Götter in den Sinn legen mögen. Denn dann muß man abwarten daß neben den anderen Wettkämpfen auch an musische die Reihe kommen wird und daher auch diese werden veranstaltet werden. Ihre Anordnung nun soll den Kampfordnern, dem Vorsteher des Erziehungswesens und den Gesetzverwesern überlassen bleiben, welche zu gemeinsamer Beratung darüber zusammentreten und selber die Rolle von Gesetzgebern in Betreff dessen übernehmen sollen wann und von welchen Personen mit einander alle solche Wettkämpfe von Chören und Chorreigen veranstaltet werden sollen, so jedoch daß nach der bereits oft wiederholten Vorschrift des ersten Gesetzgebers darüber wie Text, Gesang und Melodie je nach den besonderen Fällen beschaffen sein und mit was für Rhythmen und Tänzen sie verbunden werden sollen auch die zweiten bei ihrer gesetzlichen Anordnung sich zu richten und darnach die verschiedenen Wettkämpfe auf die verschiedenen Opfer zu schicklicher Zeit zu verteilen und so dem Staate die Feier seiner Feste zu bestimmen haben.

Auf welche Weise also Dies und Ähnliches gesetzlich anzuordnen sei wird ihnen nicht schwer fallen zu erkennen, und es wird auch, falls sie hie oder da Etwas abändern sollten, für den Staat weder von sonderlichem Nutzen noch von sonderlichem Schaden sein. Was dagegen von nicht geringer Bedeutung ist und wozu das Volk sehr schwer sich bereden lassen wird, das wäre recht eigentlich eine Arbeit für einen Gott, wenn es nur irgendwie möglich wäre unmittelbar von ihm Vorschriften hierüber zu erhalten, so aber bedarf es dazu, wie es scheint, eines herzhaften Menschen welcher vorzugsweise in die Freimütigkeit seine Ehre setzt und sich daher nicht scheut zu sagen was für den Staat und die Bürger das Beste zu sein scheine, mitten unter verderbten Gemütern das Geziemende und mit dem gesamten Geiste unserer Staatsverfassung Übereinstimmende anzuordnen, den heftigsten Begierden entgegenzutreten und, wenn er auch an keinem Menschen einen Beistand findet, dennoch für sich allein einzig der Vernunft zu folgen.

KLEINIAS: Was für eine Rede, Freund, führst du uns da wieder? Denn noch verstehen wir dich nicht.

DER ATHENER: Das ist auch ganz natürlich, und ich will daher versuchen euch die Sache etwas deutlicher zu machen. Als ich nämlich in unserem Gespräche auf die Erziehung kam, fiel mir der vertrauliche Umgang zwischen den jungen Leuten beiderlei Geschlechts ins Auge, und so überkam mich, wie billig, Furcht, indem ich überlegte, wie man wohl für einen solchen Staat Rat schaffen könne in welchem die jungen Leute beider Geschlechter nicht bloß kräftig genährt sondern auch von aller schweren und knechtischen Arbeit, welche am Meisten die Sinnlichkeit dämpft, frei sind, dagegen alle insgesamt durch ihr ganzes Leben auf Opfer, Feste und Chöre ihren Sinn zu richten haben. Wie wird es also anzustellen sein daß sie in einem solchen Staate jener schlimmsten Leidenschaften Herr werden, welche so oft schon Viele ins äußerste Verderben gestürzt haben und deren Meister zu werden die Vernunft gebieten muß, wenn sie im Begriffe steht zum Gesetze zu werden? Denn wenn über die meisten Leidenschaften unsere bisher aufgestellten Gesetze nicht Herr werden sollten, so müßte das Wunder nehmen. [836 St.] Ist doch der Umstand daß es nicht gestattet ist übermäßig reich zu sein das beste Mittel dazu um Mäßigung und Besonnenheit hervorzurufen, ist doch überhaupt die ganze gesetzliche Einrichtung der Erziehung eben hierauf bedacht, und dazu kommt dann noch daß die Obrigkeit ihr Auge auf nichts Anderes so sehr als auf die Beobachtung der jungen Leute zu richten angewiesen ist. Dies übt auf alle andern Begierden, so weit menschliche Kraft reicht, eine hinlängliche Beschränkung aus. Aber wie soll man die unerlaubten Liebesverhältnisse zwischen noch nicht heiratsfähigen Knaben und Mädchen und von Weibern die dabei gleich Männern und von Männern die dabei gleich Weibern auftreten verhüten, aus denen ja für die Einzelnen wie für ganze Staaten Tausende von Übeln hervorgegangen sind, und welches Heilmittel soll man anwenden um für einen Jeden eine solche Errettung aus solcher Gefahr zu schaffen? Das ist durchaus nichts Leichtes, mein Kleinias. Denn während uns in vielen anderen Stücken, in denen unsere Gesetze von den Sitten der meisten Menschen abweichen, ganz Kreta und Lakedämon in erwünschter Weise und in hohem Grade zu Hilfe kommen, stehen sie in Bezug auf die Liebesverhältnisse, wir dürfen das hier unter uns ja wohl sagen, uns vielmehr durchaus feindlich gegenüber. Denn wenn wir, der Natur folgend, die Sitte die vor Laios galt zum Gesetze erheben und demgemäß behaupten daß es unrecht sei mit Männern und Jünglingen der gleichen sinnlichen Vermischung und des gleichen gemeinsamen Liebesgenusses wie mit Weibern zu pflegen, indem wir zum Zeugnis dafür die Tiere anführen und darauf hinweisen wie nie zu einem solchen Zwecke ein Männchen das andere berührt, und daraus den Schluß ziehen daß es nicht naturgemäß sei, so dürften wir wohl überzeugend reden und doch mit euren Staaten keineswegs übereinstimmen. Außerdem aber haben wir noch für uns anzuführen daß die Zulassung dieses Verhaltens in diesen Dingen nicht mit dem Geiste unserer Gesetze übereinstimmt, eine Übereinstimmung welche wir doch eben überall dem Gesetzgeber zur Pflicht gemacht haben, so fern wir eben jedes von uns zu gebende Gesetz darauf ansehen ob es zur Tugend hinführe oder nicht. Denn laßt uns nur einmal zusehen wenn wir dieselben als ehrenvoll oder doch wenigstens als in keiner Weise verwerflich in unsern Gesetzen einstellten, was für eine Förderung in der Tugend hieraus entspringen würde. Wird eine solche Liebe in die Seele Dessen der sich zu ihr bereden läßt den Charakter der Mannhaftigkeit und Tapferkeit, oder in die Dessen welcher zu ihr überredet die Weise gemäßigter und besonnener Naturen einpflanzen? Oder wird sich nicht vielmehr Niemand so Etwas einreden lassen? Fügt nicht vielmehr gerade im Gegenteil Jedermann die erbärmliche Schlaffheit Dessen welcher sich solchen Wollüsten eingibt und sie nicht zu bemeistern vermag? Findet nicht Jeder in Dem welcher sich einem Weibe gleich stellt eben diesen weibischen Sinn zu tadeln? Wer wird also Das was von Jedermann so geachtet wird zum Gesetze erheben wollen? Wohl Keiner der einen Begriff von einem wahren Gesetz hat. Wie aber bestimmen wir nun hierin das Wahre? Zu diesem Zwecke müssen wir, um richtig vorzugehen, notwendig sowohl das Wesen der freundschaftlichen Zuneigung als auch das der sogenannten Liebe in Betracht ziehen. Denn nicht bloß sind beide zweierlei, sondern aus ihnen zusammen entsteht noch ein Drittes, und dadurch daß man nun alle diese drei Dinge mit Einem Namen umfaßt hat ist die ganze Verwirrung und Dunkelheit dieser Sache bewirkt worden.

Freundschaft und Zuneigung finden wir doch einerseits da wo eine Gleichheit oder Ähnlichkeit an Tugend und Tüchtigkeit Statt hat, andererseits aber schreiben wir auch dem Dürftigen eine Zuneigung zum Reichtum zu, obwohl Dürftigkeit und Reichtum Gegensätze sind, und wenn beide Arten von Zuneigung einen hohen Grad erreichen, so nennen wir sie Liebe.

KLEINIAS: So ist es.

DER ATHENER: Diejenige Zuneigung nun welche aus dem Gegensatze hervorgeht ist heftig und wild, und selten bringt sie es zur Gegenseitigkeit, die dagegen welche aus der Ähnlichkeit der Charaktere entspringt ist mild und gegenseitig das ganze Leben hindurch. Bei der dritten Art von Liebe endlich, die aus beiden gemischt ist, ist es fürs Erste nicht leicht zu sagen was Der welcher sie hegt eigentlich zu besitzen wünscht, und sodann befindet er sich auch, von jenen beiderlei Neigungen nach entgegengesetzten Seiten hin gezogen, im Schwanken, indem die eine ihn die Schönheit zu genießen antreibt, die andere aber dies zu tun verbietet. Denn wer den Körper liebt und lüstern ist gleichsam nach der reifen Frucht seiner Schönheit, der kennt keinen andern Trieb als diese seine Begierde zu stillen und legt auf die Seele seines Geliebten und auf deren Gemütsart nicht den mindesten Wert; bei wem dagegen die Begierde nach dem Körper nur untergeordnet ist und wer sich mehr an seinem Anschauen weidet als in ihn verliebt ist und dagegen wahrhaft mit der Seele nach der Seele sich sehnt, die Sättigung des Körpers am Körper aber für Zügellosigkeit ansieht, dem wird Besonnenheit, Mannhaftigkeit, Edelsinn und Verständigkeit eine ehrfurchtsvolle Scheu einflößen, und er wird nie anders als keusch mit einem keuschen Geliebten umgehen wollen; und die aus diesen beiden Arten gemischte Liebe ist nun diejenige welche wir so eben als die dritte bezeichneten. Wenn es nun aber so diese drei Arten von Liebe gibt, soll da das Gesetz sie alle drei verhindern und dem vorzubeugen suchen daß sie in uns entstehen, oder ist es offenbar daß wir diejenige welche an der Tugend hängt und den geliebten Jüngling mehr zu veredeln sucht in unserm Staate aufmuntern, die andern beiden Arten aber verhindern werden? Oder wie sollen wir sagen, lieber Megillos?

MEGILLOS: Ich finde diesen deinen letztern Vorschlag durchaus richtig, lieber Freund.

DER ATHENER: Deine Beistimmung, Freund, scheine ich also wenigstens, wie ich es auch nicht anders erwartete, gefunden zu haben. Von welcher Ansicht aber eure Gesetze in Bezug auf diese Fragen geleitet werden, brauche ich nicht zu untersuchen, sondern mir genügt deine Zustimmung zu meinem Vorschlage. Den Kleinias aber werde ich in der Folge noch weiter in Bezug auf diesen Gegenstand zu überzeugen und zu besprechen suchen. Für jetzt also, wie gesagt, mag es bei dem von euch Zugestandenen sein Bewenden haben, und so laßt uns denn in unserer eigentlichen Gesetzgebung fortfahren.

MEGILLOS: Wohl gesprochen.

DER ATHENER: Es fällt mir gerade jetzt im Augenblick ein Mittel ein die Erhebung jenes Vorschlages zum Gesetze durchzusetzen, welches nach der einen Seite hin leicht, [838 St.] nach der andem aber in gewissem Betracht so schwierig ist als es nur immer sein kann.

MEGILLOS: Erkläre dich deutlicher.

DER ATHENER: Wir wissen doch daß auch jetzt schon die meisten Menschen, auch wenn sie Gesetz und Sitte verachten, dennoch in einem gewissen Falle sich der Gemeinschaft mit schönen Leibern streng und sorgfältig, und zwar nicht gezwungen, sondern durchaus freiwillig, enthalten.

MEGILLOS: Und welches wäre dieser Fall?

DER ATHENER: Wenn Jemand einen schönen Bruder oder eine schöne Schwester hat. Und auch Sohn und Tochter sind durch dasselbe ungeschriebene Gesetz genügend davor bewahrt daß ihr Vater öffentlich oder heimlich mit ihnen zusammenschlafe oder auf irgend eine andere Weise sie in unerlaubter Vertraulichkeit berühre. Ja, es kommt kaum einmal der Gedanke an einen solchen Umgang irgend jemandem in den Sinn.

MEGILLOS: Du hast Recht.

DER ATHENER: Ist es nun wohl nicht ein kurzes Wort welches alle derartigen Gelüste erstickt?

MEGILLOS: Und das wäre?

DER ATHENER: Der Ausspruch daß sie durchaus nicht von den Göttern verstattet, sondern ein Greuel in ihren Augen und des Schändlichen Schändlichstes seien. Und rührt diese Wirkung nicht davon her daß Keiner anders davon spricht, sondern daß jeder von uns gleich von seiner Geburt an stets und überall diesen Ausspruch hört im Leben wie in der Dichtung, im Scherz der Komödie wie auch im tiefen Ernst der Tragödie, so oft in ihr ein Thyestes oder ein Ödipus auftritt oder auch ein Makareus, der insgeheim mit seiner Schwester Buhlschaft treibt, sich aber freiwillig, sobald dieser Frevel entdeckt wird, eben den Tod als Strafe für denselben auferlegt?

MEGILLOS: Du hast ganz Recht darin daß die öffentliche Meinung eine ganz wunderbare Gewalt in diesen Dingen erlangt hat, sofern doch wirklich sich Niemand unterfängt auch nur im Herzen zu begehren was dieses Gesetz ihm verbietet.

DER ATHENER: Ist also meine so eben ausgesprochene Behauptung nicht richtig, daß es dem Gesetzgeber welcher eine der Leidenschaften welche die Menschen vorzugsweise bemeistern wiederum seinerseits bemeistern will ein Leichtes sei zu erkennen auf welche Weise er dabei Hand anlegen, daß er nämlich für jedes seiner Gesetze eben nur jene allgemeine Meinung gewinnen und es dadurch heiligen muß, und daß dann, wenn dergestalt Alle, Sklaven und Freie, Weiber und Kinder, kurz alle Staatseinwohner einmütig über dasselbe denken, er für jedes seiner Gesetze den sichersten Schutz gewonnen hat?

MEGILLOS: Das freilich, aber wie wird es nur möglich sein es dahin zu bringen daß Alle so einmütig denken?

DER ATHENER: Sehr richtig bemerkt. Eben dieser Frage nämlich habe ich bereits durch meine Erklärung vorgesehen daß ich ein Mittel wüßte das Gesetz einzuführen welches gebietet daß man den Beischlaf eben nur in naturgemäßer Weise zum Zwecke der Kindererzeugung vollziehen solle, daß man mithin Männern nicht beiwohnen und so die Fortpflanzung vorsätzlich vereiteln und auf Fels und Stein säen dürfe, [839 St.] wo kein Zeugungskeim Wurzeln schlagen und so seine natürliche Kraft äußern kann, und daß man eben so auch ein Weib nicht besamen dürfe von welchem man eine Frucht seines Samens emporkeimen zu lassen nicht gesonnen ist. Wenn dieses Gesetz Geltung und Bestand erlangt, wenn es, gleichwie es jetzt bereits wider den Beischlaf der Eltern mit ihren Kindern besteht, so auch gegen alle übrigen widernatürlichen Lüste seinen ihm rechtmäßig zukommenden Sieg errungen haben wird, so wird es den größten Segen bringen. Denn fürs Erste stimmt es eben mit den Forderungen der Natur, sodann wird es in der Liebe alle leidenschaftliche Wut und Raserei, wird es alle Ehebrüche und alles übermäßige Schwelgen in Speise und Trank verbannen und die Ehemänner ihren Frauen ergeben und zugetan machen. Und noch viele andere segensreiche Folgen werden aus der Beobachtung dieses Gesetzes entspringen. Aber da wird vielleicht ein heftiger junger Mann von starkem Geschlechtstriebe, wenn er uns dieses Gesetz einbringen hört, mit Vorwürfen wider uns auftreten als ob wir unverständige und unausführbare Gesetze geben wollten, und Alles mit Geschrei erfüllen. Eben dies nun hatte ich bereits im Auge als ich vorhin den Ausspruch tat daß ich ein Mittel besäße welches auf der einen Seite das allerleichteste, auf der andern Seite aber das allerschwierigste sei um diesem Gesetze Eingang und Dauer zu verschaffen. Denn daß und in wie fern die Sache möglich sei ist ja gar leicht zu begreifen. Denn das darf man wohl behaupten daß dieses Gesetz nur die nötige Heiligung zu erhalten braucht, um jedes Gemüt sich zu unterwerfen und durch die Furcht sich einen allgemeinen Gehorsam zu erzwingen. Aber es ist heutzutage bereits dahin gediehen daß man selbst dann es meistens für unausführbar halten wird, gleichwie man es ja auch in Bezug auf die Einrichtung der gemeinsamen Mahlzeiten unglaublich findet daß die ganze Bürgerschaft ihr Leben lang dieser Sitte nachgehen könne, und obwohl durch die Tat der Beweis hierfür geführt und diese Einrichtung bei euch zur wirklichen Geltung gekommen ist, so hat man sich trotzdem nicht einmal in euren Staaten davon zu überzeugen vermocht daß dieselbe sich, wie die Natur der Weiber ist, auch auf diese ausdehnen lasse. Diese andere Seite der Sache, die Stärke des Unglaubens, also hatte ich im Sinne wenn ich meinte es sei auch wiederum sehr schwierig jenen beiden Punkten gesetzlichen Bestand zu verleihen.

MEGILLOS: Und darin hast du ganz Recht.

DER ATHENER: Wollt ihr nun daß ich euch einen Beweis zu führen versuche aus dem sich wenigstens mit einiger Wahrscheinlichkeit ergibt daß dies dennoch sich ins Werk setzen läßt und die menschlichen Kräfte nicht übersteigt?

KLEINIAS: Wie sollten wir nicht?

DER ATHENER: Welcher von Beiden wird wohl leichter im Liebesgenuß Enthaltsamkeit üben und geneigter sein sich in Bezug auf ihn mit Selbstverleugnung den gesetzlichen Vorschriften zu fügen, Der welcher seinen Körper wohl ausgebildet und die gymnastischen Übungen nicht versäumt, oder Der welcher sie vernachlässigt hat?

KLEINIAS: Offenbar der Erstere.

DER ATHENER: Denn haben wir nicht gehört daß der Tarentiner Ikkos um des Kampfes zu Olympia und [840 St.] der übrigen Kämpfe willen in denen er nach dem Siege strebte sich nicht bloß Kunst, sondern auch Mannhaftigkeit und Mäßigung, Tapferkeit und Besonnenheit aneignete und zu diesem Zwecke, wie es heißt, weder ein Weib noch einen Knaben während seiner ganzen Übungszeit berührte? Und ein Gleiches wird auch von Krison, Astylos, Diopompos und gar vielen andern Athleten erzählt. Und dennoch, Kleinias, besaßen sie bei Weitem nicht die Bildung der Seele wie wir sie diesen unsern Bürgern zu geben gedenken, und eine viel größere Fülle des Körpers und daher auch seiner Begierden.

KLEINIAS: Du hast Recht, die Alten erzählen wirklich dergleichen von jenen Athleten.

DER ATHENER: Wie nun? Diese also hatten um des Sieges im Ringen, im Laufen und in andern Wettspielen willen die Entschlossenheit sich jenes Dinges zu enthalten in welchem nach der Meinung der Menge die größte Glückseligkeit besteht, und unsere Söhne sollten nicht im Stande sein sich um eines weit schöneren Sieges willen zu zügeln, um eines Sieges willen durch dessen Zauber wir sie gebührendermaßen von Kindesbeinen an in Märchen und Sagen, in Gedichten und Gesängen anzulocken versuchen wollen?

KLEINIAS: Welchen Sieg meinst du?

DER ATHENER: Eben den Sieg über ihre sinnlichen Lüste, der ihnen, wenn sie ihn gewinnen, die Glückseligkeit bringt, während sein Verlust sie auf alle Weise elend macht. Und sollte dann nicht überdies die Furcht vor Etwas was den Göttern ein Greuel die Gewalt über uns haben daß wir einen Sieg davon tragen welchen Andere, die schlechter waren als wir, errungen haben?

KLEINIAS: Das ist allerdings anzunehmen.

DER ATHENER: Nun also, da wir mit diesem Gesetze bereits so weit gediehen sind und nur noch wegen der Verderbtheit der Menge in Verlegenheit waren, erkläre ich daß wir mit unserer Vorschrift geradenwegs vorgehen und dabei unsern Bürgern vorstellen müssen daß sie nicht schlechter sein dürfen als die Vögel und viele andere Tiere, welche, mitten unter großen Herden geboren, doch bis in ihr Zeugungsalter ehelos, keusch und ohne Begattung und in der Folgezeit, nachdem sie es erreicht haben und Männchen mit Weibchen und Weibchen mit Männchen nach Neigung sich gepaart hat, treu und unentweiht leben, indem sie fest in der Verbindung verharren welche einmal ihre Zuneigung geschlossen hat. Es sei doch wohl nicht zu viel verlangt daß unsere Bürger besser als die Tiere sein sollen? Sollten sie sich aber von den anderen Griechen und den meisten ungriechischen Völkerschaften verführen lassen, indem sie sehen und hören welche Macht bei diesen die regellose Wollust ausübt, und demgemäß auch ihrerseits sich nicht beherrschen können, so müssen die Gesetzverweser Gesetzgeber werden und auf ein zweites Gesetz für sie bedacht sein.

[841 St.] KLEINIAS: Und was für ein Gesetz willst du ihnen zu geben raten, wenn das jetzt gegebene ihrer nicht Meister würde?

DER ATHENER: Kein anderes offenbar, lieber Kleinias, als was jenem ersten möglichst nahe kommt.

KLEINIAS: Und das wäre?

DER ATHENER: Man suche die Kräfte der Wollust möglichst außer Übung zu setzen und allen Zufluß und alle Nahrung derselben durch körperliche Anstrengungen in andere Teile des Leibes abzuleiten. Und das wird möglich sein bei Allen welche bei der Befriedigung des Geschlechtstriebes noch mit Scham zu Werke gehen und sie eben deshalb sich seltener verschaffen, denn diese werden eben wegen dieser sparsameren Befriedigung desselben einen weniger mächtigen Gebieter an ihm haben. Es muß daher bei unsern Bürgern zu einem durch die Gewohnheit zum Gesetze geworden und durch das ungeschriebene Gesetz geheiligten Grundsatz werden daß die Ehrbarkeit erfordere solcherlei Handlungen nur im Verborgenen auszuüben, und daß es eine Schande sei dergleichen vor den Augen der Leute zu tun, ohne daß wir überall verbieten es zu tun. Diese Bestimmung von Schande und Ehrbarkeit also muß in zweiter Linie als gesetzliche Bestimmung bei uns eintreten, als hinarbeitend auf eine Tugend zweiten Ranges, und die Leute von verderbter Art, denen jede Selbstbeherrschung fehlt, werden dann schon, da sie doch nur eine Klasse bilden, von den drei andern Klassen in die Mitte genommen und gezwungen werden dies Gesetz nicht zu übertreten.

KLEINIAS: Welches sind den diese drei Klassen?

DER ATHENER: Die Gottesfürchtigen, die Ehrliebenden und Die deren Liebessehnsucht nicht auf die Leiber, sondern auf die Schönheit des Gemütes gerichtet ist. Vielleicht gehört nun Alles was wir da sagen dem Reiche der bloßen Dichtung an und bleibt ein frommer Wunsch, aber den größten Segen würde es wirklich bringen wenn es in allen Staaten zur Ausführung käme. Von Zweien Eins aber möchten wir mit Gottes Hilfe in Sachen der Liebe denn doch wohl erzwingen, entweder nämlich daß wirklich Keiner es wagt Jemanden von edler und freier Herkunft außer sein eheliches Weib zu berühren und seinen Samen, sei es durch Buhlschaft mit Kebsweibern und die Erzeugung unechter Frucht, sei es durch den widernatürlichen Umgang mit Männern, aus welchem gar keine Frucht entsprießen kann, zu entweihen, oder daß wir wenigstens die Knabenschänderei gänzlich ausrotten und in Ansehung des Umganges mit Weibern wenigstens das löbliche Gesetz handhaben daß Jeder der irgend einem Weibe beiwohnt außer demjenigen welches er unter Anrufung der Götter und allen religiösen Feierlichkeiten der Hochzeit in sein Haus geführt hat, mag er nun jene Beischläferin durch Kauf oder irgend welche andere Weise an sich gebracht haben, falls es nicht vor aller Welt, so Mann wie Weib, verborgen bleibt, aller bürgerlichen Auszeichnungen und Ehrenrechte verlustig gehen soll, so daß er in Wahrheit nur ein Fremdling in unserem Staate verbleibt. Dies Gesetz also, oder, wenn ihr lieber wollt, diese beiden Gesetze, soll in unserem Staate in Betreff des Liebesgenusses und aller Liebesgemeinschaft gelten, [842 St.] die wir zur Befriedigung des Geschlechtstriebes auf erlaubte und unerlaubte Art mit einander eingehen.

MEGILLOS: Und wahrlich, Freund, ich für meinen Teil lasse mir sehr gern dies Gesetz gefallen, Kleinias aber mag selbst sagen was er etwa hierüber denkt.

KLEINIAS: Das soll geschehen, Megillos, aber erst wenn mir ein gelegener Zeitpunkt dazu eingetreten zu sein scheint. Für jetzt wollen wir vielmehr den Gastfreund noch weiter in der Gesetzgebung fortfahren lassen.

MEGILLOS: Ich bin es zufrieden.

DER ATHENER: Um also fortzufahren, so sind wir nunmehr wohl wieder bei der bereits zuvor getroffenen Einrichtung der gemeinschaftlichen Mahlzeiten angelangt, von der wir behaupten dürfen daß sie anderwärts freilich mit Schwierigkeiten verknüpft sei, daß aber in Kreta wohl so leicht Niemand sie anders wünschen dürfte. Auf welche Weise dieselben aber anzuordnen seien, ob so wie hier oder so wie in Lakedämon, oder ob es außerdem noch eine dritte Art von gemeinsamen Mahlzeiten gebe welche vor beiden den Vorzug verdient, das, glaube ich, würde nicht schwer zu entdecken sein, ich sehe indessen in dieser Entdeckung keinen sonderlichen Vorteil, sondern das bisher über ihre Einrichtung Gesagte dürfte schon genügen um sie in angemessener Form herzustellen.

Wir gehen daher zu der sich am Nächsten hier anschließenden Frage über, auf welche Weise unsere Bürger ihren Lebensunterhalt gewinnen sollen. In anderen Staaten nun mag derselbe auf vielfache Weise und von vielen Orten her zu beschaffen sein die unseren Bürgern nicht zu Gebote stehen, zum Mindesten aber pflegt dies auf einem doppelten, bei unsern Bürgern aber nur auf einem einfachen Wege zu geschehen, bei den meisten Griechen nämlich zu Wasser und zu Land, hier dagegen lediglich durch die Bebauung des Landes. Dies ist nun eine große Erleichterung für den Gesetzgeber, denn es ist eben deshalb hier nicht bloß die Hälfte der Gesetze, sondern eine noch weit geringere Zahl ausreichend, und noch dazu Gesetze wie sie freier Männer würdiger sind. Denn er braucht fast gar keine Gesetze über das Seewesen, über Groß- und Kleinhandel, über Gasthäuser, über Zölle und Bergwerke, über Darlehen und Wucher zu geben, sondern kann dies Alles ruhig von der Hand weisen und hat es nur mit den Ackerbauern, Hirten, Bienenzüchtern und überhaupt Allen welche derartige Dinge in Obhut nehmen, so wie Denen welche ihnen die Werkzeuge zu liefern haben, zu tun, und die wichtigsten Grundlagen hierfür hat er durch seine Gesetze über Ehe, Kindererzeugung und Erziehung und die Einsetzung der obrigkeitlichen Behörden im Staate bereits gewonnen. So vorbereitet kann er denn der Gesetzgebung in Betreff Derer sich zuwenden deren Beruf die Gewinnung des Lebensunterhaltes ist oder die hierbei Mitarbeiter sind.

Die ersten dieser Gesetze nun seien die sogenannten Ackergesetze, und von ihnen soll das oberste und erste das des Zeus, des Hüters der Grenzen, sein und folgendermaßen lauten: Keiner verrücke die Grenzsteine zwischen seinem und des Nachbars Boden, gleichviel ob dieser letztere ein Mitbürger seines Staates ist, oder ob man sein Besitztum an der äußersten Grenze des Landes und daher einen Fremden zum Nachbarn hat. [843 St.] Jedermann denke vielmehr daß dies in Wahrheit das Unantastbare antasten heiße, und er denke daher lieber den größten Felsen wegrücken zu wollen als jenen kleinen Stein welcher, durch Eide die man den Göttern schwur geheiligt, die Grenzscheide der Freundschaft und Feindschaft bildet. Denn Zeus war Zeuge dieser Eide, dem Mitbürger gegenüber als Stammgott, dem Fremden als Schutzgott der Gastfreundschaft, und er erhebt sich in beiderlei Eigenschaften gegen die Eidbrüchigen mit Erregung der verderblichen Zwiste. Wer daher dem Gesetze gehorcht bleibt sicher vor allem solchen Unheil, wer es aber mißachtet, der soll außer jener göttlichen Strafe auch noch der durch das Gesetz verfallen. Also hüte sich ein Jeder absichtlich die Marken an der Nachbarn Lande zu verrücken! Wer es aber dennoch tut, den soll es einem Jeden verstattet sein den Eigentümern anzuzeigen, damit diese ihn vor Gericht führen, und wenn er dann schuldig befunden wird dergestalt heimlich und gewaltsam an der Landabteilung geneuert zu haben, so soll der Gerichtshof feststellen welche Strafe er zu erdulden oder wie viel Buße er zu zahlen hat. Hiernächst ist sodann in Betracht zu ziehen daß vielerlei Beeinträchtigungen der Nachbarn, auch wenn sie an sich nur unbedeutend sind, doch durch ihre häufige Wiederholung einen wahren Haufen von Feindschaft erregen und eine Nachbarschaft zu Wege bringen welche Einem alle möglichen Verdrießlichkeiten bereitet und alle möglichen Schwierigkeiten in den Weg legt. Darum soll denn der Nachbar auf jede Weise sich hüten irgend Etwas zu tun was dem Nachbarn Anlaß zum Streit gibt, und daher vor allem Andern sich gar wohl in Acht zu nehmen einen Teil von seines Nachbarn Grund und Boden mit zu bestellen. Denn es kann weit leichter vorkommen daß er ihm dadurch Schaden tut als daß er ihm dadurch nützt. Denn Schaden zu tun ist nicht schwer, sondern für Jedermann eine Kleinigkeit, nicht aber zu nützen. Wer daher mit seiner Arbeit die Grenzen seines Nachbars überschreitet und dessen Feld mit bebaut soll nicht bloß den Schaden ersetzen, sondern zugleich, um von einem solchen eines gesitteten und freien Mannes unwürdigen Betragen geheilt zu werden, noch den doppelten Betrag desselben dem Geschädigten zahlen. Die Untersuchung und Aburteilung dieses und aller andern derartigen Vergehen und die Abschätzung des Schadens aber soll den Landaufsehern zustehen, und zwar in allen wichtigeren Fällen den sämtlichen des betreffenden Zwölfteils, wie schon vorhin verfügt worden, in allen geringeren dagegen nur den Wachtbefehlshabern derselben. So sollen sie auch wenn Jemand auf fremdem Grund und Boden Vieh weidet den Schaden in Augenschein nehmen, abschätzen und darnach das Urteil sprechen. Auch wenn Einer fremde Bienenschwärme, durch Liebhaberei für die Bienen verleitet, in seinen Besitz bringt, indem er sie durch Geklingel anlockt, soll er den Wert derselben ersetzen. Und wenn jemand beim Feuermachen durch Unvorsichtigkeit das Eigentum des Nachbars schädigt soll ihm von dieser Obrigkeit Strafe auferlegt werden, so hoch als diese es für recht befindet. Desgleichen wenn jemand zwischen seiner Pflanzung und den Ländereien seines Nachbars nicht den bestimmten Raum frei läßt, wie dies auch schon viele Gesetzgeber zur Genüge näher verordnet haben. Denn überhaupt muß man solche ältere Gesetzgebungen zur Anwendung bringen und nicht glauben daß der höhere Ordner des Staates auch für alle und jede Kleinigkeit, über welche man eben so gut bei dem ersten besten Gesetzgeber sich Rats erholen kann, gesetzliche Verfügungen treffen müsse.

[844 St.] So sind auch in Bezug auf das Wasser für die Landwirte alte treffliche Gesetze bereits vorhanden, für welche unsere Verfassung kein Abzugsgraben sein soll. Vielmehr wer auf seinen Grund und Boden Wasser führen will, der leite es nach ihrer Vorschrift aus den gemeinsamen Wasserbehältern, und zwar so daß dabei keines Privatmannes offen zu Tage liegender Born abgeschnitten werde, welchen Weg er will, nur durch kein Haus, Heiligtum oder Begräbnis, und so daß er dabei nicht mehr Land wegnimmt als eben zur Wasserleitung erforderlich ist. Wenn irgendwo der Boden von so trockener Beschaffenheit ist daß er alles Regenwasser sofort aufsaugt, so daß dadurch ein Mangel am nötigen Trinkwasser entsteht, so grabe man in seinem eigenen Grundstück bis zur Tonerde, wenn man aber bis zu dieser Tiefe durchaus nicht auf Wasser trifft, so hole man Trinkwasser bei den Nachbarn bis zum notwendigen Bedarf der ganzen Hausgenossenschaft. Falls aber dasselbe auch in der Nachbarschaft knapp ist, so soll man sich von den Landaufsehern ein bestimmtes Maß festsetzen lassen welches man täglich holen dürfe, und dann eben nur bis zu diesem Maße an dem Wasser seiner Nachbarn Teil nehmen. Wenn aber Zeus Regen sendet und dann Einer dessen Feld oder Haus niedriger Einem Andern dessen Feld oder Haus höher liegt dadurch Schaden zufügt, daß er den Abfluß hemmt, oder umgekehrt, wenn der höher Wohnende den niedriger Wohnenden dadurch daß er das Wasser ungeregelt ablaufen läßt schädigt, und sie sich darüber nicht mit einander vergleichen wollen, so soll Jeder der Lust hat in der Stadt den Stadtaufseher, auf dem Lande aber den Landaufseher dieserhalb herbeirufen, damit dieser darüber verfüge wie jeder von beiden Teilen sich zu verhalten hat. Und wer dann dessen Bestimmung nicht nachlebt, der soll des Neides und der Unfriedfertigkeit angeklagt und, wenn er schuldig befunden wird, dazu verurteilt werden dem Geschädigten seinen Schaden doppelt zu vergüten, zur Strafe dafür daß er der Obrigkeit ungehorsam gewesen ist.

Der gemeinsame Genuß der Herbstfrüchte sodann soll in folgender Weise geregelt werden. Doppelte Gaben ihrer Huld gewährt uns die Herbstgöttin, nämlich sowohl solche welche sich zum Aufbewahren nicht eignen, sondern allein zu jenem heiteren Genusse den uns Dionysos verliehen hat, als auch solche die ihrer Natur nach zu dem Ersteren geeignet sind, und demgemäß sei in Betreff beider folgendes Gesetz verordnet. Wer gewöhnliches Obst, seien es Weintrauben oder Feigen, kostet bevor die Zeit ihrer Lese mit dem Aufgange des Arkturos gekommen ist, mag es nun auf eigenem oder auf fremdem Grund und Boden geschehen, der soll dem Tempelschatze des Dionysos Buße zahlen, und zwar fünfzig Drachmen wenn er sie von seinem Besitztum gepflückt hat, eine Mine wenn von dem seiner Nachbarn, und zwei Drittel einer Mine wenn anderswo. Die sogenannten edlen Reben und Feigen die sich nicht hegen lassen aber soll einem Jeden auf seinem eigenen Grund und Boden wie und wann er will abzulesen vergönnt sein, wer sich aber an Fremdem vergreift, ohne die Erlaubnis erbeten zu haben, [845 St.] der soll nach dem Gesetze daß man nicht hinwegnehmen darf was man nicht hingelegt hat, und so wie dieses vorschreibt bestraft werden. Läßt sich aber ein Sklave ohne eingeholte Erlaubnis des Grundherren dergleichen beikommen, so soll er gerade so viel Hiebe bekommen als die Zahl der gestohlenen Weinbeeren oder Feigen beträgt. Ein Beisasse ferner welcher edles Obst gekauft hat soll dasselbe gleichfalls ablesen dürfen, wann es ihm beliebt, und einem Fremdem welcher in unser Land kommt soll, wenn ihn auf der Wanderung durch dessen Straßen die Lust nach unserem Obste ankommt, von den edlen Früchten zusamt einem Sklaven zuzulangen verstattet sein, so viel er will, ohne daß er dafür zu zahlen braucht, er soll sie als Gastgeschenk hinnehmen, von dem sogenannten gewöhnlichen Obste aber und Allem was dahin gehört soll unser Gesetz den Fremden zu genießen verbieten. Wenn aber ein solcher, unkundig dieses Verbotes, selber von solchem Obste pflückt oder seinen Sklaven essen läßt, so soll der letztere mit Schlägen bestraft, sein Herr aber unangefochten entlassen und bloß verwarnt und angewiesen werden vielmehr von dem anderen Obste zu nehmen welches zur Aufbewahrung behufs der Bereitung von Rosinenwein und getrockneten Feigen ungeeignet ist. Birnen, Apfel, Granatäpfel und alle ähnlichen Früchte endlich heimlich zu nehmen soll keine Schande sein, wer sich aber dabei ertappen läßt, den soll man, wenn er unter dreißig Jahren ist, mit Schlägen, aber ohne Verwundung, wegjagen, und gegen keinen Freien soll wegen solcher Schläge Klage erhoben werden dürfen. Einem Fremden aber soll der Genuß dieser Früchte eben so wie der Trauben und Feigen gänzlich unverwehrt sein, und auch ein Bürger von mehr als dreißig Jahren soll an Ort und Stelle von ihnen essen dürfen mit dem gleichen Rechte wie der Fremde, aber ohne etwas mitzunehmen. Übertritt er aber das Gesetz, so soll ihm die Gefahr drohen von allen ehrenden öffentlichen Wettkämpfen ausgeschlossen zu werden, so bald jemand die jedesmaligen Kampfordner an dergleichen von ihm begangene Vergehen erinnert.

Das Wasser nun ferner, welches vorzugsweise Ländereien Nahrung gibt, ist leicht zu verderben. Denn weder Erde noch Sonne noch Luft, welche neben dem Wasser zum Gedeihen aller Gewächse erforderlich sind, lassen sich so leicht vergiften, ableiten oder stehlen, dem Wasser dagegen kann dies Alles begegnen. Deshalb bedarf es hier eines schützenden Gesetzes, und es möge darüber das folgende aufgestellt werden. Wenn Jemand mutwillig fremdes Wasser, mag es nun Quell- oder aufgesammeltes Wasser sein, vergiftet, abgräbt oder stiehlt, so soll der Beschädigte dieserhalb vor den Stadtaufsehern klagen und ihnen die Abschätzung seines Schadens überlassen, und wer dann schuldig befunden wird des Klägers Wasser vergiftet zu haben, der soll nicht bloß den veranschlagten Schaden ersetzen, sondern auch die betreffenden Quellen und Wasserbehälter in der Weise reinigen lassen wie es für einen Jeden und in jedem besonderen Falle die Erklärung der Ausleger vorschreibt.

Was sodann die Einsammlung aller Arten von Früchten anlangt, [846 St.] so soll es einem jeden freistehen sein Eigentum durch jeden Ort durch welchen er will hindurchzuführen, wo er nur entweder Niemandem Schaden anrichtet oder aber selbst einen Vorteil davon hat der dreimal so groß ist als des Nachbars Schaden. Wenn es zum Streite darüber kommt, so sollen die Landaufseher entscheiden, so wie in allen andern Fällen wo Jemand vorsätzlich einem Andern ohne dessen Bewilligung mit offener Gewalt oder heimlich an dessen Person oder dessen Besitztümern durch seinen Gewerbebetrieb Schaden zufügt, so jedoch daß der Beschädigte nur wenn sein Schaden sich bis auf drei Minen beläuft sich mit seiner Klage an jene Behörde zu wenden und den Schadenstifter vor ihr zur Rechenschaft zu ziehen hat, wogegen er eine Anklage auf eine größere Summe vielmehr vor die allgemeinen Gerichte bringen soll, damit diese den Übeltäter in Strafe nehmen. Wenn aber jene Behörde das Maß der Buße ungerecht bestimmen sollte, so soll dem Beschädigten eine Klage auf doppelten Schadenersatz gegen sie freistehen, und überhaupt kann, wie in diesem so in jedem andern Falle in welchem Obrigkeiten ungerechte Urteile fällen, auch ein jeder Andere, wer da Lust hat, dieserhalb vor den allgemeinen Gerichten Klage führen.

Es wären nun wohl noch zahllose kleine gesetzliche Anordnungen zu treffen über Strafbestimmungen, über die Einreichung von Privatklagen, über die Vorladungen und Vorladungszeugen, ob es der letztern zwei oder wie viel es ihrer bedarf und über mancherlei ähnliche Punkte, allein diese alle sind nicht wert von dem ursprünglichen Gesetzgeber selbst in die Hand genommen zu werden und mögen daher den Jüngeren überlassen bleiben, welche nach dem Muster der größern Gesetze ihres Vorgängers und nachdem sie die Notwendigkeit und Anwendbarkeit derselben durch die Erfahrung erprobt auch diese kleineren entwerfen und damit so lange fortfahren sollen bis eine genügende Vollständigkeit erreicht ist. Alsdann setze man sie als unabänderlich fest und lasse sie für sein Leben maßgebend sein.

Hinsichtlich der Handwerker sodann mögen folgende Bestimmungen gelten. Fürs Erste soll kein Einheimischer unter Denen sein welche die Künste der Handwerker betreiben, und auch kein Sklave eines Einheimischen. Denn der Bürger hat bereits eine Kunst zu üben welche ihn allein hinlänglich in Anspruch nimmt und viele Übungen und mannigfache Kenntnisse erfordert, nämlich die allgemeine Ordnung des Staates zu schaffen und zu erhalten, eine Kunst welche sich nicht nebenbei betreiben läßt. Ferner zwei Beschäftigungen oder zwei Künste gehörig zu betreiben, dazu ist wohl keines Menschen Natur im Stande, und ebenso wenig auch dazu die eine selbst gehörig zu üben und zugleich einen Andern welcher die andere übt zu beaufsichtigen. Daher muß es im Staate das erste Gesetz sein daß kein Erzarbeiter zugleich in Holz arbeite und daß kein Holzarbeiter Erzarbeiter beschäftige, damit er sich nicht um deren Kunst mehr als um die eigene bekümmere, unter dem Vorwand daß, weil er unter seinen Sklaven viele Handwerker habe welche für ihn arbeiteten, er sich natürlicherweise um diese mehr bekümmere, [847 St.] weil ihm aus ihnen größere Einkünfte erwüchsen als aus seiner eigenen Kunst. Jeder soll vielmehr lediglich im Besitze Einer Kunst sein und von dieser sich auch lediglich seinen Lebensunterhalt erwerben. Dieses Gesetz nun sollen die Stadtaufseher mit aller Strenge und Sorgfalt handhaben, und demgemäß einen Einheimischen welcher mehr Neigung für irgend eine Kunst als für die Sorge um die Tugend zeigt mit Vorwürfen und Ehrenentziehungen so lange strafen bis sie ihn wieder auf die rechte Bahn gelenkt haben, gegen einen Fremden aber welcher zweierlei Gewerbe betreibt dies mit Gefängnis, Geldstrafen oder Landesausweisung ahnden und ihn dergestalt zwingen Eine und nicht mehrere Personen vorzustellen. Auch den den Handwerkern zukommenden Lohn und die Annahme oder Nichtannahme der von ihnen gelieferten Arbeiten soll dieselbe Behörde regeln und in Streitigkeiten über ihnen von Andern geschehenes oder von ihnen gegen Andere verübtes Unrecht bis zu fünfzig Drachmen Schiedsrichter sein, wenn die streitige Sache aber diesen Wert übersteigt, so sollen die allgemeinen Gerichte über sie nach Maßgabe des Gesetzes entscheiden.

Einen Zoll soll in unserem Staate Niemand bezahlen weder für die Ausfuhr noch für die Einfuhr von Waren. Weihrauch aber und alle sonstigen fremden Spezereien für die Götter, ferner Purpur und alle Färbestoffe welche unser Land nicht hervorbringt, oder was sonst irgend welche Kunst an Einfuhrartikeln aus der Fremde zur Herstellung entbehrlicher Dinge bedarf, soll Niemand einführen, und andererseits von Dem was zur Bestreitung der notwendigen Bedürfnisse innerhalb des Landes bleiben muß Etwas ausführen dürfen. Die Aufsicht aber über dies alles und die richterliche Entscheidung in diesen Dingen soll den Gesetzverwesern zustehen, so jedoch daß die fünf ältesten von ihnen davon verschont bleiben und nur immer je zwölf von den übrigen der Reihe nach hiermit betraut werden. Wenn es aber für Waffen und sonstiges Kriegsgerät der Einführung irgend einer Kunst oder eines Gewächses der Erde oder einer Metallware oder von Stoffen zu Banden und Stricken oder wenn es gewisser Tiere zum Kriegsgebrauch bedürfte, dann sollen die Hipparchen und Strategen zu dieser Einfuhr und demgemäß auch zur Ausfuhr anderer solcher Gegenstände in andere Staaten ermächtigt sein, damit so der unsere eben so gut gebe als empfange, die Gesetzverweser aber werden die hierher gehörigen Gesetze geben, so wie ihr Zweck sie erfordert und dergestalt daß sie zur Erreichung desselben ausreichend sind. Handel dagegen innerhalb der Stadt und des ganzen Landes zum Zweck des Gelderwerbs soll weder mit diesen noch mit anderen Dingen stattfinden.

Nahrung und Verteilung der Landeserzeugnisse scheint am Richtigsten nach der Weise des kretischen Gesetzes anzuordnen. In zwölf Teile nämlich müssen von allen Bewohnern die gesamten Landeserzeugnisse, gleichviel zu welchem Gebrauche sie dienen, geteilt und dann jedes dieser Zwölftel von Weizen und Gerste so wie von allen andern Früchten und allem verkäuflichen Vieh was Jeder besitzt, [848 St.] wieder in drei Teile nach Verhältnis zerlegt werden, von denen einer für die Bürger, einer für deren Sklaven und einer für die Handwerker und überhaupt alle Fremden welche teils um ihres Lebensunterhaltes willen sich als Beisassen in unserem Staate niedergelassen haben, teils nur zeitweilig wegen eines Geschäftes mit dem Staate oder mit Einzelnen sich in demselben aufhalten, bestimmt ist. Nur dieser letztgenannte dritte Teil aller Lebensbedürfnisse also soll verkäuflich sein, so bald das Bedürfnis es erfordert, von den beiden andern aber soll Niemand etwas zu verkaufen berechtigt sein. Wie aber ist nun wohl diese Teilung am Richtigsten zu machen? Fürs Erste ist klar daß die Teile beziehungsweise gleich und auch wieder ungleich sein müssen.

KLEINIAS: Wie meinst du das?

DER ATHENER: Es wird doch notwendigerweise das Land seine Erzeugnisse teils besser und teils schlechter hervorbringen und aufwachsen lassen.

KLEINIAS: Ohne Zweifel.

DER ATHENER: In dieser Rücksicht nun soll keiner von allen drei Teilen bevorzugt werden, weder der für die Herren, noch der für die Sklaven, noch auch der für die Fremden bestimmte, sondern die Verteilung soll allen dreien die gleiche Qualität gewähren. Von den beiden ersten Teilen nun ferner soll jeder Bürger Vollmacht haben an Freie und Sklaven zu verteilen was und wieviel ihm gut dünkt. Was aber dann noch übrig bleibt soll nach Maß und Zahl auf folgende Weise verteilt werden: man rechne die Zahl aller Tiere welche das Land ernähren muß auf und bestimme darnach die Verteilung.

Hiernächst müssen nun den Bürgern abgesonderte Wohnungen zugewiesen werden, und für einen Staat von der Beschaffenheit des unsern wird denn folgendes die zweckmäßige Einrichtung derselben sein. Es müssen zwölf Flecken, Komen sein, in der Mitte von jedem Zwölfteil des Landes einer. In jedem dieser Flecken muß dann ferner zuerst die Stelle für den Marktplatz und die auf ihm zu errichtenden Tempel der Götter und der ihnen verwandten Dämonen ausgewählt werden, denn teils soll, sei es nun daß unserer Kolonie einheimische Gottheiten der Magneten vorfindet oder heilige Stiftungen anderer alter Stämme, deren Gedächtnis uns noch überliefert ist, allen diesen Wesen und ihren Heiligtümern auch fortan dieselbe Ehre wie zuvor erwiesen, teils sollen in jedem Flecken der Hestia, dem Zeus und der Athene, und von den übrigen Gottheiten derjenigen welche die besondere Schutzgottheit des Zwölfteils ist in welchem der betreffende Flecken liegt, Heiligtümer errichtet werden. Sodann müssen zuerst um diese Heiligtümer herum auf den höchsten Punkten der Gegend Wohnungen für die Wächter so fest als möglich gebaut werden. Das ganze übrige Land sodann richte man so ein daß man die Handwerker in dreizehn Abteilungen teile, einer derselben in der Stadt, und zwar wiederum verteilt in die zwölf Quartiere derselben, ihre Wohnungen anweise, so jedoch daß sie außerhalb der eigentlichen Stadt rings im Kreise um dieselbe herum wohnen, alle übrigen aber in die Flecken verteile, und zwar so daß diejenigen Handwerker, deren die Landwirte für ihren Betrieb bedürfen unmittelbar mit diesen in jedem Flecken zusammenwohnen. Die Fürsorge für dies Alles aber sollen die Befehlshaber der Landaufseher ausüben, indem sie auszumitteln suchen wie vieler und welcher Handwerker jeder Ort bedarf und wo dieselben ihre Wohnsitze aufschlagen müssen um den Landbebauern am Wenigsten beschwerlich zu fallen und am Meisten nützlich zu werden, [849 St.] für die Stadt aber soll in gleicher Weise im Einzelnen und Ganzen die Behörde der Stadtaufseher die nötigen Anordnungen zu treffen haben.

Den Marktaufsehern dagegen soll die Sorge für Alles was zu dem Markte in Beziehung steht obliegen. Und zwar sollen sie zunächst die auf dem selbigen liegenden Heiligtümer beaufsichtigen, auf daß sich Niemand gegen eins derselben vergehe, sodann aber in zweiter Linie den Kauf und Verkauf der für die Menschen notwendigen Lebensmittel, und dabei Alles in guter Zucht halten und allem Frevel steuern, indem sie über Jeden der sich derselben schuldig macht die verdiente Strafe verhängen. Namentlich in Betreff der Marktwaren aber sollen sie zuvörderst darauf sehen daß Alles was die Bürger den Fremden zum Verkaufe liefern sollen auch wirklich so wie das Gesetz es vorschreibt geliefert werde. Das Gesetz hierüber aber sei dies daß jeden Monat der zwölfte Teil dieser Lieferung durch eigens dazu bestellte Mittelspersonen aus der Zahl der Fremden oder auch Sklaven von den Bürgern besorgt werden, und zwar am ersten Monatstage der der Getreidelieferung, und daß demgemäß jeder Fremde an diesem ersten Markttage sein Getreide und Alles was dahin gehört für den ganzen Monat einkaufe. Am zehnten Tage des Monats aber soll dann wiederum für dieselbe Zeit der Kauf und Verkauf aller flüssigen Gegenstände besorgt werden, zum Dritten endlich soll am zwanzigsten der Markt des Viehes stattfinden, so viel dessen ein Jeder zu verkaufen oder für seinen Bedarf zu kaufen hat. Desgleichen sollen dann alle Gerätschaften und sonstigen Waren welche von den Landleuten selber gewonnen werden, von den Fremden aber nur durch Kauf von diesen erworben werden können, wie Felle und sonstige Kleidungsstoffe, Geflechte und Filzwaren und was sonst dahin gehört, zu Markte gebracht werden. Im Kleinhandel aber soll solche Gegenstände oder Gerste oder Weizenmehl an einen Bürger und dessen Sklaven Niemand verkaufen, noch auch jene was ihnen so zum Kaufe angeboten wird kaufen dürfen, auf den Märkten der Fremden aber mag ein Fremder in dieser Weise an die Handwerker und deren Sklaven Wein und Getreide verkaufen und wieder von ihnen einkaufen, was man eben Kleinhandel oder Höferei zu nennen pflegt, und die Schlächter sollen gleichfalls stückweise geschlachtetes Vieh an Fremde und Handwerker oder deren Sklaven verkaufen dürfen, alles Brennholz endlich mag jeder Fremde der Lust hat Tag für Tag bei der an jedem Orte dazu bestellten Mittelsperson einkaufen und soll es dann an andere Fremde in so großen oder kleinen Portionen als und zu jeder Zeit wann er will wieder verkaufen dürfen. Alle übrigen Waren und Gerätschaften aber, deren Jeder bedarf, sollen auf den öffentlichen Markt gebracht und dort jede an dem Orte verkauft werden welchen die Gesetzverweser und Marktaufseher nebst den Stadtaufsehern einer jeden als für sie geeignet angewiesen haben bei der Abgrenzung des gesamten Platzes für die Marktwaren. Hier also tausche man Geld gegen Waren und Waren gegen Geld, und Keiner gebe dabei einem Anderen das eine oder die anderen im Voraus, oder aber wenn er doch einem Anderen hiezu das nötige Vertrauen schenkt muß er sich damit zufrieden geben ob er das Seinige erhält oder nicht, [850 St.] denn rechtliche Ansprüche soll er aus seinem solchen Verkehre nicht herleiten dürfen. Hat aber Jemand mehr verkauft oder teurer gekauft als das Gesetz es zuläßt, welches vorschreibt bei welchem Grade der Vermehrung des Vermögens kein weiteres Wachstum und bei welchem der Verminderung keine weitere Abnahme desselben ohne Änderung der Schatzungsklasse verstattet ist so soll der entstandene Überschuß sofort von den Gesetzverwesern in ihren Verzeichnissen angemerkt, das Fehlende aber in denselben gelöscht werden. Und eben so soll es auch mit den Beisassen in Betreff der Aufzeichnung ihres Vermögens gehalten werden.

Als Beisasse eintreten mag jeder Fremde welcher Lust hat und die folgenden Bedingungen erfüllen will und kann, unter denen allein ihm Wohnung gewährt wird. Er muß im Besitz irgend einer Kunst sein und darf nicht länger als zwanzig Jahre von dem Tage seiner Einschreibung an sich bei uns aufhalten. An Schutzgeld dagegen soll er nicht das Geringste zu bezahlen haben, eben so wenig wie irgend eine andere Kaufs- oder Verkaufssteuer, sondern statt dessen wird nur ein gesitteter Lebenswandel von ihm verlangt. Ist dann jene Zeit verstrichen, so soll er mit seinem Vermögen wieder fortziehen, und nur wenn er innerhalb dieser Jahre in den Fall gekommen sein sollte sich durch beträchtliche dem Staat geleistete Dienste auszuzeichnen, und er daher glauben dürfte daß der Rat und die Volksversammlung ihm auf seine Bitte einen längeren Aufschub seines Abzugs oder auch ein gänzliches Bleiben auf Lebenszeit durch einen gesetzlichen Beschluß bewilligen werde, so mag er mit dieser seiner Bitte hervortreten, und wenn es ihm gelingt derselben Eingang zu verschaffen, so soll dann demgemäß mit ihm verfahren werden. Den Söhnen der Beisassen aber, wenn sie ein Handwerk verstehen, soll die Zeit ihrer Beisassenschaft vom vollbrachten fünfzehnten Jahre an gerechnet werden, und ist dann einer von ihnen seitdem noch zwanzig Jahre lang Beisasse gewesen, so muß auch er das Land verlassen und mag ziehen wohin es ihm beliebt, oder wenn er bleiben will, so muß er sich doch auf dieselbe Weise erst die Erlaubnis hierzu vom Staate erbeten haben. Vor dem Fortziehen aber soll jeder Beisasse das Verzeichnis seines Vermögens tilgen lassen welches bis dahin bei der Obrigkeit für ihn aufgenommen war.

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